„Die Opferrolle nicht aus dem historischen Kontext herauslösen“

Als „Opfernationalismus“ deutet der Historiker Jie-Hyun Lim geschichtspolitische Narrative, die sich in den vergangenen Jahrzehnten sowohl in Europa als auch in Asien etabliert haben. Im Interview ordnet er die deutsche Erinnerung an das Kriegsende am 8. Mai ein.

Der Historiker Jie-Hyun Lim ist Professor für Transnationale Geschichte an der Sogang-Universität in Seoul, Südkorea. In diesem Jahr ist sein erstes deutschsprachiges Buch, „Opfernationalismus. Erinnerung und Herrschaft in der postkolonialen Welt“, erschienen.

Herr Lim, in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Buch bieten Sie das Interpretament des „Opfernationalismus“ für die Analyse geschichtspolitischer Diskurse an. Welche Phänomene beschreiben Sie hiermit?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass der ursprüngliche Begriff im Englischen nicht „victim nationalism“, sondern „victimhood nationalism“ lautet. Dieser Unterschied scheint trivial zu sein, ist aber bedeutsam. Es geht nicht um den möglichen Nationalismus der eigentlichen Opfer, sondern um den mnemonischen Nationalismus der nachgeborenen Generation bzw. Generationen. Jedoch befürchte ich, dass die deutsche Übersetzung „Opfernationalismus“ den nuancierten Unterschied zwischen beiden Übersetzungsmöglichkeiten verwischen könnte. Als die polnische Zeitschrift Więź einen meiner Artikel ins Polnische übersetzte, tauschte ich einige E-Mails aus, um eine angemessene Formulierung im Polnischen zu finden. Die endgültige Fassung lautete: „Nationaler Größenwahn der Opfer“. Nicht zufriedenstellend, aber es gab keine andere Möglichkeit. Jede Übersetzung steht vor solchen Herausforderungen. Dabei setzt sich das Übersetungsproblem beim Begriff des „Opfers“ fort.

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Erschienen am 8. Mai 2014 auf cicero.de.

Glaube – Heimat – Verständigung

Zum Tod von Helmut Sauer

Am 10. Januar ist Helmut Sauer, langjähriger CDU-Bundestagsabgeordneter und Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen (BdV), im 79. Lebensjahr in Braunschweig verstorben. Das Licht der Welt erblickte er am Heiligabend 1945 im schlesischen Quickendorf (Kreis Frankenstein). Im April des Folgejahres wurden er und seine Familie – die Eltern und seine Schwester Renate – aus ihrer Heimat vertrieben. Dem Schulabschluss folgte eine kaufmännische Ausbildung in der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft in Salzgitter.

Insbesondere im politischen Ehrenamt blieb Sauer der Heimat seiner Familie und Geburt verbunden. Im Alter von nur 19 Jahren trat Sauer 1965 der CDU bei, deren Kreisvorsitzender er 1971 wurde. Bereits 1967 reiste er erstmals – gemeinsam mit dem Stadtjugendring Salzgitter – nach Schlesien. Dieser Reise sollten noch viele weitere in unterschiedlichen Funktionen folgen. Von den sich dabei zutragenden Begegnungen – sowohl mit Heimatverbliebenen als auch polnischen Gesprächspartnern – wusste er stets mit einer großen Begeisterung zu berichten. 1972 wurde Sauer – als zu diesem Zeitpunkt jüngster Abgeordneter – in den Deutschen Bundestag gewählt. Diesem sollte er bis 1994 angehören – 22 Jahre, in denen er sich nicht nur um die deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedler – dann Spätaussiedler –, sowie die Deutschen im östlichen Europa verdient machte, sondern ebenso um weitergehende Menschenrechtsfragen und die deutsch-polnischen Beziehungen. Über die Zeit als Parlamentarier hinaus war Sauer zudem bis 2017 Bundesvorsitzender der Ost- und Mitteldeutschen Vereinigung der CDU; das Amt hatte er seit 1989 inne.

