Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“

Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“ der Deutschen Gesellschaft e.V. – in Kooperation mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen sowie der Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland – für junge Spätaussiedler, Nachfahren von Heimatvertriebenen und Angehörige der deutschen Minderheiten. In der Veranstaltung werden die Beiträge der Preisträgerinnen und Preisträger vorgestellt und gewürdigt. Durch den Abend führt Tilman A. Fischer.

Buchvorstellung „Die zwei Gesichter der Zerstörung. Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen“ (von Prof. Dr. Manfred Kittel)

Programm:

Grußworte: Thomas Konhäuser, Geschäftsführer der Kulturstiftung Dr. Florian R. Simon, Verleger (Duncker & Humblot)

Einführung: Tilman A. Fischer, Theologe und Journalist, Berlin

Buchvorstellung: Manfred Kittel, Professor für Neuere und Neueste Geschichte und ehem. Gründungsdirektor der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Berlin/Regensburg

Kommentar: Dr. Christean Wagner, Hessischer Kultus- und Justizminister a. D. und Vorsitzender der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, Wiesbaden

Diskussion: „Ethnische Vertreibungen zwischen Erinnerungskultur und Völkerrecht“

Moderation: Tilman A. Fischer

Schlussworte: Thomas Konhäuser

Versöhnung durch Wahrheit

Andreas Kalckhoff zeigt anhand des Postelberg-Massakers, wie Aufarbeitung von Vertreibungsverbrechen und ein gemeinsames „Entlügen“ der Geschichte gelingen können.

Die Forderung, gemeinsam die Geschichte zu „entlügen“, ist seit Jahrzehnten prägend für zivilgesellschaftliche Dialoge zwischen Deutschland und seinen ostmitteleuropäischen Nachbarn. Dies gilt, seitdem das bedeutungsgleiche Schlagwort „odkłamanie“ in der Oppositionsbewegung während der Zeiten der Volksrepublik aufkam, insbesondere für Polen. Aufgrund der (geschichts)politischen Rahmenbedingungen östlich der Oder gelingt dort das „Entlügen“ der eigenen Geschichte mit Blick auf die Ereignisse im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung der Deutschen am und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den vergangenen Jahren jedoch nicht in gleicher Weise, wie dies in Tschechien zu beobachten ist. Prominentestes Beispiel hierfür ist der – auch über einschlägig interessierte Kreise hinaus bekannte – Gedenkmarsch, mit dem die Stadt Brünn seit 2015 jährlich des Brünner Todesmarsches gedenkt. Ein weiteres Zeugnis dieser Entwicklungen ist das im vergangenen Jahr erschienene Buch „Was geschah in Saaz und Postelberg im Juni 1945? Geheime Dokumente und Zeitzeugenberichte enthüllen das Unfassbare“ von Andreas Kalckhoff.

Es befasst sich mit dem Massaker, das in den ersten Juni-Tagen des Jahres 1945 im nordböhmischen Postelberg an 763 deutschen Zivilisten – Männern, Frauen und Kindern – verübt wurde. Die Opfer stammten hauptsächlich aus Saaz und waren im Rahmen der Vertreibungsmaßnahmen nach Postelberg verschleppt worden. Zunächst zwei Jahre später von einer tschechischem Parlamentskommission untersucht, wurde das Massaker in den Jahren der kommunistischen Gewaltherrschaft tabuisiert. Erst mehrere Jahre nach der Demokratisierung Tschechiens wurden die – inzwischen verstorbenen und juristisch nicht zur Rechenschaft gezogenen – Verantwortlichen ermittelt. Sowohl in der deutschen als auch in der tschechischen Medienöffentlichkeit fand das historische Verbrechen gleichwohl große Aufmerksamkeit. Dies dokumentiert das Buch ebenso wie Quelletexte, Berichte von Zeitzeugen und umfangreiches Bildmaterial.

Mit dem nun erschienenen Band werden einer breiten Öffentlichkeit die Forschungsergebnisse des Autors Andreas Kalckhoff zugänglich gemacht, die 2013 unter dem Titel „Versöhnung und Wahrheit. Der ‚Fall Postelberg‘ und seine Bewältigung 1945-2010“ durch den Heimatkreis Saaz herausgegeben worden waren. Die nun erschienene neubearbeitete Dokumentation bietet die Texte sowohl deutschsprachig als auch in einem von Otokar Löbl und Petr Šimáček übersetzten und redigierten tschechischen Teil (bzw. im tschechischen Original). Durch diese strikte Zweisprachigkeit erhält das Anliegen der historischen Wahrhaftigkeit eine besondere Überzeugungskraft, da das Buch so in die erinnerungskulturellen Diskurse sowohl des deutschen als auch des tschechichen Sprachraums hineinzuwirken und dort Diskussionen anzuregen vermag. Faszinierend an dem Buch ist das von ihm eröffnete und fruchtbar gemachte Spannungsfeld, das dadurch entsteht, dass dreierlei miteinander ins Gespräch gebracht wird: staatliche tschechische Quellen, Berichte Überlebender sowie Dokumente der Aufarbeitung und Verständigung in den vergangenen Jahrzehnten.

