Rheinische Erlösung

Vor 65 Jahren erschien Zuckmayers „Fastnachtsbeichte“

Von Tilman Asmus Fischer

Ferdinand Bäumler, ein desertierter Fremdenlegionär, ist zur Jahreswende 1912/1913 auf dem Weg über Italien ins heimische Rheinland, wo er einst als unehelicher Sohn des reichen Panezza und der Hilfsmagd Bäumler geboren wurde. In Sizilien kehrt er – unter der Vortäuschung, sein Halbbruder Jeanmarie zu sein – bei der vermögenden italienischen Verwandtschaft ein, verlobt sich mit seiner Cousine Viola, um kurzerhand gen Mainz zu verschwinden, nicht ohne zuvor den wertvollen Familienschmuck an sich genommen zu haben. Viola reist ihm verstört hinterher, wiederum begleitet von ihrem Halbbruder Lolfo, seinerseits das Kind aus einer Affäre des gemeinsamen Vaters mit einem Dorfmädchen. In Mainz angekommen erkennt Lolfo den Betrüger wieder, den er vor dem Dom ermordet, in dessen Beichtstuhl der Sterbende zusammenbricht.

An dieser Stelle beginnt die eigentliche Handlung der „Fastnachtsbeichte“ von Carl Zuckmayer. 1959 erschienen und vom Dichter im Mainz seiner eigenen Jugendzeit lokalisiert, ist die Erzählung ein Stück Literatur, das auch nach 65 Jahren nicht an Bedeutung verloren hat, da sie – mehr als nur eine Kriminalgeschichte, die sich vom Tode Ferdinands aus entspinnt – in zeitloser Weise vom Wesen des Menschen und seiner Erlösungsbedürftigkeit spricht. Dies geschieht zum einen in einer karnevalesken Szenerie – die erzählte Zeit reicht vom Fastnachtssamstag bis zum frühen Morgen des Aschermittwoch 1913 –, zum anderen gerahmt und durchzogen vom Moment der Beichte: derjenigen Ferdinands, derjenigen des alten Panezza und derjenigen Violas. Damit bringt Zuckmayer zwei idealtypische Orte – den des Maskenspiels und den der schonungslosen Selbsterkenntnis – in eine produktive Spannung.

Dabei haben wir es in der „Fastnachtsbeichte“ mit einem Maskenspiel auf mehreren Ebenen zu tun. Denn da ist nicht nur auf der Oberfläche das karnevalistische Brauchtum, das – wo recht verstanden – Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach einer Überschreitung, also gewissermaßen einer Transzendierung, der Wirklichkeit ist. Und genau besehen beginnt es auch nicht erst bei dem bereits deutlich problematischeren, da mit betrügerischer Intention geschehenen, Rollenspiel Ferdinands, das den Anlass für die Handlung der Erzählung gibt. Dessen Ursachen liegen bereits in einem Maskenspiel, nämlich dem des alten Panezza, der seinem unehelichen Sohn wirkliche Anerkennung verwehrt und ihn damit letztlich in das prekäre Dasein als Fremdenlegionär treibt, nur um unbeschadet weiter die eigene soziale Rolle als Mitglied der lokalen Honoratiorenschaft spielen zu können.

Dem Maskenspiel im wörtlichen wie metaphorischen Sinne steht der Beichtstuhl bzw. das Beichtgespräch gegenüber, das „aufgespannte Ohr Gottes“, so die Schriftstellerin Felicitas Hoppe: nicht nur ein „Ort der Barmherzigkeit“, sondern auch ein solcher, „für das eigene Leben Wörter zu finden“. Hier – bei Zuckmayer im Gegenüber zum Domkapitular Dr. Henrici – wird der Mensch seiner selbst in seiner Fragmentarität ansichtig: „Ich armer sündiger Mensch“ sind die einzigen Worte, die Ferdinand im Beichtstuhl noch sprechen kann, und im Rückblick ist es Henrici, „als hätte er ihm damit sein Letztes und Geheimstes offenbart und sich ihm ganz anvertraut – sich und alle seine Brüder“. Narrativ ausgestalteter sind die beiden anderen Beichten.

Zu einer solchen wird das Gespräch Henricis mit Panezza, obwohl dieser bittet, dass „es ohne die religiöse Formel geschieht“, weil es ihm eben doch „um eine Gewissensfrage“ geht, „von der meine ganze Existenz abhängt“. Hier bietet der Erzähler einen Dialog, in dem die menschliche Person in einer inneren Spannung sichtbar wird, die bereits im griechischen „prosopon“ anklingt, dessen Bedeutung zwischen Angesicht und Maske changiert. So fragt Panezza, der sinnhafterweise den Prinzen Karneval der Kampagne 1913 mimt: „Kann ich noch weiterhin den Ehrenmann spielen, den Repräsentanten einer moralisch unantastbaren Gesellschaft, den Fürsten des lokalen Frohsinns, den König der Volksfeste, der erlaubten und honorigen Lustbarkeit – mit einem solchen Brandgeschwür am Leib?“

Bei Violas Beichte liegt die theologische Pointe wiederum darin, dass sie auf einen von Jürgen Habermas identifizierten „Verlust“ infolge einer „säkularen Sprache“ aufmerksam macht, die ohne „geglückte Übersetzungen“ religiöser Gehalte auskommen will: „Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“ Während auf der Ebene der Kriminalgeschichte der Fall geklärt ist, indem Lolfo – inzwischen selbst auf tragische wie brutale Weise ums Leben gekommen – als Schuldiger identifiziert wurde, liegt Violas dringend benötigtes Geständnis auf einer tieferen Ebene: „Ich habe ihn nicht getötet […] aber ich habe es gewollt!“ Sie kann bekennen, dieses Wollen niemals Lolfo bekundet zu haben: „,Mit keinem Wort‘, sagte Viola, ,mit keiner Silbe. Aber – ich habe es gedacht.‘ Gedacht – ging es Henrici durch den Sinn, während er versuchte, mit den Worten seines Glaubens ihr Zuspruch und Trost zu geben – gedacht – Wurzel aller Schuld…“

Zuckmayer zeichnet den Menschen coram Deo als Person – zwischen Angesicht und Maske: gezwungen, in der unerlösten Welt, im menschlichen Miteinander Rollen zu spielen, Masken zu tragen, begabt, im Maskenspiel ebendiese Wirklichkeit zu überschreiten; in beidem aber stets gefährdet, die Maske zu missbrauchen, sein Selbst, sein Angesicht vor sich selbst, vor dem Mitmenschen und vor Gott, zu beschädigen. Und eben damit: immer wieder bedürftig der Beichte, dem „Ort, für das eigene Leben Wörter zu finden“, der dann zum „Ort der Barmherzigkeit“ und der Umkehr werden kann.

Erschienen am 8. Februar 2024 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Wie das Trauma überwunden werden kann

Theologe Thomas Thiel über die Seelsorge an traumatisierten Menschen

Der evangelische Militärseelsorger Thomas Thiel, zuletzt am Bundeswehrkrankenhaus in Berlin, hat eine wissenschaftliche Studie zur Seelsorge an traumatisierten Menschen vorgelegt. Im Interview mit Tilman A. Fischer spricht er über den Trialog zwischen Traumaerfahrungen, Bibel und Literatur sowie über die Bedeutung des „Frei-Sprechens“ und „Wahr-Sagens“.