Helmut Sauer, der 1982 zum Landesvorsitzenden der Landsmannschaft Schlesien in Niedersachsen gewählt worden war, amtierte zudem von 1984 bis 1992 und von 2000 bis 2014 als Vizepräsident des BdV. Zum Tod Sauers erklärte BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius: „Fast vier Jahrzehnte war Helmut Sauer nicht nur einer der wichtigsten Verantwortungsträger in unserem Verband, sondern auch Freund und Wegbegleiter sowie hochgeschätzter Mitstreiter in vielen unserer Anliegen.“ Sauer bleibe, so Fabritius, für alle Verantwortungsträger des BdV „in seiner Sachorientiertheit, seiner Menschlichkeit und seiner Motivation Vorbild und Antrieb zugleich“.

Zugleich erinnerte Fabritius an den engen Zusammenhang zwischen Sauers Heimatverbundenheit und seiner Religiosität: „Glaube und Heimat – so hat er es selbst immer wieder betont – waren wichtige Leitmotive seines Lebens. Im katholischen Glauben Schlesiens tief verwurzelt, hatte er sich eine gesunde Volksfrömmigkeit bewahrt.“ Eine zentrale Rolle kam dabei dem aus der mütterlichen Verwandtschaft stammenden katholischen Priester und Reichstagsabgeordneten der Zentrumspartei Carl Ulitzka zu, der ebenso in der Weimarer Republik für die Demokratie eintrat, wie er sich in der Zeit des Dritten Reichs gegen die nationalsozialistische Rassen- und Kirchenpolitik stellte. Man darf in Ulitzka wohl nicht umsonst ein Vorbild nicht nur für die dezidiert christliche, sondern zudem tiefst proeuropäische Orientierung Sauers sehen.

Der diesem Erbe entsprechende gesellschaftliche und politische Einsatz Sauers wurde auf vielfältige Weise gewürdigt: mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ebenso wie mit dem Schlesier-Kreuz der Landsmannschaft Schlesien sowie der Verdienstmedaille des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen. Mit der – aus tiefster Überzeugung erwachsenen – Verbindung von Heimatverbundenheit und Passion für die Völkerverständigung hat Helmut Sauer die Vertriebenen- sowie die deutsch-polnische Partnerschaftspolitik nachhaltig geprägt. Hier wie jenseits von Oder und Neiße wird man ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Westpreußen – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2024.

Erinnerung an einen Völkermord

Eine Installation der namibischen Künstlerin Isabel Tueumuna Katjavivi im Museum Neukölln

Tilman A. Fischer

Roter Sand bedeckt den Boden des Ausstellungsraumes im Museum Neukölln. Zum Teil verdeckt er die tönernen Gesichter, die aus ihm herausragen. Die Masken stehen sinnbildlich für die über 65.000 Todesopfer des ersten Völkermords des 20. Jahrhunderts: begangen 1904 bis 1908 durch das Deutsche Reich im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Geschaffen wurde die Installation „They Tried to Bury Us“ (dt. „Sie versuchten, uns zu begraben“) von Isabel Tueumuna Katjavivi.

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Erschienen in: Berliner Zeitung, Nr. 84, Donnerstag, 11. April 2024, Seite 11.

Antikoloniales im Berlin der Zwanziger

Eine Ausstellung der Villa Oppenheim

Tilman A. Fischer

Seit 2017 prägt die Netflix-Serie „Babylon Berlin“ wie kaum ein anderes Produkt der Populärkultur das Bild der deutschen Hauptstadt in den goldenen Zwanzigern. Dieses Bild freilich ist erstaunlich weiß, stellt man in Rechnung, dass Berlin schon damals eine von globaler Mobilität geprägte Weltstadt war und die Kapitale eines Landes, in dem Menschen lebten, die aus dessen gerade erst abgetretenen Kolonialgebieten stammten.

Dies mag an Leerstellen im kollektiven Gedächtnis erinnern, wie sie immer wieder – und zuletzt mit zunehmender Vehemenz – problematisiert werden. Einen wichtigen Beitrag dazu, diese Lücken zu schließen, leistet die Ausstellung „Solidarisiert euch! Schwarzer Widerstand und globaler Antikolonialismus in Berlin, 1919–1933“ im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim.

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Erschienen in: Berliner Zeitung, Nr. 37, Dienstag, 13. Februar 2024, Seite 11.