In seinem Vorwort arbeitet der tschechische Publizist Jiří Padevět die Tragweite der historischen Ereignisse sowie die inneren Wiedersprüche heraus, die beim Umgangs mit ihnen in den folgenden Jahren deutlich geworden sind:

„In Postelberg ging es weder um den Ausbruch des Volkszorns noch um Hinrichtungen, die ein Gericht angeordnet hatte, sondern um Morde, ausgeführt durch Armeeangehörige. Um Morde, zu denen Offiziere Befehle erteilen mussten. Es ist paradox, dass derselbe Staat, dem diese Offiziere unterstanden, die Umstände des Massakers zwei Jahre später zu untersuchen begann und die sterblichen Überreste der Opfer exhumieren ließ. Bemühungen um [eine] Erklärung für das Geschehene, das wir in der heutigen Terminologie unzweifelhaft als ethnische Säuberung bezeichnen würden, wurden im Februar 1948 mit der Machtübernahme durch die Kommunisten beendet. Über den Toten und den Mördern aus Postelberg schlossen sich die Wasser des Vergessens und wurden vom allumfassenden kommunistischen Schlamm des Schweigens aufgesaugt.“

Der erste und umfangreichste Teil – „‚Tatsächliche Gräueltaten‘: Die Massenexekutionen nach Kriegsende im Mai / Juni 1945“ – stellt sechs Quellentexte aus dem Kontext der innertschechisches Ermittlungen zu den Vorkommnissen in Saaz und Postelberg ins Zentrum. Deren Mehrheit steht im Zusammenhang mit der parlamentarischen Untersuchung im Juli des Jahres 1947. Das früheste dieser Dokumente ist ein Bericht zum polizeilichen wie nachrichtendienstlichen Kenntnisstand über die Ereignisse für Innenminister Václav Nosek vom 2. Juli 1947. Auf den 28. Juli datiert ist wiederum ein „Vorbericht zum Fall Postelberg und Saaz“, welcher der parlamentarischen Untersuchungskommission bei ihren am 30. und 31. des Monats durchgeführten Verhören vorlag. Dabei ist der Begriff „parlamentarisch“ irreführend, insofern sich die Kommission „aus fünf Abgeordneten aus den Fraktionen der Volksfrontregierung, sechs Beratern aus den Ministerien und von der Volkspolizei sowie drei Geheimdienstleuten zusammensetzte“. Die unter Vorsitz von Dr. Bohuslav Bunža durchgeführten Verhöre sind in der Langfassung des stenographischen Protokolls dokumentiert. In Auszügen eröffnet das Buch – als viertes Dokument – Einblicke in das auf dessen Grundlage erstellte „Aussageprotokoll der Parlamentskommission“, das die einzelnen Aussagen zusammenfasst.

Neben den die parlamentarische Untersuchung dokumentierenden Texten steht zum einen ein am 13. August desselben Jahres an das Innenministerium ergangener Untersuchungsbericht zu den „Nachrevolutionsereignissen in Postelberg“. Zum anderen bietet die Dokumentation das Protokoll eines vier Jahre später – am 2. Mai 1951 – geführten Verhörs mit Vasil Kiš, das die Rolle von General Bedřich Reicin und Leutnant Jan Čubka beim Massaker von Postelberg beleuchtete: Letzterer – so der Zeuge – habe die Massenhinrichtungen befohlen und selbst durchgeführt, Ersterer habe von Ihnen Kenntnis gehabt. Beigegeben sind den Dokumenten einführende Aufsätze von Peter Klepsch und Herbert Voitl, von dem überdies zusätzliche kommentierende und kontextualisierende Texte stammen. Mit den Texten dieser beiden Autoren, die der Ermordung in Postelberg entgingen, dokumentiert Kalckhoff zugleich die Aufarbeitung des Massakers seitens der organisierten deutschen Heimatvertriebenen, was das von ihm aufgespannte Panorama um eine weitere Facette ergänzt.

Umso mehr gilt dies für das Mittel- und (so wird man zurecht sagen dürfen) Herzstück der Dokumentation, kommen hier doch die Opfer – Überlebende des Massakers – zu Wort: neben acht Saazern sind dies vier weitere Deutschböhmen aus dem Kreis Aussig. Während einer der Berichte – von Ottokar Kremen – nur fünf Jahre nach dem Massaker entstand, wurden die elf weiteren Berichte erst in den 2000er-Jahren, also mit einem größeren zeitlichen Abstand zu den Ereignissen aufgezeichnet bzw. verschriftet. Ergänzt werden die zwölf namentlich autorisierten Berichte um einen anonymen Text, der die Ermordung des Saazer Kapuzinerpaters Maximilian Hilbert am 7. Juni 1945 thematisiert. In seiner Vorbemerkung betont Kalckhoff den gewandelten Stellenwert, der den Zeitzeugenberichten –  dem zuvor einzigen und überdies aufgrund seines emotionalen und teils politisch aufgeladenen Charakters misstrauisch betrachteten Zeugnis der Ereignisse – durch die Auffindung und Publizierung der im ersten Teil dokumentierten Akten zukommt: „Sie sind nicht mehr umstrittene historische Primärquellen, denen man mit gemischten Gefühlen begegnet, weil ihre Behauptungen unbewiesen sind, sondern bildhafte und emotional bewegende Lebenszeugnisse, die nüchterne Akten farbig illustrieren – wenn auch auf schreckliche Weise.“ In ganz anderer, aber ebenso schrecklicher Weise leistet dies auch die – den zweiten Teil abschließende – Liste der Todesopfer im Saazer Land nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Hierbei bleibt Kalckhoff jedoch nicht stehen. Vielmehr stellt er, wie eingangs bereits erwähnt, den ersten beiden einen dritten Hauptteil zur Seite: „‚Diese Erniedrigung des Menschen‘: Scham, Gedenken und Versöhnung“. Hier kommt der Prozess des „Entlügens“ und der Versöhnung durch Wahrheit anhand der Jahre 1995 bis 2010 selbst explizit in den Blick. Dieser begann im Oktober 1995 mit der Veröffentlichung eines zweiteiligen umfangreichen Beitrags zum Massaker in der Zeitung „Svoboný HLAS“ und führte über vielfältige deutsch-tschechische Begegnungen – und immer wieder auch gegen Widerstände – bis zur Enthüllung einer Gedenktafel für die Opfer am 6. Juni 2010 in Postelberg. Man mag es bedauern, dass die Neuauflage der Dokumentation von Kalckhoff nicht genutzt wurde, um den letzten Hauptteil um Zeugnisse aus dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu ergänzen. Diese Lücke zur Gegenwart hin wird jedoch zumindest teilweise durch eine als „Nachlese“ in das Buch aufgenommene Reportage des tschechischen Historikers Jan Novotný aus dem Jahre 2017 geschlossen, der anlässlich des politisch fragwürdigen Abrisses der Postelberger Reiterkaserne, des Tatorts des Massakers, einen durchaus kritischen Blick auf den gegenwärtigen Stand des Postelberg-Gedenkens wirft: „An dem Ort, an dem Hunderte von Sudetendeutschen vor ihrem Tod konzentriert wurden und an dem sich nach Aussagen einiger Zeugen noch immer die Gräber der Opfer befinden, werden Familienhäuser mit Gärten stehen.“ Angesichts derartiger Entwicklungen zeigt sich die besondere Bedeutung von aktiven Prozessen des „Entlügens“ der Geschichte und einer daran anknüpfenden, auf Versöhnung zielenden Erinnerungsarbeit. Dokumentationen wie diejenige von Andreas Kalckhoff können hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten und Anregung geben – nicht zuletzt auch für entsprechende Initiativen in Polen.