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Erschienen in: KOMPASS. Die Zeitschrift des Katholischen Militärbischofs für die Deutsche Bundeswehr 9/2023, S. 12f.

„Postheroische Ehrlichkeit“ erwünscht

Seelische Einsatzfolgen stellen eine Herausforderung dar – sowohl für das Selbstverständnis unserer Gesellschaf als auch für die seelsorgerliche Praxis

Von Tilman Asmus Fischer

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat infolge der sicherheitspolitischen „Zeitenwende“ zu nachhaltigen Erschütterungen und Reorientierungen im friedensethischen Diskurs hierzulande geführt. Jenseits der breiten Debatten um schlagzeilenträchtiger Waffentypen und Friedensforderungen illustrer Provenienz vollziehen sich weitere Aufmerksamkeitsverschiebungen – oder werden zumindest Aufmerksamkeitsdefizite markiert. Dies gilt etwa für den Schnittbereich von Militär, Ethik, Medizin und Seelsorge. Hier zeigt sich eine wachsende und sich wandelnde Sensibilität für seelische Einsatzfolgen.

Diese fordert auch der evangelische Praktische Theologe Dr. Niklas Peuckmann von der Ruhr-Universität Bochum verbunden mit seinem Eintreten für eine „postheroische Ehrlichkeit“ – so auch der Titel seines programmatischen Aufsatzes in der Zeitschrift „Evangelische Theologie“ (6/2022): Dabei geht er von der Beschreibung Deutschlands als einer „postheroischen Gesellschaft“ aus, die „sich nicht (mehr) über heroische Taten konstituiert und ihre Gemeinschaftsidentität auch nicht aus heroischen Erzählungen über zurückliegende Kriege herleitet“, jedoch „auf ein Residuum des Heldenhaften angewiesen zu bleiben“ scheint: „So sind für das Militär und die Polizei heroische Taten und Narrative nach wie vor bedeutsam, vor allem für die eigene Identitätsbildung.“ Für Peuckmann stellt die sicherheits- und damit auch rüstungspolitische Zeitenwende den postheroischen Charakter der deutschen Gesellschaft nicht infrage, macht jedoch in besonderer Weise deutlich, in welchem Maße ebendiese Gesellschaft auf institutionalisierte Formen des „Heldenhaften“ – konkret auf die Armee – angewiesen ist. Von daher sieht er die Gesellschaft in der Verantwortung, „mitauszusprechen, dass eine neue Sicherheitsarchitektur im erheblichen Ausmaß auf Kosten der Personen geht, die diese repräsentieren und zu tragen haben.“ Das „Sichtbarmachen der Einsatzfolgen und der ‚unsichtbaren Veteranen‘“ ist diesem Sinne ist für Peuckmann das  „ein Beitrag zu einer Kultur einer postheroischen Ehrlichkeit, die bislang sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern einer (militärisch) wehrhaften Demokratie ausgeklammert wird“.

Dabei geht es bei weitem nicht mehr nur – wie in den frühen 2000er Jahren um Posttraumatische Belastungsstörungen. Vielmehr wird – was in besonderer Weise von moraltheologischer und poimenischer Bedeutung ist – zunehmend die Relevanz von moralischen Verletzungen, moral injury, erkannt.

Diese definiert der promovierte katholische Theologe wie Mediziner Dirk Fischer als „eine tiefgreifende moralische Erschütterung im Rahmen psychisch traumatisierender Ereignisse, bei der eigenes oder fremdes Handeln resp. Nichthandeln im Widerspruch zum Werte- und Normenbewusstsein der Betroffenen steht und mit demselben nicht mehr zur Deckung gebracht werden kann.“ Obwohl es moralische Verletzungem „der Sache nach schon immer gab, werden sie heute infolge der interdisziplinären Moral-Injury-Forschung vermehrt wahrgenommen“, erläutert der Leiter des neu gegründeten Instituts für Wehrmedizinische Ethik in München in der aktuellen Ausgabe der im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegebenen „Zeitschrift für medizinische Ethik“. Eine große Herausforderung stellten moralische Verletzungen für die Betroffenen wie für ihre Therapeuten dar, „wenn es darum geht, moralische Konflikte ins Wort zu fassen und zu thematisieren; ethische Kompetenz erweist sich hier in mehrfacher Hinsicht als klinisch relevant“.

Viele der Betroffenen – aktive und ehemalige Soldaten, aber auch Angehörige bzw. Hinterbliebene von Soldaten oder etwa Mitglieder des Psychosozialen Netzwerks der Bundeswehr (PSN) – finden seit über zehn Jahren den Weg zu Angeboten des „Arbeitsfeld Seelsorge für unter Einsatz- und Dienstfolgen leidende Menschen“, kurz ASEM, im Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr. 2012 als befristetes fünfjähriges Projekt ins Leben gerufen, etablierte Militärbischof Sigurd Rink 2017 das ASEM als dauerhaften Aufgabenbereich seiner Behörde. Die stets von Militärgeistlichen geleiteten Maßnahmen reichen von Betroffenenseminaren über Angebote für Partner und Familien oder tiergestützte Formate bis hin zu stabilisierender Einzelfallhilfe in Notsituationen. In den einzelnen Projekten arbeiten die Geistlichen mit interdisziplinären Teams zusammen, in denen sowohl Zivilisten als auch Bundeswehrangehörige und Kompetenzen aus Sozialarbeit, Psychologie, und Medizin sowie unterschiedliche therapeutische Ansätze vertreten.

Dabei bedeutet die Kooperation zwischen Therapie und Seelsorge aus Perspektive der Seelsorgetheorie immer auch ein Wagnis – dies gilt bereits etwa in der Institution Krankenhaus, zugespitzt aber nochmals im Kontext der Bundeswehr, wo die Militärseelsorge innerhalb des PSN mit dem Sozialdienst, dem Sanitätsdienst und dem Psychologischen Dienst der Bundeswehr kooperiert. Das PSN ist, so nochmals Peuckmann, „latent von einem klinischen Imperativ geprägt, der einer medizinischen Codierung (gesund/krank) folgt“: hier kommt der Mensch, anders als in der Seelsorge, als ein zu therapierender – und im militärischen Kontext oftmals wieder einsatzfähig zu machender – Patient in den Blick. „Das ASEM-Projekt“, urteilt Peuckmann jedoch, „scheint insgesamt reflektiert und konstruktiv zugleich mit dem latenten Sog des klinischen Imperativs umzugehen. Soldatinnen, Soldaten und ihre Familien werden nicht funktional in den Blick genommen. Es geht nicht darum, Soldatinnen und Soldaten wieder einsatztauglich und damit ‚fit for fight‘ zu machen.“

Dies bekräftigt ASEM-Leiter Militärdekan Karsten Wächter gegenüber der Tagespost: „Bei uns müssen die Menschen keine Ziele erreichen. Das ist sehr entlastend.“ Aufgabe der Seelsorge sei es vielmehr, Räume „geteilter Lebenszeit“ zu eröffnen und mit den Soldaten „gemeinsam auf dem Weg zu sein“. Im besten Fall, so Wächter haben die Soldaten in den Seminaren „Erlebnisse von Leichtigkeit“ – heilsame Erfahrungen, die sie in ihren bisher von Trauma und permanenter Anspannung geprägten Alltag mitnehmen können. Religiöse Elemente sind in den Seminaren präsent, wobei es sich zunächst um niederschwellige Angebote handelt: Dies sind insbesondere Morgen- und Abendrunden mit liturgischen Elementen.

