Eine Chance für Bildung und Verständigung

Die Union Evangelischen Kirchen plant die Rückkehr eines Kunstschatzes nach Danzig. Ein Gastkommentar

Von Tilman A. Fischer

Bereits seit Jahrzehnten zeigt das Lübecker Annen-Museum wechselnde Einzelstücke aus dem Danziger Paramentenschatz – kunsthistorisch bedeutende liturgische Gewänder aus vorreformatorischer Zeit, die sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Besitz der evangelischen Marienkirchengemeinde in Danzig befunden hatten. Deren letzter Pfarrer, Gerhard Gülzow, rettete die kostbaren Textilien vor der Kriegszerstörung. Deren einer Teil landete in Thüringen, von wo er bereits kurz nach dem Krieg nach Danzig verbracht wurde – freilich nicht in die Marienkirche, sondern rechtswidrig in den staatlichen Besitz des Nationalmuseums Danzig. Der andere Teil gelangte – ebenso wie übrigens viele vertriebene Danziger – nach Lübeck. Hier wird er im Annen-Museum als Leihgabe der Union Evangelischer Kirchen (UEK), der Rechtsnachfolgerin der Danziger Gemeinde, öffentlich präsentiert – ebenso wie Einzelstücke im Germanische Nationalmuseum in Nürnberg.

Am 8. Dezember 2022 teilte die UEK über eine Pressemitteilung mit, sich mit der heute katholischen Marienkirchengemeinde in Danzig in einem „Letter of Intent“ auf eine Rückkehr der Paramente an ihren Herkunftsort und in das Eigentum der katholischen Gemeinde verständigt zu haben – unter der Auflage einer adäquaten Präsentation sowie konservatorischen Betreuung und bei fortgesetzter Präsenz von Einzelstücken als Leihgaben in Lübeck und Nürnberg. Diese Entscheidung bietet eine große Bildungschance: Am historischen Ort kann ausgehend von dem Paramentenschatz die Bedeutung des gemeinsamen deutsch-polnischen Kulturerbes – sowie die gemeinsame bzw. geteilte Geschichte beider Nationen – der Öffentlichkeit sichtbar gemacht und erschlossen werden.

Überrascht von der Entscheidung wurden im vergangenen Jahr die noch lebenden Vertriebenen aus Danzig und dessen Umland – dem früheren Westpreußen – sowie ihre historisch interessierten Nachfahren, die von dieser Vereinbarung erst durch die Presse erfuhren. Umso erfreulicher war es, dass die UEK ein Jahr später, am 8. Dezember 2023, die Öffentlichkeit zu einer Informations- und Diskussionsveranstaltung ins Haus Hansestadt Danzig in Lübeck eingeladen hat. Hier kamen neben Mitgliedern des deutsch-polnischen Beirats, der die Rückkehr der Paramente begleitet, auch Vertreter der Vertriebenen und ihrer Nachfahren zu Wort. Aus deren Reihen wurden kritische Anfragen – teils auch eine klare Ablehnung des Vorhabens –, jedoch auch weiterführende Vorschläge formuliert wie die Schaffung einer europäischen Institution, die für Bewahrung und Präsentation der Paramente in Danzig verantwortlich sein solle.

Erfreulich klar bekannten sich sowohl der Prälat der Marienkirche, Ireneusz Bradtke, als auch der Danziger Kunsthistoriker Tomasz Torbus zur gemeinsamen deutsch-polnischen – mithin europäischen – Prägung der kulturellen Identität Danzigs. Der von deutscher Seite her den Beirat koordinierende Oberkirchenrat Martin Evang betonte in seinem Statement, dass die UEK seit jeher wiederholt erhobene Eigentumsansprüche des polnischen Staates auf Sakralkunst evangelischer Gemeinden aus den früheren, heute zu Polen gehörenden, Kirchenprovinzen stets abgelehnt habe. Die anvisierte Schenkung erfolge aus voller Freiheit – dies werde auch durch den zu unterzeichnenden Schenkungsvertrag nochmals festgeschrieben.

Der Autor dieses Beitrags selbst würdigte als Vertreter der Westpreußischen Gesellschaft die beabsichtigte Rückkehr der Paramente als Beitrag sowohl der deutsch-polnischen Verständigung im obigen Sinne als auch als einen solchen der Ökumene. Der Gesichtspunkt, dass die UEK ihr rechtmäßiges Eigentum aus freiem Willen schenke, sei dabei insofern bedeutsam, als diese Klarstellung davor bewahre, die Schenkung mit gegenwärtigen Diskurse um die Restitution von Raubkunst zu vermischen.

Zu hoffen ist, dass die Einbindung der Vertriebenen und ihrer Nachfahren auf dem weiteren Weg hin zur Rückkehr der Paramente fortgesetzt wird. Eine solche Einbindung ist theologisch gut begründet: zum einen als Ausdruck der seelsorgerlichen Verantwortung gegenüber den betroffenen Mitgliedern der UEK-Gliedkirchen, zum anderen vom Selbstverständnis einer Kirche her, die sich als zivilgesellschaftlicher Akteur im Austausch mit anderen Kräften der Zivilgesellschaft versteht. Sollte dem Rechnung getragen werden, besteht Aussicht, dass die Rückkehr der Paramente tatsächlich zu Verständigung und Versöhnung beiträgt.