Tilman Asmus Fischer

Andreas Kalckhoff, Was geschah in Saaz und Postelberg im Juni 1945? Geheime Dokumente und Zeitzeugenberichte enthüllen das Unfassbare / Co se stalo v Žatci a Postoloprtech v červnu 1945? Tajné dokumenty a svědecké odhalují nesrozumitelné události, Leipzig 2022, 529 Seiten, 49,80 Euro. ISBN 978-3-00-070731-5

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 3/2023.

Mehr Polen und Europa für die deutsche Erinnerungskultur

Der „Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen“ ist im Entstehen begriffen. Eine Diskussionsveranstaltung des Deutschen Polen Instituts ordnete ihn in den Kontext deutsch-polnischer Erinnerungspolitik ein.

Vor einem Dreivierteljahr hatte der damalige Bundeaußenminister Heiko Maas in Berlin das Konzept für den 2020 vom Bundestag beschlossenen „Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen“ vorgestellt. Die Umsetzung ebendieses Beschlusses dürfte Parlament und Regierung in der noch verhältnismäßig jungen Legislaturperiode beschäftigen. Die Entscheidung für den Polen-Ort geht auf eine in den Jahren zuvor etablierte und am Deutschen Polen Institut (DPI) angesiedelte zivilgesellschaftliche Initiative zurück, die die Errichtung eines Denkmals für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieg gefordert hatte. Geht es nach einem Konzeptpapier aus dem Vorjahr, sollen es gerade auch zivilgesellschaftliche Akteure sein, die den Polen-Ort mit Leben füllen. Vor diesem Hintergrund versprach die am 7. Juni vom DPI in der Europäischen Akademie Berlin durchgeführte Tagung „Rund um den ‚Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen‘“ Einblicke in die Entwicklungsperspektiven dieses Projektes zu geben. In besonderer Weise galt dies für die öffentliche Podiumsdiskussion, welche unter dem Titel „Erinnern für die Zukunft: Wie viel Polen, wie viel Europa braucht die deutsche Erinnerungskultur?“ das Vorhaben in seinen größeren geschichtspolitischen Kontext einordnete.

Eingeladen hatte das DPI hierzu Dr. Axel Drecoll, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und Leiter der Gedenkstätte KZ Sachsenhausen, Dr. Annemarie Franke, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa sowie wissenschaftliche Projektmitarbeiterin beim Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität, und Dr. Raphael Utz, Leiter der beim Deutschen Historischen Museum angesiedelten Stabsstelle Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ (ZWBE). Moderiert wurde die Debatte von DPI-Direktor Prof. Dr. Peter Oliver Loew. Dabei konnte dieser zugleich seine Expertise als Vertreter seines Instituts in der Expertenkommission zur Einrichtung des Polen-Ortes ins Spiel bringen, so dass sich die Diskussion als – nicht zuletzt für das Auditorium fruchtbares wie anregendes – kollegiales Fachgespräch vollzog, in das sich im zweiten Teil auch Publikumsgäste einbringen konnten.

Einleitend hob Loew hervor, dass das Anliegen des Polen-Orts deutlich größere Zustimmung in Gesellschaft und Politik gefunden habe, seit sich herauskristallisiert habe, dass es nicht „nur“ – wie im Falle der ursprünglichen Initiative – um ein Denkmal, sondern einen Ort der Erinnerung und Begegnung gehe. Entwickelt werden soll dieser im engen grenzüberschreitenden Austausch: Das „Gespräch muss entscheidender Bestandteil des Polen-Ortes sein“, steht für Loew fest. Dabei könne man an die Erfahrungen bei der Erarbeitung des deutsch-polnischen Schulbuchs anknüpfen, das inhaltlich sehr gelungen sei.

Wie jedoch soll Polen an den Gremien der im Entstehen begriffenen Institution konkret beteiligt werden? Diese – bekanntermaßen politisch wie diplomatisch sensible – Frage wurde aus dem Publikum an das Podium herangetragen, auch mit Blick auf das ZWBE. Hinsichtlich des Polen-Ortes gab Loew zu verstehen, dass gegenwärtig noch keine Klarheit über die Gremienbesetzung – und mithin über die Rechtsform der Institution – bestünde. In jedem Fall bedürfe es jedoch unterschiedlicher Gesprächskreise, die sich mit „symbolischem Erinnern“, „Ausstellung“ und „Wanderausstellungen“ befassten. Es sei wünschenswert, wenn der Ort im Prozess-Charakter bleibe und sich dynamisch weiterentwickle.