Wächter selbst bietet als Seelsorger den Soldaten Segens- und Beichtgespräche an. Insbesondere letzte, unterstreicht der evangelische Theologe, erfahren dabei eine besondere Nachfrage: „Ich habe gelernt, statt von Schuld von ‚moralischer Verletzung‘ zu sprechen. Sie kann nicht nur durch eigenes Verhalten oder Fehler entstehen, sondern auch durch das, was einem zugefügt wird. Oder wenn man tatenlos mit ansehen muss, wie anderen Unrecht oder Gewalt angetan wird. Dieser Themenkomplex hindert am Leben. Da kann das Ritual der Beichte sehr helfen, das Erlebte auszusprechen und an eine höhere Macht, Gott, abzugeben.“

Indem die Militärseelsorge in diesem Sinne Veteranen wahrnimmt und begleiten leistet sie nicht nur einen wichtigen Dienst an den Betroffenen. Zumindest ist – im Anschluss an Peuckmann – zu hoffen, dass sie als Teil der Kirche mit ihrem Tun auch in die „postheroische Gesellschaft“ hineinwirkt und exemplarisch zu zeigen vermag, wie eine „postheroische Ehrlichkeit“ gelebt werden kann.

Erschienen am 22. Juni 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Sich Kirche wieder angewöhnen

In seinem neuen Buch diskutiert Michael Meyer-Blanck theologischen Grundfragen der Kirche. Der emeritierte evangelische Professor für Praktische Theologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn spricht im Interview mit Tilman A. Fischer über Herausforderungen für die Kirche angesichts der Corona-Pandemie und des „Synodalen Weges“.

Herr Meyer-Blanck, haben die Erfahrungen der zurückliegenden drei Jahre Corona-Pandemie Ihr Nachdenken über die Kirche verändert?

Es ist nochmal sehr deutlich geworden, was bei mir auch eine Leitthese ist: Kirche – insbesondere evangelische Kirche – ist Kommunikation. Sie ist auch Institution und Organisation, vor allem aber Inszenierung und Kommunikation. Kommunikation gibt es zum einen unter Anwesenden – Niklas Luhmann nennt das dann Interaktion; zum anderen funktioniert sie auch medial, heute vor allem elektronisch. Der Glaube ist nichts, was man nur durch Anschauung oder gedankliches Mitvollziehen für sich zum Klingen bringen kann. Sondern man ist immer angewiesen auf andere, seien die nun an Bildschirmen oder mit einem physisch zusammen. Vor allem im Lockdown ist deutlich geworden, wie sehr man sich sehnt nach Interaktion, also nach Kommunikation unter Anwesenden.

Wie haben diese Erfahrungen die Kirche verändert?

Es ist ein Paradoxon: Man sehnt sich nach Interaktion und gewöhnt sie sich gleichzeitig ab. Vielfach sind die Gottesdienstbesucherzahlen nun im dritten Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie – nachdem Interaktion wieder möglich ist – nicht wieder auf dem Niveau wie vorher. Das ist ein ähnliches Schicksal, wie es die Theater und Opern erlebt haben, die einen teils massiven Rückgang an Besuchern zu verzeichnen haben. Ich hoffe, dass wir wieder auf den alten Stand kommen oder sogar auf einen besseren: Jetzt können wir endlich wieder die Liturgie feiern, uns in den Kreisen und Chören treffen. Das alles kommt hoffentlich wieder und wird noch mehr genossen als vorher. Viele Menschen haben sich die Kirche abgewöhnt – und sie gewöhnen sie sich hoffentlich wieder an.

Was können Gemeinden tun, um es Menschen zu erleichtern, sich Kirche wieder anzugewöhnen?

Einladende Kirche sein, jedem das Gefühl geben: Er und sie ist wichtig, willkommen, wird als Person wahrgenommen und wertgeschätzt. Das ist das große Geheimnis gelingender Gemeindearbeit: „Du bist hier willkommen, Du bist wichtig, durch Dich hat die Gemeinde einen wichtigen Zuwachs an Fähigkeiten oder an Spaß und Freude!“ Dabei müssen die Leute einzeln wieder zurückgewonnen werden, wenn sie sich von der Kirche so weit entwöhnt haben, dass es kaum noch Berührungen gibt.

Die Pandemie betraf Kirchen aller Konfessionen – vor allem katholische Geschwister waren zugleich von den Auseinandersetzungen um den „Synodalen Weg“ und die mit dem Reform-Diskurs verquickten Skandale um Missbrauchsfälle betroffen. Macht und Sexualität ist auch ein Thema Ihres Buches. Wie stellt es sich aus evangelischer Perspektive dar?

Sexualisierte Gewalt ist auf jeden Fall ein Problem – nicht nur für die katholische Kirche, sondern auch für die evangelische. Es ist nichts Schlimmeres denkbar, als wenn ein Pädagoge, der Kinder und Jugendliche fördern soll, Kindern Gewalt antut und sie missbraucht. Das ist ein performativer Selbstwiderspruch. Das ist genauso schlimm in der evangelischen Kirche wie in der katholischen – auch wenn die Fallzahl vielleicht geringer ist. Umso schlimmer ist dann jeder einzelne Fall und jeder einzelne Fall muss strafrechtlich verfolgt und, was das Gedächtnis der Gemeinde angeht, offen bearbeitet werden. Fälle gibt es jedenfalls auch in der evangelischen Kirche.

Was tut in Sachen kirchlicher Aufarbeitung evangelischerseits Not?

Die EKD muss vor allem zeigen, dass sie bei diesem Thema „an Deck“ ist, dass sie wachsam ist und die Entwicklungen verfolgt, durch empirische Untersuchungen und Studien die Sache aus der Vogelperspektive begleitet, während die Gemeinden und Landeskirchen in ihren Bereichen für Aufklärung zu sorgen haben.

Lassen Sie uns zuletzt nochmal auf die Lage der katholischen Christen zurückkommen: Wie bewerten Sie die Resultate des „Synodalen Weges“ in Deutschland – und die Perspektive ihrer Umsetzung?

Mutig, ich hoffe, mutig genug, ich hoffe, so mutig, dass tatsächlich etwas passiert. Man hat einen langen Weg des Abwägens gewählt und man kann ja sagen: Demokratie ist, wenn keiner zufrieden ist. Und insofern ist das doch ein demokratisches Stück Wegs gewesen, den der Synodale Weg gegangen ist. Insbesondere das Predigen von Frauen in der Messe, die Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren und die Forderung nach Öffnung der Ämter sind Dinge, die mit der gegenwärtigen katholischen Praxis in Widerspruch stehen, aber nun keineswegs mehr völlig unmöglich sind. Insofern hoffe ich, dass das ein kleiner Stein im Mosaik „Reform der katholischen Kirche“ ist.

Zum Weiterlesen: Michael Meyer-Blank, Kirche. Reihe Theologische Bibliothek. Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen 2022, 345 Seiten, 39 Euro.

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 22/2023.