Proeuropäischer Geist aus Danzig

Polens alter und neuer Ministerpräsident Donald Tusk weckt Erwartungen

Zum zweiten Mal in seiner politischen Laufbahn ist Donald Tusk am 13. Dezember als polnischer Ministerpräsident vereidigt worden. Diesem für die polnische wie europäische Politik – und mithin die deutsch-polnischen Beziehungen – bedeutsamen Ereignis waren unwürdige Versuche der seit 2015 regierenden Partei „Prawo i Sprawiedliwość“ [Recht und Gerechtigkeit] (PiS) und des aus ihren Reihen stammenden Staatspräsidenten Andrzej Duda vorangegangen, die rechtspopulistische Partei an der Macht zu halten. Diese berief sich aufgrund des Ergebnisses der Parlamentswahl vom 15. Oktober als mit 35,4 Prozent stärkste Partei auf das Recht zur Regierungsbildung – obwohl die mit Tusks liberal-konservativer „Platforma Obywatelska“ [Bürgerplattform] (PO) verbündeten Oppositionsparteien gemeinsam eine deutliche Mehrheit errungen hatten. Getragen wird die gemeinsam mit Tusk vereidigte Regierung neben der PO von den linksliberalen Parteien Nowoczesna [Die Moderne] und „Inicjatywa Polska“ [Initiative Polen], den christdemokratischen Parteien „Polska 2050“ und „Polskie Stronnictwo Ludowe“ [Polnische Volkspartei] () sowie den sozialdemokratischen Parteien „Nowa Lewica“ [Neue Linke] () und „Lewica Razem“ [Linke Gemeinsam].

An die neue proeuropäische Koalition richten sich vielfältige Hoffnungen, nicht nur aus der Republik Polen, sondern auch aus der Europäischen Union. In dieser genoss Tusk einen derartigen Rückhalt, dass er den Posten des Präsidenten des Europäischen Rates, zu dem er 2014 gewählt worden war, bis zu seiner Rückkehr in die polnische Politik 2019 auch gegen die Widerstände der in Warschau regierenden PiS innehatte. Seine tiefe proeuropäische Überzeugung ist bei Polens altem und neuem Ministerpräsidenten durchaus auch biographisch begründet, stammt der 1957 in Danzig Geborene doch aus einer auf dem Gebiet der Freien Stadt ansässigen kaschubischen Familie und ist insofern geprägt vom Geist der weltoffenen und vielfältigen europäischen Metropole. Dass einer seiner Großväter, Józef Tusk, kurz vor Kriegsende als Angehöriger der Deutschen Volksliste zur Wehrmacht einberufen wurde, wird von polnischen Nationalisten bis heute zur Verunglimpfung Tusks als eine „deutschen Agenten“ instrumentalisiert – in Absehung von der Tatsache, dass beide Großväter zeitweise Häftlinge der Konzentrationslager Stutthof bzw. Neuengamme waren.

Es ist davon auszugehen, dass die Rufmordkampagnen der einstigen Machthaber und heutigen Opposition in Polen gegen ihren Erzfeind Tusk künftig an Intensität eher zunehmen werden, da ihnen der europapolitische Kurs hierzu genug Anlass geben wird. Bereits in der ersten Regierungserklärung bekannte sich Tusk zu den Grundwerten Europas: „Was wirklich eine Gemeinschaft formt, sind Rechtsstaatlichkeit, die Verfassung, die Regeln der Demokratie, sichere Grenzen und ein sicheres Staatsgebiet – das sind die Dinge, über die wir uns nicht streiten dürfen.“ Polen sei, so Tusk, „umso stärker, umso souveräner, je stärker die Europäische Gemeinschaft ist“.

Mit Interesse abzuwarten wird sein, wie sich vor diesem Hintergrund der außenpolitische Kurs gegenüber Deutschland gestaltet. Dies gilt an erster Stelle für die seitens der PiS in den vergangenen Jahren betriebenen – juristisch höchst fragwürdigen – Entschädigungsforderungen gegenüber der Bundesrepublik. Tusk dürfte weder Interesse an einer Fortsetzung dieser symbolpolitischen Angriffe auf Berlin haben noch daran, dass man sich dort genötigt sehen sollte, in Entgegnung hierauf deutlich auf die deutschen Gebietsabtretungen an Polen und die seit jeher offenen Fragen privater Eigentumsansprüche einzugehen. Auch innenpolitisch besteht, will Tusk seinem Anspruch als proeuropäischer Politiker gerecht werden, dringender Handlungsbedarf, der die deutsch-polnischen Beziehungen tangiert. Dabei dürfte es – neben einer Abkehr vom lähmenden, durch die Nationalisten bei allen Fragen der Erinnerungspolitik in den Wissenschafts- und Kulturbetrieb hereingetragenen Kulturkampf – primär um die von den Rechtspopulisten vorgenommene Streichung von Geldern für den Deutschunterricht an staatlichen Schulen gehen, die einen massiven Angriff auf die kulturelle Identität und Existenz der deutschen Volksgruppe sowie ihre verbrieften Minderheitenrechte darstellt.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