Für die konzeptionelle Ausrichtung des Polen-Ortes war von besonderer Bedeutung, dass Raphael Utz das künftige ZWBE vertrat, dessen Errichtung der Bundestag in zeitlicher Nähe zu seiner Entscheidung zugunsten des Polen-Ortes beschlossen hatte und mit ihm  eine nicht geringe inhaltliche Schnittmenge aufweist. Befürchtungen einer Konkurrenz zwischen den beiden und ggf. weiteren Institutionen konnte Utz jedoch zerstreuen. Vielmehr könnten sich die Orte ergänzen, wenn nur in vernünftiger Weise aufeinander verwiesen würde. Zudem habe das ZWBE ganz Europa – bzw. 27 von der deutschen Besatzungsherrschaft betroffene Staaten – im Blick. Hinsichtlich der Beteiligung internationaler Partner an den Gremien der Gedenkstätte gab Utz zu verstehen, man wolle keinen mit Botschaftern besetzten „internationalen Aufsichtsrat“, der zum Gegenstand er Interessen nationaler Erinnerungspolitiken werde. Er selbst habe bereits „Besuch von Vertretern der russischen Botschaft“ erhalten, die „klare Vorstellungen“ von der Gedenkstätte gehabt hätten. Anstelle von Vertretern der einzelstaatlichen Regierungen setze man vielmehr auf Vertreter aus der europäischen Zivilgesellschaft und Wissenschaft, die durch ein angegliedertes „Forum der Erinnerung“ bzw. im Haus angesiedelte Forschungsprojekte einbezogen werden sollten.

Axel Drecoll weitete den Blick nochmals, indem er auf die Wechselbeziehung zwischen Informationszentren wie dem Polen-Ort oder dem ZWBE und Gedenkstätten, die an konkreten historischen Orten an das dortige Geschehen erinnerten, nachzeichnete. Letztere seien auf erstere angewiesen, da diese der breiten Bevölkerung historisches Wissen vermittelten, das notwendig sei, um sich auf Gedenkstätten einlassen zu können. Es brauche solche Information, „damit Gedenkorte nicht erstarren“. Auch hier komme es letztlich auf eine funktionierende Verweisstruktur an. Aus dem Publikum vorgetragene Befürchtungen eines abnehmenden Interesses an Informations- und Gedenkorten infolge des zunehmenden zeitlichen Abstandes zum Zweiten Weltkrieg bewertete Drecoll als unbegründet, insbesondere da er beobachte, dass heute auch noch die inzwischen vierte Generation die Verfolgung ihrer Vorfahren als Teil der eigenen Familiengeschichte verstehe.

Ausgehend von den Erfahrungen der Gedenkstätte KZ Sachsenhausen, fragte Drecoll hingegen nach der „Grenze bei separaten Orten des Erinnerns“ für einzelne Opfergruppen: So seien in Sachsenhausen zwar zu einer großen Zahlen Polen inhaftiert gewesen – insgesamt seien jedoch Angehörige vieler Nationen unter den Opfern. In diesem Bewusstsein stelle sich die Frage, wie damit umgegangen werden solle, wenn – in Entsprechung zum Polen-Ort – auch andere Völker wie etwa die Ukrainer ihren eigenen „Ort“ forderten. Auf den „Knackpunkt“ der vielbesprochenen Opferkonkurrenz in geschichtspolitischen Debatten wies mit Blick auf den Polen-Ort auch Annemarie Franke hin. Zuerst nämlich – 2012 – war eine Gedenkstätte für die polnischen Weltkriegsopfer just in Reaktion auf die Einweihung des Mahnmals für die ermordeten Sinti und Roma gefordert worden. Damals habe Władysław Bartoszewski als polnischer Staatssekretär und außenpolitischer Berater Donald Tusks die staatliche Position Polens vertreten. Dass der Polen-Ort demgegenüber nun aus einer zivilgesellschaftlichen Initiative heraus entstanden sei, hält Franke für einen wichtigen Unterschied.

Wie jede gegenwärtige Veranstaltung zu ostmitteleuropäischen Themen stand auch die Diskussion zum Polen-Ort im Schatten des russischen Überfalls auf die Ukraine – so dass merklich die Gegenwarts- und Zukunftsdimension von Erinnerungskultur(en) hervortrat. Dass „heute Angriffskriege mit dem Zweiten Weltkrieg begründet werden“, zeige, so Decroll die Bedeutung von Gedenkstätten und historischer Bildung. Und wie Franke betonte, sei eine „gemeinsame Bewältigung der Folgen des Ukraine-Krieges“ gerade auch im Dialog zwischen Deutschland und Polen wichtig. Bei Begegnungen, wie sie der Polen-Ort ermöglichen solle, dürfe es nicht um beliebige Begegnungen gehen, sondern darum, „Impulse zu geben, mehr voneinander zu lernen“. Was es brauche, sei ein „Ort kritischer Begegnung auf Augenhöhe“.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: DOD – Deutscher Ostdienst 3/2022 und Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 3/2022.

Reflexion existenzieller Fragen

„Wir haben Menschen Einsamkeit zugemutet, um andere vor Krankheit oder Tod zu schützen. Wir haben unser Leben einschränken müssen, um Leben zu retten.“ Mit diesen Worten reagierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner vielbeachteten Rede auf der Zentrale Gedenkveranstaltung für die Verstorbenen in der Corona-Pandemie auf eine kollektive Erfahrung, die sich mit der Pandemie bzw. ihrer Bekämpfung verbindet: Einsamkeit.

Solche Erfahrungen drängen auf Bewältigung – nicht nur, aber insbesondere am Ende des zweiten „Corona-Jahres“. Und womöglich bietet sich hierzu auch die Advents- und Weihnachtszeit in besonderer Weise an. Dies nicht nur, weil es die Zeit der Jahresrückblicke und medialen Bilanzierung ist. Vielmehr laden diese – nicht ohne Grund mit Begriffen des Kirchenjahres bezeichneten – Wochen dazu ein, ganz persönlich das Zurückliegende im Horizont des eigenen Lebens wie transzendenter Hoffnungen zu bedenken.

Bei einer solchen Reflexion existenzieller Fragen kann jede und jeder Begleiter gebrauchen. Einen solchen bietet aus christlicher Perspektive das Buch „Für sich sein“ der Theologen Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland, und Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie in Deutschland. Aufgrund ihrer jeweiligen Perspektiven sind sie prädestiniert dafür, dem komplexen Phänomen Einsamkeit in seinen individuellen, sozialen und theologischen Dimensionen auf lebensnahe Weise nachzugehen.