„In dieser Welt bleibt nur der Heuchler sauber“

Der evangelische Militärpfarrer Klaus Beckmann widmet sich in einer bedenkenswerten Streitschrift der theologischen Perspektive auf den Soldatenberuf in Zeiten der sicherheitspolitischen Neuorientierung

Von Tilman Asmus Fischer

Als „Erinnerungs- und Streitschrift“ markiert der evangelische Theologe Klaus Beckmann – 2011 bis 2020 Militärseelsorger, zuletzt persönlicher Referent von Militärbischof Sigurd Rink – sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch. Inhaltlich freilich liegt der Akzent eher auf dem streitbaren Debattenbeitrag als auf anekdotischen Berichten – und dies gereicht „Dienstweg – kein Durchgang?“ nur zum Vorteil. Denn was der Autor bietet, ist – bei aller Sättigung durch die Praxiserfahrung eines Militärpfarrers – eine friedensethische wie pastoraltheologische bzw. kirchentheoretische Standortbestimmung auf höchstem Reflexionsniveau.

Unter einer friedensethischen Perspektive liest sich Beckmanns Buch als einer der profundesten Beiträge zur die sogenannte „Zeitenwende“ begleitenden theologischen Debatte, die sich zwischen einem Aufbegehren fundamentalpazifistischer Positionen und Spekulationen über eine Wiederkehr der Lehre vom „gerechten Krieg“ bewegt. „In dieser Welt bleibt nur der Heuchler sauber“, kann der Autor am Schluss konstatieren – und diese Einsicht verdichtet wie in einem Brennglas seine Argumentation, die sich gegen unaufrichtige Positionen eines Radikalpazifismus wendet, den Beckmann in seiner deutschen Spielart wiederholt als Wiedergänger eines Nationalpazifismus mit Wurzeln in den dunkelten Kapiteln der Geschichte unseres Landes identifiziert. Für eine aufrichtige Perspektive tritt Beckmann demgegenüber ein, indem er vom Faktum der unerlösten Welt ausgehend zu einer verantwortungsethischen Herleitung der Notwendigkeit der Institution Militär gelangt.

Dabei betont Beckmann den hohen Wert, welcher der Gestalt des Militärischen zukommt, wie sie sich in der Bundeswehr mit den Prinzipien der „Inneren Führung“ bzw. des „Staatsbürgers in Uniform“ herausgebildet hat. Gewiss stellt der Autor mit dem Bild des gebildeten, verantwortungsbewussten und kritischen Subjekts hohe Ansprüche an den Beruf des Soldaten. Jedoch bilden ebendiese Ansprüche das logische Korrelat zur inhaltlichen Begründung der Existenz von Streitkräften, wie Beckmann sie vornimmt: zur Sicherung von Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit sowie zur Wahrnehmung internationaler Verantwortung unter dem Vorzeichen der Idee des „gerechten Friedens“.

Nicht minder bedenkenswert sind Beckmanns Ausführungen, liest man sie in einer postoraltheologischen bzw. kirchentheoretischen Blickrichtung: Ebenso klar, wie der Autor eine ethische Würdigung des Soldatenberufs vornimmt, tritt er für die Unabhängigkeit der Seelsorger wie der Institution Kirche im System Bundeswehr ein. Denn – eine grundsätzliche Problematik, die auch aus anderen Bereichsseelsorgen prinzipiell bekannt ist, sich aber im Falle der Militärseelsorge in besonderer Weise zeigt – das Bezugssystem, in dem die Militärpfarrer wirken, hat eine deutliche Tendenz dazu, die Geistlichen zu vereinnahmen. Dem stellt der Autor die Erwartungen der Soldaten an Militärseelsorger gegenüber – und hier mag eine implizite Kritik an einzelnen Amtsbrüdern anklingen:

„Nach meiner Erfahrung verfügen Soldaten über ein hohes Maß an kritischer Sensibilität gegenüber Anbiederungsversuchen. Sie wünschen sich durchaus nicht, dass ein Seelsorger in ‚Grünzeug‘ durch die Kaserne marschiert; militärisches Grüßen wird beim Militärpfarrer als unstatthaft empfunden – nicht allein, weil dieser nun eben einen zivilen Status hat, sondern auch und gerade, weil den meisten Soldaten bewusst ist, welchen Schatz der Seelsorger in seiner Sonderstellung für sie darstellt. Gleitet er in das militärische ‚grüne‘ Milieu ab, geht ein Stück Freiheit im militärischen Alltag verloren.“

Dieses „Stück Freiheit“ beginnt beim von den Seelsorgern als Raum freier Aussprache gestalteten Lebenskundlichen Unterricht und reicht über ihre Unabhängigkeit von der militärischen Hierarchie bis hin zum Beicht- und Seelsorgegeheimnis, das Militärseelsorger von Truppenpsychologen unterscheidet und einen Raum des geschützten Gesprächs selbst in Extremsituationen garantiert. Zur Absicherung ebendieser Freiheit und Unabhängigkeit mahnt der Autor wiederholt Strukturreformen innerhalb der evangelischen Militärseelsorge an: „Ein Verbesserungsansatz für die Militärseelsorge kann in verfassten Basisvertretungen liegen, die es dem Seelsorger ermöglichen, sich in Entscheidungen und Äußerungen abzustimmen und abzusichern. Handlungen der Militärseelsorge würden so nach außen nicht vom Pfarrer allein, sondern durch ein legitimiertes Gremium vertreten.“

Dabei greift der Verfasser interessanterweise auf die katholische Organisationsstruktur als Vorbild zurück: „Beachtenswert finde ich die Tatsache, dass die katholische Militärseelsorge bislang in der Beteiligung der Basis mehr zu bieten hat als die evangelische Seite. Dort existieren bei den Standortpfarrämtern verfasste“ – wenn auch, wie Beckmann einschränkt, vom Pfarrer berufene und nicht gewählte – „Mitarbeiterkreise und Pfarrgemeinderäte; über mehrere Ebenen hinweg sind die katholischen Soldatinnen und Soldaten bis ins Zentralkomitee der deutschen Katholiken repräsentiert.“

Diese Bezugnahme ist nur einer von zahlreichen Aspekten, die „Dienstweg – kein Durchgang?“ für eine ökumenische Leserschaft und nicht nur für den kleinen Kreis der an Fragen der evangelischen Militärseelsorge Interessierten äußerst lesenswert macht. Mithin in Monaten, da sich die gesamte Gesellschaft neu über Grundkoordinaten von Sicherheitspolitik und Friedensethik orientieren muss, stellen diese Reflexionen, die an Erfahrungen als „Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr“ anknüpfen, unangenehme Fragen und bieten Thesen, die in einer aufrichtigen öffentlichen Debatte nicht ausgeklammert werden sollten. Dass Deutschland diese Debatte vor dem Hintergrund seiner historischen Verantwortung ebenso wie gegenüber seinen heutigen Uniformträgern schuldig ist, macht Beckmann eindrücklich klar.

Klaus Beckmann: Dienstweg – kein Durchgang? Als Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr. Eine Erinnerungs- und Streitschrift. Miles-Verlag, Berlin 2022, 264 Seiten, ISBN 978-3967760439, EUR 19,80.