„Einfach Tacheles reden“

Abschied von Karl Fürst von Schwarzenberg

Es war vor 75 Jahren, dass der am 10. Dezember 1937 geborene Karl von Schwarzenberg mit seiner Familie nach der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei seine böhmische Heimat in Richtung Schweiz verließ, deren Staatsbürgerschaft die Familie bereits seit Generationen innehatte. Vor wiederum fast 35 Jahren kehrte der Unternehmer, Landwirt und Politiker – der seit 1979 Oberhaupt der Familie Schwarzenberg war – in sein Heimatland zurück, wo er in den vergangenen Jahrzehnten eine der prägenden politischen Gestalten sein sollte und als solche zu einem Brückenbauer zwischen dem Osten und Westen Europas wurde. Am 12. November 2023 ist Karl von Schwarzenberg in Wien gestorben.

Dort hatte er nach der Übersiedlung aus der Tschechoslowakei die Schule abgeschlossen und – ebenso wie in Graz und München – Rechts- und Landwirtschaftswissenschaften studiert. Schon bald übernahm der junge Adlige Verantwortung für die der Familie in Österreich sowie Deutschland verbliebenen Besitzungen. Nach dem Untergang des Kommunismus sollte er dies auch für das Schwarzenbergsche Grundeigentum in Tschechien tun können, das zu großen Teilen zurückerstattet wurde. Der Freiheit ganz Europas galt von Schwarzenbergs politischer Einsatz bereits in den vorangegangenen Jahren, insbesondere ab 1984, als er zum Präsidenten der Internationalen Helsinki Föderation für Menschenrechte gewählt wurde, die sich als Nichtregierungsorganisation für die Einhaltung der Menschenrechte in den KSZE-Staaten einsetzte.

2018 erinnerte sich von Schwarzenberg in einem Interview für diese Zeitung daran, wie er die Ereignisse des Jahres 1989 erlebt hatte: „Im Prinzip gespannt, was passieren wird. Man merkte, dass das sowjetische Reich in sich zusammenbricht. Bloß wie schnell dem so sein wird, haben wir alle nicht geahnt. Aber natürlich, die Ereignisse in Ungarn, dann in der DDR usw. waren hoch interessant. Am 17. November war ich nicht in Prag, sondern in Ungarn, oben bei Debrezin. Plötzlich kommt jemand zu mir und sagt: ‚Im slowakischen Fernsehen senden sie, es tut sich was in Prag.‘ Am nächsten Morgen bin ich losgefahren und habe schon von unterwegs angerufen, man soll mir ein Visum für Prag geben. Das wurde zunächst einmal abgelehnt, und mir wurde mitgeteilt, ich sollte wissen, dass ich in Prag nicht willkommen bin. Eine Woche später war das alles längst Vergangenheit. In den vorangegangenen Jahren war ich – als Vorsitzender der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte – in sehr vielen Staaten Mitteleuropas unterwegs gewesen und man sah, dass sich etwas entwickelt; aber wie schnell das ging, habe ich selbst nicht geahnt.“

Diese rasanten Entwicklungen katapultierten den Fürsten bereits zu Beginn des Jahres 1990 in den Beraterstab Václav Havels. Nach dessen Wahl zum tschechoslowakischen Staatspräsidenten leitete er bis 1992 die Prager Präsidentschaftskanzlei. 1997 wirkte er an der Entstehung der Deutsch-Tschechischen Erklärung mit. Die Versöhnung zwischen Deutschen (bzw. Österreichern) und Tschechen – sowie die Verständigung zwischen Ostmitteleuropa und den Staaten Westeuropas – waren nicht nur ein zentrales Anliegen seiner Politik. Vielmehr war kaum jemand anders wie er dazu befähigt, der er aufgrund seines Lebensweges und der daraus resultierenden Beziehungen mit östlichen wie westlichen Perspektiven und Paradigmen vertraut war. So entschieden, wie er selbst für Rechtsstaat, Demokratie und gegen Nationalismus und Populismus eintrat, war es ihm doch zugleich möglich, eine vermittelnde Position zwischen den Visegrád-Staaten und den westlichen EU-Mitgliedsstaaten einzunehmen. Als wir vor fünf Jahren auf die Lage in der Republik Polen zu sprechen kamen, setzte er seiner Kritik an der damals regierenden PiS hinzu:

„Aber, bitte: Gibt es einen politischen Gefangenen in ganz Polen? Ein politischer Bekannter aus Deutschland hat im Gespräch mit mir furchtbar auf die Polen geschimpft. Da habe ich ihn angesehen und gesagt: Ich bin ein sehr alter Mann. Ich erinnere mich an die Politik der 1950er Jahre. […] Zu dieser Zeit waren in einem Teil der Führungskreise der Bundesrepublik durchaus ähnliche Vorstellungen vertreten wie heute in der PiS. Nur hat sich Deutschland bis heute weiterentwickelt. Polen aber ist erst vor 30 Jahren frei geworden und befindet sich in einem Nachholprozess – auch Polen muss sich weiterentwickeln.“

Dem tschechischen Parlament gehörte von Schwarzenberg ab 2004 als Senator und seit 2010 als Mitglied des Abgeordnetenhauses an. Nach Gründung der Mitterechtspartei „Top 9“ im Jahre 2009 war er für sechs Jahre ihr Vorsitzender. Bereits 2007 bis 2009 und dann nochmal von 2010 bis 2013 war von Schwarzenberg zudem Außenminister der Tschechischen Republik. In diese Zeit fiel die erste EU-Ratspräsidentschaft seines Heimatlandes. Europapolitisch trat er dafür ein, dass der Staatenbund „wesentlich“ werde, wie er in unserem Gespräch erläuterte: „Heute noch sind die Außenpolitik, Verteidigungspolitik, Sicherheitspolitik und Energiepolitik national. Und was bestimmt man in Brüssel? – Was ein Naturschutzgebiet werden soll; ob ich einen Brotaufstrich ‚Marmelade‘ nennen darf oder nicht; oder ob ein köstlicher Käse aus der Tatra, Ostipok, unter dem slowakischen oder polnischen Namen auf dem Markt geführt wird. Wir sollten radikal, aber wirklich radikal Veränderungen vornehmen: Alle diese Dinge, die nicht unbedingt notwendig gemeinsam gelöst werden müssen, sollten wir zurückgeben an die Staaten, manchmal sogar Regionen. Demgegenüber müssen Außen-, Verteidigungs-, Sicherheits- und Energiepolitik vergemeinschaftet werden, damit die EU wesentlich wird.“

Diese Politik auch als Staatspräsident vorantreiben zu können, war von Schwarzenberg nicht vergönnt: Bei der Präsidentschaftswahl           2013 unterlag er dem Populisten Miloš Zeman. Davon ließ sich der Fürst jedoch nicht entmutigen und setzte sein politisches Wirken fort – bis 2021 im Parlament und darüber hinaus als Ratgeber und öffentlicher Denker. Dass er dabei oft auch deutliche Worte finden konnte, durfte auch der Autor dieser Zeilen erfahren, als er ihn auf das oft bemühte Plädoyer ansprach, ein verstärktes Bewusstsein für die kulturellen und geistigen Wurzeln Europas zu entwickeln: „Ich hasse diese Phrasen. Wichtig wäre, dass wir nüchtern überlegen: Was bringen wir durch? Wie können wir Europa vereinigen? Wo sind die wirklichen Schwierigkeiten? Einfach Tacheles reden, statt große Reden zu halten. Die Lage ist viel zu ernst, als dass wir noch Zeit verlieren könnten.“ So ist die Lage weiterhin und im Todesjahr des Fürsten vielleicht noch mehr als im Jahr 2018. Nun erst recht keine Zeit zu verlieren und Tacheles zu reden – das dürfte es sein, was dem Vermächtnis Karls von Schwarzenberg angemessen ist. 