Dies gelingt ihnen in der Form eines „Atlasses der Einsamkeiten“: Zunächst bestimmen die Autoren in einer allgemeinen Einführung „Koordinaten der Einsamkeit“ und tragen damit zu einem umfassenden – und vor allem psychologisch fundierten – Verständnis von Einsamkeit bei. Auf dieser Grundlage erschließen sie das „Reich der Solitude“, „Zufluchtsorte des Für-sich-Seins“, die „Weiten der Loneliness“, die „Inseln der Isolation“, „Ankerplätze im Mahlstrom“ sowie „Wege und Orte der Befreiung“.

Jeder dieser Abschnitte bündelt einzelne, im Zusammenhang wie für sich lesbare Kapitel, die den Leser mit unterschiedlichsten Orten vertraut machen – Orte im weiteren Sinne des Wortes, also auch Situationen, Konstellationen und Menschen, die sich in diesen bewähren: Es begegnen Meister Eckhart in mystischer Abgeschiedenheit oder Caspar David Friedrich am Meer, es werden aber auch Einblicke in die moderne Gefängis-Seelsorge gegeben. Damit folgt „Für sich allein“ dem bewährten Muster von Claussens vorangegangenem Buch „Die seltsamsten Orte der Religion“.

Gleichfalls in der Tradition von Claussens Büchern steht der „Atlas der Einsamkeiten“ auch dahingehend, dass der Zusammenhang von Zwangsmigrationen – „Flucht“ als „Menschheitsgeschichte“ – zur Sprache kommt und dabei auch das deutsche Vertreibungsschicksal thematisiert wird. An dieser Stelle sind es nun die ostpreußischen Wolfskinder, die hier in ihrer „Erinnerungseinsamkeit“ ins Licht treten. Gerade auch wegen solcher Kapitel lohnt sich die eingehende Beschäftigung mit  diesem Buch allemal.

Tilman Asmus Fischer

Johann Hinrich Claussen / Ulrich Lilie, Für sich sein. Ein Atlas der Einsamkeiten, München: Beck, 2021, 248 S. mit 8 Illustr., Klappenbroschur, 18,00 – ISBN 978-3-406-77488-1

O. T . erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2021.

Charta der deutschen Heimatvertriebenen und Lastenausgleichsgesetz – Erfolgsgeschichte und Modell?

Online-Diskussionsveranstaltung des Bundes der Vertriebenen mit Prof. Dr. Manfred Kittel und Dr. Bernd Fabritius. Moderation: Tilman Asmus Fischer.

Aufgezeichnet am 25. November 2021 in der Hauptstadtvertretung des BdV im Deutschlandhaus. Die Veranstaltung wurde gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung.

Auf ein Wort: Erinnerungskultur ist Demokratieförderung

Von Lucas Koppehl und Tilman A. Fischer

Identitätspolitik ist heute in aller Munde. Die Deutungshoheit über dieses Thema ist wohl Gegenstand der schärfsten Debatten des Jahres 2021. Seien es Geschlechterfragen, koloniale Überbleibsel oder die Verortung unseres nationalen Selbstverständnisses – von rechts wie links ein Minenfeld. Es zeigt sich: Debatten tun not. Die Schärfe des aktuellen „Diskurses“ zeigt hingegen, wie groß die Ängste verschiedener Teile der Gesellschaft vor der künftigen Gestalt unseres Landes und seiner künftigen Legitimationsbezüge sind. Denn nicht erst seit George Orwells „1984“ wissen wir „Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit. Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft.“

Unser Land hat also wieder einmal Selbstzweifel. Was lapidar klingt, hat doch einen ernsten Kern. Denn Identitätspolitik kommt eben ohne Erinnerungspolitik nicht aus. Erinnerungskultur hingegen legt fest, welche Werte in unserer Demokratie Konsens sind und welche nicht. Nach Ansicht der Autoren kommen bei erinnerungspolitischen Debatten in Deutschland jedoch jene Kräfte oft zu kurz, die selber über einen reichen Schatz an historischen Erfahrungen verfügen, – oder sie melden sich gleichsam zu wenig zu Wort. Dabei hätten sie viel beizutragen.

Hierbei geht es sowohl um Repräsentanten einer demokratischen Tradition unseres Landes, die durch die Wirren der deutschen Geschichte nicht belastet sind, als auch um solche, die in einer authentischen Weise für eine deutsche Lerngeschichte stehen, die aus ebendiesen Wirren Einsichten gewonnen und Konsequenzen gezogen hat. Zu den erstgenannten Akteuren gehört das 1924 von den Parteien der Weimarer Koalition gegründete Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold; zu den zweitgenannten ein Gutteil der – nach der Unheilsgeschichte von Rassenwahn und ethnischen Säuberungen – auf Versöhnung und europäischen Ausgleich orientierten Interessenverbände der deutschen Vertriebenen.

(Foto: Cezary Piwowarski)

Das Reichsbanner wurde am 22. Februar 1924 auf Betreiben der SPD zusammen mit der liberalen Deutschen Demokratischen Partei und der katholischen Zentrumspartei gegründet. Schnell entwickelte es sich zu einer Massenorganisation mit mehr als drei Millionen Mitgliedern. Neben fünf Reichskanzlern waren bekannte Mitglieder unter anderem Philip Scheidemann, Otto Wels, Julius Leber, Fritz Bauer, Paul Löbe und Theodor Heuss – aber auch etwa der im westpreußischen Kulm geborene Kurt Schumacher. Das Reichsbanner kann heute für sich reklamieren, stets auf der Seite der Freiheit, der Demokratie und der Republik gestanden zu haben. Dem Kampf gegen Nationalsozialisten, Kommunisten und Monarchisten, die die Republik von Anfang an erbittert bekämpften, fielen etliche seiner Mitglieder zum Opfer – zumal nach der Machtübertragung auf Hitler, gegen den viele der Reichsbannermänner im Untergrund Widerstand leisteten.