Erschienen am 20. April 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Gefährdete Unabhängigkeit

Welche Leitlogik prägt die Militärseelsorge? Ein ökumenisches Gespräch offenbart theologische Leerstellen

Von Tilman Asmus Fischer

Als die beiden evangelischen Theologen Isolde Karle und Niklas Peuckmann 2020 ihren Sammelband „Seelsorge in der Bundeswehr. Perspektiven aus Theorie und Praxis“ herausgaben, betonten sie in ihrer Einleitung in besonderer Weise die Herausforderung, „die stets gefährdete Unabhängigkeit der Militärseelsorge zu erhalten und zu fördern“: „Jede ‚Bereichsseelsorge‘, mithin jede Seelsorge, die in einer nicht-religiösen Institution angesiedelt ist, steht in der Gefahr, von der Leitlogik der gastgebenden Institution absorbiert zu werden. Das Soziale ist in aller Regel stärker als das Bewusstsein, deshalb lassen sich Seelsorgerinnen und Seelsorger leicht in den Sog der Systemlogik ziehen, die in einer Institution vorherrschend ist, – ob das die Schule, das Krankenhaus oder die Bundeswehr ist. In der Bundeswehr scheint diese Dynamik besonders ausgeprägt zu sein.“

Anschauungsmaterial dieser ‚Dynamik‘ bot am 7. Februar ein vom „Berlin Center for Intellectual Diaspora“ an der Katholischen Akademie veranstaltetes Hintergrundgespräch unter dem Titel: „Seele und Moral der Truppe – was tut und was soll Militärseelsorge heute?“ Eingeladen hatte das Center, dessen Leiterin Dr. Gesine Palmer den Abend moderierte, drei ‚Strausberger‘: die Leiter des Evangelischen bzw. Katholischen Militärpfarramts Strausberg, die Militärdekane Otto Adomat und Siegfried Weber, sowie den im Kommando Heer mit Sitz in Strausberg für Fragen der Inneren Führung zuständigen Oberst York Buchholtz.

Auf dem Podium
Auf dem Podium (v.l.n.r.): Militärdekan Siegfried Weber, Dr. Gesine Palmer, Militärdekan Otto Adomat, Oberst York Buchholtz (Foto: Ting-Chia Wu).

Gewiss, alle drei betonten dezidiert den hohen Wert der rechtlich verbrieften Unabhängigkeit der Militärseelsorge in der Bundeswehr: Die Bindung der Geistlichen an das Beicht- bzw. Seelsorgegeheimnis, ihre Stellung jenseits der militärischen Hierarchie und den damit gewährten Schutz vor einer Indienstnahme der Seelsorge durch die militärische Führung. Dennoch stimmten die Kurzvorträge sowie die Diskussion nachdenklich mit Blick auf das zur Sprache gebrachte pastorale Selbstverständnis bzw. theologische Hintergrundannahmen, bei denen sich wiederholt die Frage aufdrängte, welche ‚Leitlogik‘ für sie ausschlaggebend ist: eine militärische oder eine kirchliche bzw. theologische.

Am deutlichsten war die Prägung durch eine kirchliche ‚Leitlogik‘ beim katholischen Militärdekan Weber zu erkennen, der das Aufgabenprofil eines Militärgeistlichen prinzipiell als demjenigen des Priesters in einer Zivilgemeinde gleichgestaltet beschrieb. Weber sprach als bodenständiger Praktiker, als zugewandter Seelsorger, der – Grundvoraussetzung seines Dienstes – „Menschen mag“ und „Soldaten mag“. Durch ihn – wie durch die anderen Podiumsteilnehmern – wurde jedoch kaum die Ebene einer kritischen Hinterfragung des militärseelsorgerlichen Wirkens im von Karle und Peuckmann skizzierten Sinne erreicht. Die Diskussion verblieb weitestgehend in einer positivistischen Darstellung des selbsterlebten Ist-Zustandes der Pastoral unter Soldaten.

Hellhörig konnte man freilich werden, als Weber seinen evangelischen Amtskollegen als „Kamerad Adomat“ titulierte. Dass Militärgeistliche – zumal im Kontext und vor dem Hintergrund gemeinsam erlebter Einsatzerfahrungen – für die ihnen anbefohlenen Soldaten die Bezeichnung des Kameraden verwenden, ist nachvollziehbar und mag womöglich auch unter poimenischen Gesichtspunkten legitim sein. Was aber sagt es über die hinter dem eigenen Dienst als Pfarrer stehenden Überzeugungen aus, wenn man im Miteinander unter Amtsbrüdern – und eben nicht im Austausch mit der ‚gastgebenden Institution‘ – eine Selbstbezeichnung verwendet, die sich gerade nicht aus dem gemeinsamen kirchlichen Dienst, sondern aus der ‚Systemlogik‘ des Militärischen speist?

Diese Anrede mag aber vielleicht auch dadurch getriggert worden sein, dass „Kamerad Adomat“ sich selbst recht rustikal in Szene setzte. So klar er sein Wirken auch durch konsequenten Bezug auf Seelsorge und Verkündigung als ein geistliches profilierte, erstaunt doch, dass er in seinem Eingangsstatement als persönliche Motivation zum Dienst als Militärseelsorger den Wunsch fokussierte, „meinem Land – der Bundesrepublik – etwas zurückzugeben“. Dies entspricht dem legitimen soldatischen Selbstverständnis „Wir dienen Deutschland“ – fraglich ist hingegen, ob diese Akzentsetzung dem Proprium entspricht, welches der Wahlspruch der Evangelischen Militärseelsorge insinuiert: „domini sumus“. Werden Militärseelsorger in der theologischen Fachliteratur gerne als „outstanding insiders“ bezeichnet, so konnte man bei Adomat eher den ‚insider‘ als das ‚outstanding‘ betont sehen. So wird er gewiss mit der Beobachtung recht haben, dass die Einsatzwirklichkeit mit erlebter Auftragserfüllung, Kameradschaft und der Begegnung mit Soldaten befreundeter Armeen über geistige Ressourcen für den soldatischen Dienst verfügt. Seine Stilisierung der religiösen Dimension von Kriegserfahrungen ließ jedoch eine kritische Haltung gegenüber der Lebenswirklichkeit der ihm anvertrauten Soldaten vermissen. Dabei täte man dem evangelischen Militärdekan unrecht, ihn als Militaristen misszuverstehen – konnte er doch andererseits etwa die Bedeutung der Versöhnungsliturgie von Coventry im Militärgesangbuch und damit Versöhnung als Zielperspektive auch soldatischen Handelns hervorheben.

Karle und Peuckmann sehen den Trend zur ‚Absorbierung‘ von Militärgeistlichen durch das System Bundeswehr nicht zuletzt darin begründet es sich hierbei um eine Institution handelt, „die ausgeprägter als andere Institutionen, in denen Seelsorgerinnen und Seelsorger tätig sind, durch hierarchische Strukturen bestimmt ist und zugleich dazu tendiert, Seelsorgerinnen und Seelsorger als fest integrierte Bestandteile des Systems zu begreifen.“ Diese Tendenz klang auch bei Oberst Buchholtz an, der in seinem Eingangsstatement von der Militärseelsorge auch als „Führungsinstrument“ sprechen konnte, zu dessen Nutzung er jeden militärischen Führer nur ermuntern könne. Bereits zuvor hatte er betont, dass viele der Angehörigen von Kampfverbänden zwar keine Christen seien, aber der mit Einsatzrealität konfrontierte Soldat dennoch eine Person brauche, die ihm sagt: „Du kämpfst für das richtige.“ Diese Engführung der Seelsorge auf die moralische Legitimierung des kriegsvölkerrechtlich Legalen mag der Systemlogik einer Armee entsprechen – und die Offenheit, in der sich Oberst Buchholtz zu dieser Haltung bekannte, verdient Anerkennung. Bemerkenswert ist jedoch, dass keiner der anwesenden Militärseelsorger sie theologisch begründet hinterfragte.