Tilman Asmus Fischer ist Vorstandsbeauftragter der Westpreußischen Gesellschaft – Landsmannschaft Westpreußen e.V. Der evangelische Theologe ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig.

Unter ähnlichem Titel erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 2/2024. Eine Kurzfassung erschien in: Evangelisch Zeitung (Schleswig Holstein) 2/2024.

Kirchenkritik ohne Tiefgang

Peter Mayer-Tasch arbeitet sich am Begriff der Gnade ab, ohne zu überzeugenden Schlussfolgerung zu kommen

Von Tilman Asmus Fischer

Einen „Beitrag zur Politischen Theologie“ möchte der Münchner Politikwissenschaftler Peter Cornelius Mayer-Tasch mit seinem heuer erschienen Essay „Von Glanz und Elend der Gnade“ leisten. Worin konkret soll dieser Beitrag jedoch bestehen?

Am Anfang steht die Faszination wie scheinbare Unzeitgemäßheit (angesichts einer sich als aufgeklärt verstehenden Moderne), die der Autor dem Begriff der Gnade beimisst: „Gnade – welch ein Wort! Ist es aber nicht auch ein eher in die Vergangenheit weisendes als der Gegenwart zugehöriges Wort?“ Ausgehend von der Wahrnehmung dieser Spannung unternimmt Mayer-Tasch „den Versuch, verschiedene Aspekte des individuellen und kollektiven (d. h. also sozialen und politischen) Umgangs mit dem Begriff der Gnade auszuloten“. An dessen Ende freilich steht das Plädoyer für eine docta ignorantia, die es erlaubt und gebietet, „die Wahrnehmung all dessen, was wir unter der Vorstellung von Gnade, Begnadung und Begnadigung verstehen mögen, in den Freiraum höchstpersönlicher Bewertungen zu entlassen“ – die es vor allem aber nahelegt, „die unverkennbare und unabweisbare Faszination und Magie dieses altehrwürdigen Begriffs wenigstens gedanklich sowohl dem Glanz als auch dem Elend menschlicher Machtkämpfe zu entziehen“.

Insbesondere letztes verdient – nimmt man den Charakter des Unverfügbaren ernst, den Gnade aus einer theologischen Perspektive trägt – volle Zustimmung, ebenso wie das grundsätzliche Anliegen zu begrüßen ist, einen nicht mehr selbstverständlichen, jedoch fortwährend in aller Munde geführten Begriff theorie- und kulturgeschichtlich zu erhellen. Umso bedauerlicher ist, dass die vom Autor gebotene Herleitung der Schlussfolgerung in besonderer Weise darunter leidet, dass er in ihrem Vollzug vornehmlich eine verkappte Kirchenkritik betreibt. Das geht nicht nur zulasten der Fokussierung auf das eigentlich in Frage stehende Phänomen; vielmehr fehlt zugleich der Kirchenkritik der – will man sie ernsthaft betreiben, notwendige – Tiefgang. Diese Schieflage deutet sich bereits darin an, dass Mayer-Tasch nicht mit der knappen Begriffsgeschichte, die von „Gnade als Inbegriff des Willkommenen“ ausgeht, einsteigt. Ihr voran stellt er vielmehr die Frage „Gnade – ein Anachronismus?“, um diese „angesichts einer sich ständig verschärfenden Krise der sich noch immer zur Gnadenvermittlung primär berufen fühlenden Institution“ – also der christlichen Großkirchen – abschlägig zu beantworten.

Das obsessive Verhältnis des Autors zur Kirchengeschichte setzt sich sodann im Kapitel „‚Gott‘ als Urquell jeglicher Gnade“ fort, das nach acht Seiten zur biblischen Begründung des Monotheismus – in denen statt von „Jesus (Christus)“ vom „Propheten aus Nazareth“ die Rede ist – gleich in die europäische und außereuropäische Religionsgeschichte abbiegt. Es schließt sich – Schlagwort Thron und Altar – ein Kapitel zum „‚Gottesgnadentum‘ als Herrschaftslegitimation“ an. Hieran knüpft Mayer-Tasch die Frage „Ein Gott von Kaisers Gnaden?“ an, unter die er die Dogmengeschichte der Alten Kirche stellt. Es ist schon fast rührend zu beobachten, wie sich der Autor des Duktus eines Aufklärers befleißigt – als wenn die Leserschaft durch ihn erstmalig über die Zusammenhänge von Theologie und Politik im Zusammenhang mit der Konstantinischen Wende und der Entwicklung des Nicäno-Konstantinopolitanums konfrontiert würden. „Vom Geheimnis der Gnade“ handelt der Autor abschließend in zweifacher Hinsicht: „rational“ und „metarational“, wobei erstes für ihn die Rekapitulation seiner zuvor geleisteten Dekonstruktion mit Fokus auf ein Kalkül gegenseitiger Stabilisierung von geistlicher und weltlicher Autorität bedeutet, zweites dann – folgerichtig – die ‚Inschutznahme‘ der Gnade vor einer dogmatisch-monotheistischen Vereinnahmung.