Der nach wie vor bestehende Verband vereint auf Grund dieser Vergangenheit wohl wie kaum eine andere politische Organisation in Deutschland Geschichte, Gegenwart und Zukunft in sich. Auf Grund der am eigenen Beispiel erlebten Erfahrungen sowie seiner Demokratie- und Freiheitstraditionen, die über die Weimarer Zeit bis zur 1848er Revolution zurückreichen, kann das Reichsbanner bei drohenden Aushöhlungen der demokratischen Verfassungsordnung heute wohl mit besonderer Glaubhaftigkeit mahnen.

Für diese Verfassungsordnung stehen ebenso glaubwürdig die Organisationen der deutschen Heimatvertriebenen ein. Vor dem Hintergrund der Folgen, die Nationalismus und politischer Extremismus – in die auch Mitglieder aus den eigenen Reihen verstrickt waren – über Europa gebracht hatten, bekannten sie sich 1950 in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen nicht nur zum Verzicht „auf Rache und Vergeltung“, sondern ebenso zur „Schaffung eines geeinten Europas […], in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können“. Ihr Versprechen, „durch harte, unermüdliche Arbeit“ teilzunehmen „am Wiederaufbau Deutschlands und Europas“ bedeutete zugleich ein Bekenntnis zu einem demokratischen Deutschland, für das die deutschen Heimatvertriebenen – und Spätaussiedler – mit einer wachsenden Zahl an Unterstützern und Interessierten aus ihrem Umfeld bis heute eintreten.

Erinnerungspolitisch legt das Reichsbanner ebenso wie die deutschen Heimatvertriebenen besonderen Wert auf eine Politik, die selbstbewusst auch auf die positiven Teile und Traditionen der deutschen Geschichte aufmerksam macht. Dabei stehen die Revolution von 1848/1849 und die Paulskirche nicht nur für das Fanal des deutschen Parlamentarismus, sondern ebenso für ein Bekenntnis zur nationalen Einheit, das nicht Feindschaft, sondern Solidarisierung mit den Nachbarvölkern – und hier insbesondere dem polnischen Volk – begründete. Hinzu treten die demokratischen Errungenschaften der Weimarer Republik und der vielfältige Widerstand gegen den Nationalsozialismus sowie der Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953. Die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung Deutschlands in einem geeinten Europa, an denen nicht zuletzt Deutsche mit Wurzeln im Osten Europas Anteil nahmen, bilden jüngere Bezugspunkte eines positiven Selbstverständnisses.

Die Gegnerschaft zu politischem und religiösem Extremismus ist das Eine, das positive Bekenntnis zu unserem Land und zu unserer Demokratie ist das Andere. Denn aus den Geschehnissen in Weimar ebenso wie aus den Verwerfungen der Geschichte Deutschlands mit seinen Nachbarn muss die Lehre gezogen werden, dass der demokratische, republikanische deutsche Staat überzeugte Unterstützerinnen und Unterstützer braucht, die diesen Staat nicht nur als notwendiges Übel ansehen, sondern als positiven Wert an sich begreifen. Dies muss stets im Mittelpunkt allen erinnerungspolitischen Bemühens stehen.

Lucas Koppehl ist Bundesgeschäftsführer des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, Bund aktiver Demokraten e.V.

Tilman A. Fischer ist Vorstandsbeauftragter der Westpreußischen Gesellschaft – Landsmannschaft Westpreußen e.V.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 3/2021.

Vielfältige Präsenz des Religiösen

Während die Pandemie das physische Reisen derzeit stark einschränkt, bietet es sich an, im Kopf zu fernen Zielen aufzubrechen. Ein Reiseführer des evangelischen Theologen Johann Hinrich Claussen nimmt den Leser mit zu den seltsamsten Orten der Religionen

Von Tilman Asmus Fischer

„Die beste, bildungsreichste und zugleich umweltschonendste Art des Reisens ist immer noch das Lesen.“ Und in Zeiten einer Pandemie wie der gegenwärtigen – so möchte man Johann Hinrich Claussen zustimmend ergänzen – auch die sicherste, zumindest abhängig vom potenziellen Reiseziel. Das neueste Buch des Theologen und Kulturbeauftragten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland richtet sich an – im ursprünglichen oder literarischen Sinne – reisefreudige Leser, die „religiös musikalisch“ gestimmt mit offenen Augen durch die Welt gehen. Entgegen der immer wieder vorgetragenen Säkularisierungsthese spürt dieses ganz eigene Reisebuch der vielfältigen Präsenz des Religiösen und dessen lebensweltlicher Bedeutung auf allen Kontinenten nach. Indem es auf diese Weise die Religion als eine „Angelegenheit des Menschen“ (Johann Joachim Spalding) ausweist, steht es in der besten kulturhermeneutischen Tradition liberaler Theologie.

Hierzu nimmt Claussen seine Leser mit auf eine Reise zu 42 Orten, welche er als „Die seltsamsten Orte der Religionen“ markiert. Wer hinter diesem Titel ein obskures Raritätenkabinett vermutet, täuscht sich. Claussen spielt zwar mit der Idee des „Exotischen“, bedient jedoch keinerlei Exotismus. Vielmehr geht es ihm darum, anhand von Orten, die vom Verständnis „normaler“ Religiosität einer deutschen Leserschaft abweichen, sowohl auf die Breite möglicher Formen von Religion hinzuweisen als auch eben das eigene Verständnis von „Normalität“ zu hinterfragen.

