Vor 65 Jahren erschien Zuckmayers „Fastnachtsbeichte“
Von Tilman Asmus Fischer
Ferdinand Bäumler, ein desertierter Fremdenlegionär, ist zur Jahreswende 1912/1913 auf dem Weg über Italien ins heimische Rheinland, wo er einst als unehelicher Sohn des reichen Panezza und der Hilfsmagd Bäumler geboren wurde. In Sizilien kehrt er – unter der Vortäuschung, sein Halbbruder Jeanmarie zu sein – bei der vermögenden italienischen Verwandtschaft ein, verlobt sich mit seiner Cousine Viola, um kurzerhand gen Mainz zu verschwinden, nicht ohne zuvor den wertvollen Familienschmuck an sich genommen zu haben. Viola reist ihm verstört hinterher, wiederum begleitet von ihrem Halbbruder Lolfo, seinerseits das Kind aus einer Affäre des gemeinsamen Vaters mit einem Dorfmädchen. In Mainz angekommen erkennt Lolfo den Betrüger wieder, den er vor dem Dom ermordet, in dessen Beichtstuhl der Sterbende zusammenbricht.
An dieser Stelle beginnt die eigentliche Handlung der „Fastnachtsbeichte“ von Carl Zuckmayer. 1959 erschienen und vom Dichter im Mainz seiner eigenen Jugendzeit lokalisiert, ist die Erzählung ein Stück Literatur, das auch nach 65 Jahren nicht an Bedeutung verloren hat, da sie – mehr als nur eine Kriminalgeschichte, die sich vom Tode Ferdinands aus entspinnt – in zeitloser Weise vom Wesen des Menschen und seiner Erlösungsbedürftigkeit spricht. Dies geschieht zum einen in einer karnevalesken Szenerie – die erzählte Zeit reicht vom Fastnachtssamstag bis zum frühen Morgen des Aschermittwoch 1913 –, zum anderen gerahmt und durchzogen vom Moment der Beichte: derjenigen Ferdinands, derjenigen des alten Panezza und derjenigen Violas. Damit bringt Zuckmayer zwei idealtypische Orte – den des Maskenspiels und den der schonungslosen Selbsterkenntnis – in eine produktive Spannung.
Dabei haben wir es in der „Fastnachtsbeichte“ mit einem Maskenspiel auf mehreren Ebenen zu tun. Denn da ist nicht nur auf der Oberfläche das karnevalistische Brauchtum, das – wo recht verstanden – Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach einer Überschreitung, also gewissermaßen einer Transzendierung, der Wirklichkeit ist. Und genau besehen beginnt es auch nicht erst bei dem bereits deutlich problematischeren, da mit betrügerischer Intention geschehenen, Rollenspiel Ferdinands, das den Anlass für die Handlung der Erzählung gibt. Dessen Ursachen liegen bereits in einem Maskenspiel, nämlich dem des alten Panezza, der seinem unehelichen Sohn wirkliche Anerkennung verwehrt und ihn damit letztlich in das prekäre Dasein als Fremdenlegionär treibt, nur um unbeschadet weiter die eigene soziale Rolle als Mitglied der lokalen Honoratiorenschaft spielen zu können.
Dem Maskenspiel im wörtlichen wie metaphorischen Sinne steht der Beichtstuhl bzw. das Beichtgespräch gegenüber, das „aufgespannte Ohr Gottes“, so die Schriftstellerin Felicitas Hoppe: nicht nur ein „Ort der Barmherzigkeit“, sondern auch ein solcher, „für das eigene Leben Wörter zu finden“. Hier – bei Zuckmayer im Gegenüber zum Domkapitular Dr. Henrici – wird der Mensch seiner selbst in seiner Fragmentarität ansichtig: „Ich armer sündiger Mensch“ sind die einzigen Worte, die Ferdinand im Beichtstuhl noch sprechen kann, und im Rückblick ist es Henrici, „als hätte er ihm damit sein Letztes und Geheimstes offenbart und sich ihm ganz anvertraut – sich und alle seine Brüder“. Narrativ ausgestalteter sind die beiden anderen Beichten.
Zu einer solchen wird das Gespräch Henricis mit Panezza, obwohl dieser bittet, dass „es ohne die religiöse Formel geschieht“, weil es ihm eben doch „um eine Gewissensfrage“ geht, „von der meine ganze Existenz abhängt“. Hier bietet der Erzähler einen Dialog, in dem die menschliche Person in einer inneren Spannung sichtbar wird, die bereits im griechischen „prosopon“ anklingt, dessen Bedeutung zwischen Angesicht und Maske changiert. So fragt Panezza, der sinnhafterweise den Prinzen Karneval der Kampagne 1913 mimt: „Kann ich noch weiterhin den Ehrenmann spielen, den Repräsentanten einer moralisch unantastbaren Gesellschaft, den Fürsten des lokalen Frohsinns, den König der Volksfeste, der erlaubten und honorigen Lustbarkeit – mit einem solchen Brandgeschwür am Leib?“
Bei Violas Beichte liegt die theologische Pointe wiederum darin, dass sie auf einen von Jürgen Habermas identifizierten „Verlust“ infolge einer „säkularen Sprache“ aufmerksam macht, die ohne „geglückte Übersetzungen“ religiöser Gehalte auskommen will: „Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“ Während auf der Ebene der Kriminalgeschichte der Fall geklärt ist, indem Lolfo – inzwischen selbst auf tragische wie brutale Weise ums Leben gekommen – als Schuldiger identifiziert wurde, liegt Violas dringend benötigtes Geständnis auf einer tieferen Ebene: „Ich habe ihn nicht getötet […] aber ich habe es gewollt!“ Sie kann bekennen, dieses Wollen niemals Lolfo bekundet zu haben: „,Mit keinem Wort‘, sagte Viola, ,mit keiner Silbe. Aber – ich habe es gedacht.‘ Gedacht – ging es Henrici durch den Sinn, während er versuchte, mit den Worten seines Glaubens ihr Zuspruch und Trost zu geben – gedacht – Wurzel aller Schuld…“
Zuckmayer zeichnet den Menschen coram Deo als Person – zwischen Angesicht und Maske: gezwungen, in der unerlösten Welt, im menschlichen Miteinander Rollen zu spielen, Masken zu tragen, begabt, im Maskenspiel ebendiese Wirklichkeit zu überschreiten; in beidem aber stets gefährdet, die Maske zu missbrauchen, sein Selbst, sein Angesicht vor sich selbst, vor dem Mitmenschen und vor Gott, zu beschädigen. Und eben damit: immer wieder bedürftig der Beichte, dem „Ort, für das eigene Leben Wörter zu finden“, der dann zum „Ort der Barmherzigkeit“ und der Umkehr werden kann.
Erschienen am 8. Februar 2024 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).