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“

Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“ der Deutschen Gesellschaft e.V. – in Kooperation mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen sowie der Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland – für junge Spätaussiedler, Nachfahren von Heimatvertriebenen und Angehörige der deutschen Minderheiten. In der Veranstaltung werden die Beiträge der Preisträgerinnen und Preisträger vorgestellt und gewürdigt. Durch den Abend führt Tilman A. Fischer.

Buchvorstellung „Die zwei Gesichter der Zerstörung. Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen“ (von Prof. Dr. Manfred Kittel)

Programm:

Grußworte: Thomas Konhäuser, Geschäftsführer der Kulturstiftung Dr. Florian R. Simon, Verleger (Duncker & Humblot)

Einführung: Tilman A. Fischer, Theologe und Journalist, Berlin

Buchvorstellung: Manfred Kittel, Professor für Neuere und Neueste Geschichte und ehem. Gründungsdirektor der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Berlin/Regensburg

Kommentar: Dr. Christean Wagner, Hessischer Kultus- und Justizminister a. D. und Vorsitzender der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, Wiesbaden

Diskussion: „Ethnische Vertreibungen zwischen Erinnerungskultur und Völkerrecht“

Moderation: Tilman A. Fischer

Schlussworte: Thomas Konhäuser

„Der Begriff wird instrumentalisiert“

Der Historiker Manfred Kittel sagt, die militärische Reaktion Israels sei kein Völkermord – egal, wie man es dreht und wendet

Die Hamas wirft Israel Völkermord vor – das ist nicht der Fall, sagt der Regensburger Zeithistoriker Manfred Kittel. Im Interview mit Tilman A. Fischer erläutert er, wie die Rezeptionsgeschichte des Genozidbegriffs in Deutschland die Wahrnehmung militärischer Konflikte beeinflusst – nicht zuletzt auch in der Ukraine.

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In: Berliner Zeitung, 1. November 2023, S. 11.

Zur Definition des Völkermords

Der Historiker Manfred Kittel analysiert den Genozid-Begriff des polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin

Von Tilman Asmus Fischer

Der Begriff des Völkermords kann im politischen Diskurs der Bundesrepublik auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken. Wurde er in den frühen Jahren der Bonner Republik breiter verwendet, geschah dies späterhin – im Bewusstsein für das nicht relativierbare Menschheitsverbrechen der Shoa – zunehmend restriktiv. Unter dem Vorzeichen identitätspolitischer Bewegungen erfolgte dann jedoch in den vergangenen Jahren eine neue Öffnung – und erhielt der Begriff mithin seit dem Angriffskrieg der Russischen Föderation auf die Ukraine eine neue Brisanz.

Die dabei identifizierbaren „Unschärfen des Völkermordbegriffs in der deutschen Erinnerungskultur“ nimmt der Regensburger Historiker Manfred Kittel zum Ausgangspunkt seines neuen Buches. „Die zwei Gesichter der Zerstörung“ stellt den polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin mit dem von ihm entwickelten Genozid-Begriff ins Zentrum und zeichnet dessen Rezeption seit Konventionsbeitritt der Bundesrepublik 1954 nach. Den roten Faden stellt dabei die Frage nach der Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs dar, die von Lemkin selbst noch als Völkermord eingestuft worden war.

Entscheidend hierfür war sein Verständnis des Völkermords als der „Zerstörung einer ‚Gruppe als solcher‘“, die nicht erst mit der physischen „Ausrottung“ ihrer Mitglieder begann – es umfasste also, in Kittels Diktion, „Ausrottungsgenozide“ und „Zerstörungsgenozide“. Ganz in diesem Sinne definiert dann auch die UN-Genozidkonvention von 1948 Völkermorde als „eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: Tötung von Mitgliedern der Gruppe; Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“ sowie Maßnahmen der Geburtenverhinderung und die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.