Daher fasst er zuallermeist in den 20 Kapiteln je zwei oder drei dieser Orte unter thematischen Gesichtspunkten zusammen und bezieht dabei fast durchgehend je auch ein Beispiel aus dem deutschen Sprachraum ein, welches von der scheinbaren „Normalität“ abweicht. So beschreibt er etwa in dem Kapitel über „Verstecke des Überlebens“ neben dem portugiesischen Ort Belmonte, in dem heute die letzten Nachfahren der geflohenen iberischen Juden leben, auch den Schweizer Mont Soleil. Auf diesem hatte der katholische Bischof von Basel an der Wende zum 18. Jahrhundert ursprünglich von Berner Reformierten verfolgten Täufern Asyl gewährt – freilich unter Auflagen: „Die Täufer durften nur auf einer Höhe ab 1 000 Metern wohnen.“

Das Spektrum, welches Claussen unter dem Stichwort „religiöser Orte“ eröffnet ist breit und anregend: Neben Kirchen und anderen Gotteshäusern kommen Gedenkorte für Terroranschläge (in Nizza und Berlin), religiös gedeutete Naturgegebenheiten (wie der Druiden-Baum von Herchies, Belgien) und Landschaften (etwa der Tempel des unendlichen Grüns im japanischen Kokedera) ebenso zur Geltung wie „religiöse Städte“ (etwa das Himmlische Jerusalem in Nkamba, Kongo) und virtuelle Orte wie Onlineplattformen der Post-Evangelicals in den USA.

Die Offenheit, mit welcher der Verfasser den unterschiedlichen Gestalten religiöser Kultur begegnet, ermöglicht ihm unter anderem, zu einer neuen Wertschätzung eines Phänomens zu gelangen, das hierzulande bereits seit langer Zeit lediglich belächelt wird: der Volksfrömmigkeit. Ein faszinierendes Beispiel hierfür ist der litauische Wallfahrtsort Kryžiu kalnas (Berg der Kreuze): „an die hunderttausend Kreuze“, so Claussen, „aus Metall, Holz oder Stein, einige roh zusammengeschweißt oder -genagelt, andere recht kunstvoll gestaltet, mit der Gestalt des Gekreuzigten und ohne, mit Inschriften in vielen Sprachen, die großen Kruzifixe über und über mit Rosenkränzen und kleineren Kreuzketten behängt. Ein Weg und dann eine Holztreppe führen mitten durch dieses katholische Symboldickicht zu einer Marienfigur oben.“ Seit dem 19. Jahrhundert gedenken die Litauer hier ihrer gefallenen Freiheitskämpfer – zuletzt in der Auseinandersetzung mit dem Sowjetkommunismus.

Mit bestimmten Orten berührt Claussen Formen von Religiosität, die der Volksfrömmigkeit verwandt erscheinen, aber doch in einem hohen Maße von Individualität – vielleicht auch einem gewissen Eigensinn – geprägt sind. Das gilt etwa für die „Sakralbauten von Eigenbrötlern“. Hier erinnert der Verfasser etwa an Väterchen Timofej, der sich noch während des Zweiten Weltkriegs aus Russland aufmachte, um in München (auf dem Gelände des heutigen Olympiaparks) die Ost-West-Friedenskirche zu errichten, in der er bis zu seinem Tod im Jahr 2004 täglich die orthodoxe Liturgie feierte und mit den Menschen, die zu ihm kamen, sprach – ohne je Theologie studiert zu haben oder von einer orthodoxen Kirche anerkannt worden zu sein.

„Die seltsamsten Orte der Religionen“ führt allerdings nicht nur den Reichtum der Weltreligionen vor Augen. Das Buch verweist auch auf zweierlei anderes: auf bedrohte wie auch auf fragwürdige Religiosität. In erster Hinsicht sind etwa die uigurischen Heiligenschreine von Xinjiang bedeutsam, die vom rotchinesischen Regime in seinem Kampf gegen die autochthonen Muslime angegriffen werden: „Aus scheinbarem Respekt vor den Uiguren erkennt sie [die Pekinger Zentralregierung; TAF] bedeutende Moscheen und Schreine als ,Stätten des kulturellen Erbes‘ an. Damit verwandelt sie diese lebendigen religiösen Orte in Museen und entzieht sie ihrer eigentlichen Nutzung.“ Als Beispiel für den zweiten Gesichtspunkt gilt eines der beliebtesten Ausflugsziele der Deutschen: die Bad Meinberger Externsteine. Detailliert zeichnet Claussen ihre Inszenierung als Kultstätte germanischer Religion nach, wie sie vor allem im Nationalsozialismus propagiert und noch heute von Rechtsextremisten gepflegt wird.

Im Falle einzelner Orte kann das Buch beim Leser freilich den Wunsch nach einer kritischeren Thematisierung theologischer Anfragen an deren religiösen Charakter hinterlassen. Dies gilt im Besonderen für den Tierfriedhof Hamburg-Jenfeld. Im Anschluss an die Betrachtung der dort gepflegte Trauerkultur wirft Claussen die Frage auf: „Wenn Menschen also um einen Hund oder eine Katze aufrichtig trauern, sollte man dann als Pastor den Abschied nicht aus seelsorgerlichen Gründen begleiten?“ Hier dürften sich allerdings durchaus weitergehende Fragen aufdrängen: Welche Konsequenzen hat eine – zumal religiös eingekleidete – „Vermenschlichung“ der tierischen Mitgeschöpfe für ein sachgemäßes und verantwortliches Verhältnis des Menschen zu sich selbst wie eben auch zum Tier? Und welche möglichen Interventionen ergeben sich hier aus der Perspektive des christlichen Begriffs von Mensch und Schöpfung?

Beschlossen wird das Buch von einem Ort, der dem Verfasser besonders wichtig gewesen zu sein scheint, widmet er ihm doch als einzigem ein Kapitel für sich. Immerhin kennzeichnet Claussen diesen Ort – mitten im Grenzdurchgangslager Friedland – auch als ein Unikum: „Mittendrin, ganz unauffällig, befindet sich die ,Evangelische Lagerkapelle‘, wie auf einem Schild in altertümlicher deutscher Schrift über dem schlichten Eingang zu lesen ist. Doch so bescheiden sie sich gibt, stellt sie dennoch etwas Einzigartiges dar. Denn kein anderes Aufnahmelager in Deutschland besitzt solch eine eigene Kirche.“ Es zeichnet Claussens „Reisebuch“ aus, dass es gerade auch zum Kennenlernen solcher auf den ersten Blick „unspektakulärer“ Orte einlädt – wie dieses nach dem Zweiten Weltkrieg für deutsche Ostvertriebene geschaffene Gotteshauses, dessen innere Gestalt von Werken der bedeutenden Erbauungskünstlerin Paula Jordan geprägt ist. Ein Besuch der werktags von acht bis 17 Uhr öffentlich zugänglichen Kapelle ließe sich gewiss auch mit einer Besichtigung des 2016 eröffneten Museums Friedland verbinden, welches die Geschichte des Aufnahmelagers dokumentiert.