In anderer Form erschienen am 16. Februar 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Zwischen den „Ordnungen der Dinge“

Auf der Suche nach Interpretamenten zur Krisendeutung bringt Martina Kumlehn den protestantischen Theologen Friedrich D. E. Schleiermacher ins Spiel. Ein Interview.

Folgt man dem Soziologen Armin Nassehi leben wir in einer – angesichts gegenwärtiger Krisenerscheinungen – „überforderten Gesellschaft“. Mag dies ein Phänomen der Postmoderne sein, so lohnt sich auf der Suche nach Interpretamenten zur Krisendeutung auch der Blick in die Religionsgeschichte der Aufklärungszeit. Martina Kumlehn, Professorin für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock, bringt im Interview mit Tilman A. Fischer den protestantischen Theologen Friedrich D. E. Schleiermacher als modernen Krisendeuter ins Spiel. Über „Schleiermacher im Spiegel des modernen Krisenbewusstseins“ hielt Kumlehn am 30. November die diesjährige Schleiermacher-Lecture des Instituts zur Erforschung moderner Religionskulturen an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

Frau Kumlehn, warum lohnt es sich angesichts unserer krisengeschüttelten Gegenwart Schleiermacher zu lesen? Haben wir angesichts der Herausforderungen der Postmoderne nicht Besseres zu tun, als Texte des 19. Jahrhunderts zu lesen?

Auch im 18. und 19. Jahrhundert gab es politische Umwälzungen, Krieg und Seuchen. Gewiss: Im Sog der Spätmoderne überlagern sich durch die technologischen Entwicklungen, die globalen Verflechtungen, die Digitalisierung und die ökologischen Risiken hyperkomplexe Krisenszenarien. Aber neben den neuen Herausforderungen sind es doch paradoxerweise gerade die Erfahrungen der Pandemie, der Naturkatastrophen und des Kriegs, die das Gefühl der Entsicherung, der Fragilität und Verletzlichkeit trotz aller Sicherungsmaßnahmen und Fortschrittsverheißungen der Moderne wieder massiv verstärken und Verlustängste schüren. Von daher lohnt sich auch ein historisch kundiger Blick in die Vergangenheit, um die Erfahrungs- und Deutungshorizonte in Analogie und Differenz in ein kritisches Verhältnis zu setzen.

Weiterlesen auf „feinschwarz. Theologisches Feuilleton“…

„Wir sind keine Propheten“

Wie kann man heute verantwortlich davon reden, dass Gott in der Welt handelt? Ein im April veröffentlichtes Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen befasst sich mit dem „Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens“. Michael Beintker, emeritierter Professor für Systematische Theologie und bis Frühjahr 2021 Ausschussvorsitzender, erläutert im Interview mit Tilman Asmus Fischer, was es bedeutet, Gottes Handeln als Metapher zu verstehen. Er spricht darüber, wie wir angesichts von Corona von diesem Handeln noch singen können.

Herr Beintker, seit einigen Wochen darf in Gottesdiensten wieder gesungen werden. Aber können wir – zumal ‚nach Corona‘ – noch vom Handeln Gottes so singen wie früher? Konkret: was setzt es voraus, mit Paul Gerhardt (EG 325,5) einzustimmen: „Meiner Seele Wohlergehen hat er ja recht wohl bedacht, will dem Leibe Not entstehen, nimmt er’s gleichfalls wohl in acht“?

Es setzt auf alle Fälle ein vertrauensvolles Verhältnis zu Gott als dem Herrn meines Lebens voraus. Sodann ist das Vertrauen, dass mir Gott in den Nöten und Leiden meines Lebens hilft, unabdingbar. Gott kann diese Erwartung enttäuschen und das erleben wir auch immer wieder. Dann singen wir vielleicht mit einem reformierten Psalm von Gott, „der Lasten auf uns legt, doch uns mit unsern Lasten trägt“ (EG 281,3). Aber es ist auf alle Fälle so, dass man auch in der Enttäuschung der Gegenwart Gottes gewiss sein kann. Deshalb dürfen wir nicht aufhören zu singen, wie Paul Gerhard es uns empfiehlt.

Als sachgemäßes Verständnis vom Handeln Gottes schlägt das unter Ihrer Leitung erarbeitete Votum dasjenige einer Metapher vor. Und so lassen sich auch Paul Gerhardts Worte als metaphorische Rede verstehen. Worin liegen die Vorzüge eines metaphorischen Verständnisses des Handelns Gottes?

Dahinter steht ein Verständnis von Sprache, das die Übertragung von Sachverhalten in Bilder – darum geht es ja in Metaphern – ernstnimmt und erkennt: Mit Blick auf Gottes Geheimnis ist es so, dass wir von einer Wirklichkeit reden, für die wir eigentlich keine Sprache haben. Wir reden vom Unendlichen mit den Mitteln des Endlichen – oder vom Ewigen mit den Mitteln des Zeitlichen. Wir können uns eigentlich nur an der Sprache orientieren, die Gott uns selber schenkt. Das ist die Sprache des Glaubens, wie wir sie mit der Bibel erlernen. Die Metapher des Handelns hilft uns, das, was unsagbar und eigentlich auch gar nicht genau beschreibbar ist, auszusprechen und uns dafür einen Wirklichkeitsraum zu erschließen, den wir ohne sie nicht hätten.  So führt uns die Metapher in die Weite und Tiefe der Wirklichkeit Gottes.

Für Paul Gerhardt gehören zu dieser Wirklichkeit auch – drei Strophen später besungen – Gottes „Strafen, seine Schläge“ als „Zeichen, dass mein Freund, der mich liebet, mein gedenke und mich von der schnöden Welt, die uns hart gefangen hält, durch das Kreuze zu ihm lenke“. Wie singbar ist das im Sommer 2021?

Hier wird es schwierig. Paul Gerhardt dichtet in einer Situation, in der die Rede von den Widrigkeiten, die mein Leben prägen, zu schnell mit den Strafen Gottes verknüpft worden sind. Dabei soll der Gedanke trösten, dass der, der mich liebt, mich auch schlägt – und dann sind die Schläge nicht so schlimm. Das können wir in dieser Weise nicht mehr sagen, weil wir nicht in das Geheimnis Gottes schauen, um zu ergründen, wo Strafmotive liegen könnten, sondern um die Liebe zu erkennen, mit der Gott uns hält. Aber es ist natürlich so, dass die Dinge, die uns umwerfen, uns in bestimmter Weise auch immer wieder zu neuen produktiven Erfahrungen führen können. Ich habe in meinem Leben jedenfalls niemals erlebt, dass eine negative, sehr einschneidende Erfahrung am Ende nicht doch auch eine Erfahrung war, in der ein versteckter Segen lag. Aber das kann man überhaupt erst hinterher sagen und nicht in der akuten Situation – und schon gar nicht, um damit den Gedanken zu artikulieren, dass wir bestraft werden.