Auf dem Weg zu dieser Definition hatte Lemkin sich bereits, wie Kittel nachzeichnet, mit Bedenken der Vertragspartner des Potsdamer Abkommens auseinanderzusetzen, die mit Blick auf die innereuropäischen – aber auch außereuropäischen – Bevölkerungstransfers dieser Jahre Komplikationen befürchteten. Und so mussten Lemkin und seine Mitstreiter dann auch in Fragen eines „kulturellen Völkermordes“ sowie der Verfolgung politischer Gruppen Abstriche in ihrer – ursprünglich noch umfassenderen – Genozid-Defintion hinnehmen. Der von Kittel gebotene Einblick in die Lemkinsche Position gewinnt besondere Tiefe durch ihre biographische Herleitung. Dabei macht der Verfasser deutlich, dass für Lemkin nicht nur die Shoa, sondern ebenso die älteren Erfahrungen des „defizitären Minderheitenschutz der Völkerbundszeit“ in Mitteleuropa prägend waren. In Reaktion hierauf glaubte Lemkin „an die Einzigartigkeit menschlicher Kulturen und die Notwendigkeit ihres Schutzes, ob es sich dabei um jiddische Schtetl oder die Ureinwohner beider Amerikas handelte“.

Daher konnte er, wie Kittel anhand von detaillierter Quellenarbeit zeigt, in der Diskussion um den Beitritt der Bundesrepublik zur Genozidkonvention dezidiert damit argumentieren, dass diese sich nicht zuletzt auch auf die Vertreibung der Deutschen anwenden ließe – was seinerzeit den Bundestag von SPD bis CDU/CSU überzeugte. Zur Gesamtheit des von Kittel rekonstruierten Bildes gehört dann freilich auch, dass – nicht zuletzt unter dem Vorzeichen der neuen Ostpolitik – die Bundesrepublik von einer „systematische Ermittlung“ der im Zusammenhang mit der Vertreibung begangenen Verbrechen absah.

Vor dem Hintergrund dieser Ausgangslage vollzieht Kittels Studie die zunehmende diskursive „Gleichsetzung von Völkermord und Holocaust“ und die dazu komplementäre „Randposition der Vertreibung in der neuen Genozidforschung seit den 1980er Jahren“ nach. Dabei geht er hinsichtlich der Debatte im deutschsprachigen Raum sowohl auf rechtsradikale Versuche einer Instrumentalisierung des Völkermord-Begriffs als auch auf Diskursverengungen durch politisch linksstehende Akteure ein und weitet sodann den Blick auf die Lemkin-Rezeption in der globale Genozidforschung, die sich zwischen „sachlicher Kritik und moralpolitischer Zensur“ bewege.

Anhand der – freilich nicht einheitlichen – juristischen Bewertung der „ethnischen Säuberungen“ auf dem Balkan in den 1990er Jahren veranschaulicht Kittel das Fortbestehe eines „breite[n] Begriff des Völkermords in der deutschen und internationalen Rechtsprechung“. Erst durch den „Wandel des Genozidbegriffs“ im Kontext der Kolonialgeschichtsforschung und der hieraus resultierenden „Anerkennung des Völkermordes an den Herero 2021“ – bzw. zuvor bereits durch diejenige des Völkermordes an den Armeniern – sieht Kittel Bewegung in die erinnerungskulturelle Debatte kommen. Dass diese weiterhin nicht frei von Ambivalenzen ist, zeigt die Anerkennung des Holodomor als Völkermord bei gleichzeitiger Zurückhaltung, diesen Begriff auf das gegenwärtige Vorgehen Putins anzuwenden.

Wenn Kittel dezidiert für die Einstufung ethnischer Vertreibungen als Zerstörungsgenozide plädiert, eröffnet dies den Weg, unter diesen Begriff sowohl die historischen Verbrechen an den Herero als auch folgerichtigerweise die Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs zu fassen, ohne den Ausrottungsgenozid der Shoa hierdurch zu relativieren. Letztlich verfolgt Kittels Buch jedoch nicht nur ein erinnerungs-, sondern mithin auch ein menschenrechtspolitisches Anliegen – nicht zuletzt mit Blick auf die Ukraine und eingedenk der IS-Gräueltaten an den Jesiden. So betont er bereits einleitend:  Der „originäre Genozidbegriff Lemkins [besitzt] nicht zuletzt den Vorteil, eher bereits präventiv zum Schutz ethnischer oder religiöser Gruppen ‚als solcher‘ gegen drohende oder laufende Angriffe eingesetzt werden zu können, selbst wenn diese nicht auf eine vollständige körperliche Ausrottung abzielen.“

Manfred Kittel: Die zwei Gesichter der Zerstörung. Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen (Forschungen zur Geschichte ethnischer Vertreibung, Band 1). Dunker & Humblot, Berlin 2023, 181 Seiten, EUR 19,90.

Erschienen am 19. Oktober 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).