Erschienen am 12. November 2020 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Johann Hinrich Claussen, Die seltsamsten Orte der Religionen, München 2020.

Von einem, der standhielt

Die Erinnerungen des Joachim Kardinal Meisner

Er gehörte zu den polarisierendsten und kontroversesten Persönlichkeiten des deutschen Katholizismus im 20. Jahrhundert: der Erfurter Weihbischof, Berliner Bischof und Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner (1933-2017). Die Schlachten um seine theologischen und kirchenpolitischen Positionen sind geschlagen, die Fronten waren früh – und sind teils über seinen Tod hinaus bis heute – verhärtet. Und so ist auch von den unlängst posthum erschienenen Lebenserinnerungen nicht zu erwarten, dass sie in die alten Debatten von Ökumene über Sexualethik bis Sakralkunst neue Dynamik bringen.

Jedoch vermögen sie womöglich – den Anhängern wie Kritikern des konservativen Frontmanns in der Deutschen Bischofskonferenz – zu erhellen, in welchem Maße Faktoren der Zeitgeschichte das theologische Profil und die Frömmigkeit eines markanten Kirchenführers der vergangenen Jahrzehnte prägten. Dies waren vor allem zum einen Flucht und Vertreibung, die für den gebürtigen Breslauer den Verlust seiner schlesischen Heimat bedeuteten, zum anderen die kommunistische Gewaltherrschaft in der SBZ/„DDR“, die Meisner als heranwachsender Katholik, Theologiestudent, Priester und Bischof in ihren unterschiedlichsten Facetten kennenlernte.

Rückblickend gelangt der Verfasser selbst zu einer klaren Interpretation der Bedeutung der Jahre bis 1989 für sein Wirkens im westlichen bzw. wiedervereinigten Deutschland: „Im Grunde waren diese Erfahrungen auch ein gutes Noviziat für später. Es hat uns immun gemacht gegen die Versuchungen der sogenannten freien Welt, die nicht aufgibt, einen Bischof zu sich hinüberzuziehen. Doch wenn er diesen Versuchungen erliegt, um es leichter zu haben, hat er nichts mehr in der Hand, weil er alles weggegeben hat. So wie Hans im Glück bleibt ihm dann nur noch ein Stein. Wer sich anpasst, kann gleich einpacken.“ Unbenommen der Frage, welche Berechtigung dem für diese Deutung konstitutiven Verfallsnarrativ mit Blick auf die ‚freie Welt‘ – also den Westen – zukommt: Die hieraus sprechende Prägekraft biografischer Erfahrungen für das theologische Profil Meisners findet nicht zuletzt darin Bestätigung, dass die Herausgeber der Erinnerungen (Meisners Testamentsvollstrecker Msgr. Markus Bosbach und die Journalistin Gudrun Schmidt, die Meisners Erinnerungen aufzeichnete und edierte) den Schlusssatz als Buchtitel ausgewählt haben.

Drei Grundlinien lassen sich für diese spezifische Prägung Meisners ausmachen: Zum einen betont Meisner eine spezifisch schlesische Frömmigkeit, die vor allem vor dem Hintergrund des protestantischen bzw. säkularen Umfeldes in Mitteldeutschland ab 1945 Strahlkraft gewinnt. Zum anderen arbeitet er die ideologischen und praktisch-politischen Konfrontationen zwischen Kirche und SED-Regime heraus. Zuletzt gewährt der frühere Berliner Bischof, der als solcher Grenzgänger zwischen Ost(-Berlin) und West(-Berlin) war, Einblick in die sich zumeist im Untergrund vollziehende Unterstützung der katholischen Kirche in den anderen Warschauer-Pakt-Staaten.

Im Zusammenhang mit dem eigenen Lebenslauf gibt Meisner immer wieder wichtige Hinweise zur Prosopographie des Klerus im ostzonalen Katholizismus. Neben Erinnerungen an einzelne Persönlichkeiten gilt dies im Besonderen für die sich aus der Gesamtschau ergebende Bedeutung ostdeutscher (und darunter vor allem schlesischer) Geistlicher für die katholische Kirche in der SBZ/„DDR“. Angesichts der Akribie, mit der Meisner ansonsten die entsprechenden Traditionslinien hervorhebt, erstaunt ein Bericht aus seiner Berliner Amtszeit (1980-1989): Nach dem behördlichen Verbot für katholische Jugendliche aus der „DDR“, wie zuvor mit polnischen Altersgenossen nach Tschenstochau zu wallfahrten, habe man sich entschieden „eine Wallfahrt von Berlin nach Rügen“ einzuführen, wo es freilich „nur eine kleine Kirche als Heiligtum gab“. Weder findet sich hier ein Hinweis darauf, dass der Bau der erwähnten Kapelle „Maria Meeresstern“ vor dem Ersten Weltkrieg von dem schlesischen Priester und späteren letzten deutschen Bischof des Ermlands Maximilian Kaller betrieben worden war; noch wird erwähnt, dass ebendiese Kapelle bereits auf eine kurze Wallfahrtstradition zurückblicken konnte, die 1951 von heimatvertriebenen Katholiken in der Diaspora begründet worden war. Sollte beides dem kundigen Katholiken und Schlesier Meisner unbekannt gewesen sein?

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: DOD – Deutscher Ostdienst 5/2020.

Joachim Kardinal Meisner, Wer sich anpasst, kann gleich einpacken. Lebenserinnerungen, Freiburg i. Br. 2020.