(Foto: MichaelGaida)

Sollte also von Gottes Strafe in Theologie und Kirche geschwiegen werden? Der frühere Militärbischof Hartmut Löwe hatte ebendiese Tendenz angesichts der Pandemie im Mai 2020 kritisiert.

Ich fand es – ähnlich wie Altbischof Löwe – verwunderlich, dass manche gesagt haben: „Das kann überhaupt nicht Gottes Strafe oder Gottes Gericht sein.“ Da habe ich mich gefragt: Woher wissen die das eigentlich? Und umgekehrt, bei denjenigen, die gesagt haben: „Ja, das muss ein Ausdruck des Gerichts Gottes sein und Gott straft“, da habe ich mich genauso gefragt: Woher wissen die das? Eigentlich muss man Prophet sein, um Fragen dieser Art zu beantworten – und da wir keine Propheten sind, ist es uns verwehrt, diese Fragen in der einen oder anderen Richtung zu beantworten. Was wir freilich sagen müssen, ist dies: Auch diese Krise hat etwas mit Gott zu tun. Das sagen wir schon deshalb, um Gott anzurufen, dass er uns verschont und dass er uns errettet; dass er der Medizin Möglichkeiten öffnet, wie wir dem Virus standhalten. Man kann nicht sagen: Diese Krise hat mit Gott überhaupt nichts zu tun. Denn damit würde man sagen: Alle entscheidenden Dinge, die in dieser Welt passieren, haben letztlich mit Gott nichts zu tun. Das wäre, finde ich, Gott nicht gemäß und auch dem Leben und unserer Erfahrung nicht gemäß.

Zu den Erfahrungen von Christinnen und Christen aller Zeitalter gehörte immer wieder, dass Gott nicht – bzw. nicht so, wie erwartet – handelt. Wie lässt sich das in die metaphorische Rede vom Handeln einfügen, die doch Aktivität vorauszusetzen scheint?

Die binäre Unterscheidung von Aktivität und Passivität ist viel zu einfach. Insbesondere der Weg ans Kreuz zeigt, dass Gott sich zurücknehmen und aller Gewalt und Allmacht entäußern kann. Dies ist jedoch keine Passivität. Denn auch das Lassen oder Unterlassen geschieht aus einem bestimmten Motiv heraus und ist insofern auch Handeln. Und so erfährt man auch im Nicht-Handeln Gottes, dass er handelt – jedenfalls, wenn man davon überzeugt ist, dass Gott existiert und das Leben bestimmt. Die Klagepsalmen sind nicht geschrieben worden aus der Überzeugung, dass Gott sich irgendwo zurückgezogen hat. Vielmehr klingt in ihnen die Enttäuschung an, dass er nicht handelt, obwohl er handeln müsste. Die Erfahrung, dass Gott nicht handelt, ist eine Glaubenserfahrung, die vor Gott ausgehalten werden muss.

Könnte dies letztlich auch zu einem Umdenken für unsere eigene Lebensführung Anlass geben?

Der moderne Mensch misst sein Menschsein an seiner Aktivität. Es könnte sich also positiv auf unsere Lebensökonomie auswirken, wenn wir uns klarmachen, dass nicht einmal Gott, der am siebten Tag von seinem Schöpfungswerk ausruhte, pausenlos aktiv ist. Auch wir müssen nicht ständig leisten.

Zum Weiterlesen: Michael Beintker u. Albrecht Philipps (Hgg.), Das Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) und Vorträge aus de, Theologischen Ausschuss zur Frage nach dem Handeln Gottes (= Evangelische Impulse, Bd. 9), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2021. 310 Seiten, 19 Euro, ISBN 978-3-7887-3515-9.

Erschienen in: „die Kirche“ – Evangelische Wochenzeitung für Berlin, Brandenburg und die schlesische Oberlausitz 29/2021.

Gefordert ist der „ganze Kerl“

Seit 150 Jahren wirken die Dominikaner in Berlin-Moabit. Inmitten einer Großpfarrei mit Zehntausenden Katholiken evangelisieren sie mit weltkirchlichem Ideenreichtum

Von Tilman Asmus Fischer

„Und da war es, als ob alles ruhig und klar würde, und ich ging mit einem Glücksgefühl nach Hause…“ So erinnert sich Romano Guardini, im Wintersemester 1905/1906 Student der Nationalökonomie an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, an sein Berufungserlebnis, das ihm während eines Hochamts in der Kirche des Dominikanerklosters St. Paulus in Berlin-Moabit widerfuhr. Hier in der Oldenburger Straße wirkt der Orden der Prediger heuer seit nunmehr 150 Jahren. So, wie dieser Ort vor mehr als 100 Jahren für Romano Guardini – der anschließend Priester und einer der bedeutendsten Religionsphilosophen seines Jahrhunderts wurde – wirksam geworden ist, wollen die Dominikaner auch heute aus dem und für den Glauben wirken.

Und so verstehen sie sich – ganz im Sinne der Neuevangelisation – als aktive Zelle in der Bundeshauptstadt, die mit ihren Angeboten auch über ihren unmittelbaren Stadtteil hinaus ausstrahlt. In einem weitgehend säkularen Lebensraum wie Berlin bedeutet dies, immer wieder neue Wege zu gehen und hergebrachte Strukturen zu überdenken. Leitend ist hierbei für Pater Michael Dillmann, den Prior des Klosters, die immer neue Frage: „Wo kann sich der Orden profilieren? Was kann man aus einem solchen Kloster ,machen‘?“

Seit Anfang des Jahres bildet St. Paulus das Zentrum der neuen Großpfarrei St. Elisabeth, die von Pater Michael geleitet wird. Damit sind die Brüder für die gesamte Pfarrpastoral in sechs Kirchen und für 26.000 Katholiken in Tiergarten und Wedding verantwortlich. Hinzu kommen die Betreuung weiterer Kapellen sowie die Krankenhausseelsorge an der Charité. Bestritten werden diese Aufgaben – neben Haupt- und Ehrenamtlichen in den einzelnen Gemeinden – vom Konvent in St. Paulus, einer internationalen und verhältnismäßig jungen Gruppe von acht Patres: sechs der Ordensmitglieder – von denen der jüngste 37 und der älteste 92 Jahre alt ist – haben das 60. Lebensjahr noch nicht erreicht; und neben fünf deutschen Brüdern stammen drei aus Polen, Belarus und der englischen Provinz des Ordens.

Allein in der Pfarrkirche St. Paulus besuchen jeden Sonntag in vier Messen mehr als 500 Menschen den Gottesdienst. „Wir legen“, so Pater Michael, „großen Wert auf Predigt und Liturgie, die wir mit besonderer Feierlichkeit begehen.“ Dies gilt gerade auch für die Sonntagabendmesse, die von den jungen Sängerinnen und Sängern der Vokalschola „Ave Florum Flos“ mit vierstimmigen Gesängen in Tradition des Liturgischen Instituts der Dominikaner in Krakau begleitet wird. Einer weiteren Krakauer Inspiration – der dortigen Gruppe „Christus in der Altstadt“ – verdankt sich die Initiative junger Katholiken „Christus in Moabit“, die sich einmal im Monat zur Messe und Anbetung trifft und auf der Straße offen Menschen einlädt, daran teilzunehmen.

Junge Erwachsene anzusprechen, ist auch das Ziel weiterer Angebote, mit denen sich die Brüder zudem an Interessierte über die eigene Pfarrgemeinde hinaus wenden. „Mit unserer ,Dominikanischen Glaubensschule‘ richten wir uns an erwachsene Taufbewerber und Menschen, die sich auf ihre Firmung vorbereiten wollen“, berichtet Pater Michael – doch sei auch willkommen, wer seinen Glauben unabhängig von einem solchen Anlass vertiefen wolle; darunter immer wieder auch Menschen, die beabsichtigten, zur katholischen Kirche zu konvertieren. In dreizehn Sitzungen werden jährlich mit circa 25 Teilnehmern Fragen der Kirchengeschichte, Liturgie, Dogmatik und Ethik sowie der persönlichen Frömmigkeit erörtert. „Am Ende des letzten Jahrgangs standen sechs Taufen in der Osternacht“, so Pater Michael: „Es waren aber auch schon mal mehr.“

Schon jetzt wirken zudem einzelne der Konventsmitglieder außerhalb von Berlin im Namen ihres Ordens: So ist Pater Rodrigo Kahl als Liturgiedozent am Priesterseminar der Petrusbruderschaft in Wigratzbad tätig. Und Pater Thomas Grießbach lehrt als Professor der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart sowie an weiteren deutschen Universitäten Rhetorische Kommunikation beziehungsweise berät Unternehmen wie Bistümer in Fragen der Personal- und Organisationsentwicklung.

Über die Jahrzehnte hinweg haben sich um das Kloster herum weitere Orte kirchlichen Lebens angesiedelt. Dabei ist zunächst an die beiden muttersprachlichen Gemeinden zu denken, die hier Gottesdienste in ungarischer Sprache und nach maronitischem Ritus feiern; hinzu kommen ferner polnische Gottesdienste. In einzelnen Räumlichkeiten des Klosters sind Einrichtungen der Caritas beheimatet, und in der unmittelbaren Nachbarschaft entstanden ein katholischer Hort mit 250 Kindern und eine katholische Grundschule mit circa 400 Schülern. Zudem existieren Dominikanische Laiengemeinschaften, die am geistlichen Leben in St. Paulus teilnehmen.

In den kommenden Jahren soll das Seminarangebot der Dominikaner systematisch ausgebaut werden: Geplant ist die Einrichtung eines „Dominikanischen Zentrums für Katechese und Spiritualität“, das für ganz Berlin neben Vorträgen und Exerzitien auch Ehe- und Taufvorbereitungskurse sowie Trauerbegleitung und Einführungen in die dominikanische Spiritualität und Mystik anbietet. Der Prior weiß, dass diese Vorhaben von den Brüdern viel verlangen – aber so sei das nun einmal: „Evangelisierung fordert den ,ganzen Kerl‘.“

Erschienen am 22. August 2019 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Eine „sehr, sehr lange Reise in die Tiefen“ tut Not

Die Ästhetik des Abschlussgottesdienstes des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentags glich eher einem Pop-Konzert – und dessen politische Botschaften waren mehr durch Plakativität denn durch Differenziertheit geprägt.

Von Tilman Asmus Fischer

Mit der Opferung Isaaks (1 Mos 22,1-19) hatte sich Reinhard Kardinal Marx für seine Bibelarbeit beim 37. Deutschen Evangelischen Kirchentag einen der anspruchsvollsten Texte des Alten Testaments vorgenommen. Die sich gerade auch mit dieser Schriftstelle verbindende Frage nach dem Wesen Gottes führte den DBK-Vorsitzenden dazu, auf einer grundsätzlichen Ebene über das Christentums in der Moderne nachzudenken. Hierzu erinnerte er an den tschechischen Theologen Tomas Halík, der – anknüpfend an Solschenizyn – fragte, „was jener Zeit folgen wird, in der es so viele Gläubige und Nichtgläubige für leicht hielten, über Gott zu reden“, und die Antwort gab: „Ich erwarte eine sehr, sehr lange Reise in die Tiefen. Und ich setze meine Hoffnungen darauf.“

Kirche muss sich im geschichtlichen Befreiungshandeln Gottes engagieren

Wie notwendig eine solche „lange Reise in die Tiefe“ ist, machte der Abschlussgottesdienst aus dem Dortmunder Westfalenstadion deutlich, dessen Ästhetik einem Pop-Konzert glich und dessen politische Botschaften mehr durch Plakativität denn durch Differenziertheit geprägt waren. Das Grundproblem kam wie in einem Brennglas zum Ausdruck, als Predigerin Dr. Sandra Bils über die Ausrichtung der Kirche am Vertrauen auf Gott sprach: „Wir suchen und fragen dann gemeinsam mit anderen, welcher Lifestyle und welche Werte dem Willen Gottes entsprechen. Auch mit denen jenseits unserer Filterblase. Wir sehen wo Gott in der Welt wirkt – durch die Leute von Sea-Watch, SOS Méditerranée und Sea-Eye, durch Greta Thunberg und die Schülerinnen und Schüler, durch so viele andere – und dabei machen wir mit.“

Heikel ist hieran keineswegs der Appell an christliche Weltverantwortung. Vielmehr ist gerade an Gerhard Ludwig Kardinal Müllers – an Dietrich Bonhoeffers Idee der „Kirche für andere“ anknüpfender – Einsicht festzuhalten, dass Kirche nur Kirche Gottes sein kann, „wenn sie nicht einfach nur den Bestand und den Einfluß ihrer selbst als Organisation und Institution zum Ziel hat“, sondern sich „im geschichtlichen Befreiungshandeln Gottes engagieren“ lässt. Problematisch ist jedoch die Verschiebung des Fokus weg vom Befreiungshandeln Gottes – hin zu ‚Lifestyle‘, ‚Werten‘ und einer ‚Mitmach-Kultur‘, die ganz im Vorletzten aufzugehen scheint, sodass die Ausrichtung auf die letzten Dinge zu verblassen droht.

Aus christlicher Perspektive ist ein Umdenken notwendig

Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich (Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur, Berlin 2017) hat wiederholt die gegenwärtig inflationäre Berufung auf ‚Werte’ kritisiert – auf die ja wiederum die Vorstellungen eines entsprechenden ‚Lifestyles‘ und ‚Mitmachens‘ bezogen sind. Ullrich zeigt auf, wie sich das öffentliche Bekennen zu bestimmten Werten – zumal in den ‚sozialen‘ Medien – zu einem selbstinszenatorischen Selbstzweck steigert. Und ihn treibt die Sorge, „dass die Kultur insgesamt zu einem eitlen Parcours lauten Demonstrierens und Manifestierens von Werten gerät und schließlich zu einer aggressiven Bekenntniskultur wird“. Dies ist eine Entwicklung, welche nicht zuletzt ein erhebliches Potenzial hat, die Gesellschaft zu spalten. Gerade dies darf aus christlicher Perspektive nicht hingenommen werden und erfordert ein Umdenken – auch wenn das bedeuten könnte, anstelle von populären ‚Werten‘ wieder verstärkt altmodischen, aber weniger für Selbstinszenierung anfälligen, Begriffen wie ‚Sittlichkeit‘ und ‚Tugenden‘ Geltung zu verleihen.

Beitrag für www.die-tagespost.de (Die Tagespost -Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur), 27. Juni 2019.