Mayer-Taschs Rhetorik lebt von Kurzschlüssen und deftigen Vergleichen: So funktioniert sein Vorwurf an das Christentum, dass die „Hoffnung auf einen jenseitigen Ausgleich diesseitiger Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zum soziokulturellen Allgemeingut wurde“, natürlich nur durch die Ausklammerung gegenläufiger theologie- und kirchengeschichtlicher Traditionslinien wie nicht zuletzt derjenigen der Befreiungstheologie. Geradezu abgründig sind die Motive für Parallelisierungen wie derjenigen, die Revolutionsführer des Irans würden „in einem ähnlichen Ringen bestimmt, wie dies in der katholischen Christenheit vom Konklave her bekannt ist“. Angesichts derartiger Unschärfen mag man dem Verfasser vor allem eines wünschen: gnädige Leser.

Peter Cornelius Mayer-Tasch: Von Glanz und Elend der Gnade. Ein Beitrag zur Politischen Theologie. Pustet-Verlag, Regensburg, 2023, 96 Seiten, EUR 18,–

Erschienen am 9. November 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Im Windschatten der Danziger Paramente

Anmerkungen zur Übergabe west- und ostpreußischer Kirchenglocken an ihre Heimatgemeinden durch die Diözese Rottenburg-Stuttgart

Im Windschatten der Auseinandersetzung um die beabsichtigte Übertragung des Danziger Paramentenschatzes durch die Union Evangelischer Kirchen an die Danziger Marienkirchengemeinde, kam es zu einem vergleichbaren Vorgang seitens der katholischen Kirche – konkret des Bistums Rottenburg-Stuttgart. Ende Juni übergab Bischof Dr. Gebhard Fürst in Begleitung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann drei Kirchenglocken an ihre west- und ostpreußischen Ursprungsgemeinden: in Dietrichsdorf (Kreis Stuhm), Frauenburg (Kreis Braunsberg) und Siegfriedswalde (Kreis Heilsberg). Diese waren auf Anordnung des nationalsozialistischen Regimes während des Zweiten Weltkriegs der Rüstungsindustrie zugeführt worden. Letztlich nicht eingeschmolzen, wurden sie – so wie ca. 1.300 andere Glocken – aus den deutschen Ostgebieten an westdeutsche Gemeinden verliehen.

Dass dieser Vorgang – wenn auch nicht in der Intensität wie im Fall der Paramente – auf Kritik aus den Reihen der deutschen Heimatvertriebenen und ihrer Nachfahren gestoßen ist, mag insbesondere an der Kommunikation seitens der Diözese liegen. Zwar werden in dem entsprechenden Bericht, den das Bischöfliches Ordinariat am 25. Juni online veröffentliche, die historischen Zusammenhänge präzise erläutert – insbesondere, dass es sich um Glocken „aus den ehemals deutschen Ostgebieten“ handelt. Dies wird jedoch – zumindest für den oberflächlichen Leser – dadurch verstellt, dass der Untertitel erklärt, Bischof und Ministerpräsident hätten die Glocken „zurück nach Polen“ gebracht. Mit der Rückkehr in ihre Heimatkirchen kommen die Glocken nun zwar selbstredend in das heutige Polen. Nach Polen kommen die Glocken jedoch nicht „zurück“, sondern erstmals. In einem Bericht vom Folgetag war dann dezidiert von „Glockenrückgaben“ die Rede. Im Falle der Paramente hatte die UEK demgegenüber explizit festgehalten, dass „nicht von einer Rückgabe, Rückführung oder Restitution die Rede, sondern von ihrer Rückkehr oder auch Heimkehr zur Marienkirche Danzig“.

Dass die Übergabe der Glocken dadurch motiviert ist, einen Beitrag zur Versöhnung zwischen Deutschen und Polen zu leisten, wird aus den entsprechenden Veröffentlichungen der Diözese deutlich. (Und hierzu gehörte für Bischof Fürst dann auch ein Gedenken an die deutschen Vertreibungsopfer am für sie errichteten Gedenkstein in Frauenburg.) Umso wichtiger wäre es, in diesen Zusammenhängen ebensolche Formulierungen zu vermeiden, die einen Akt der Versöhnung in Wiedergutmachungs- und Entschädigungsdiskurse einzulesen erlauben. Gelegenheit dazu, hier für mehr Klarheit zu sorgen, wird das Bistum in den kommenden Jahren haben, in denen es beabsichtigt, im Rahmen des Projekts „Friedensglocken für Europa“ „weitere Glocken in ihre Heimatgemeinden im heutigen Polen und Tschechien“ zu übergeben.

Tilman Asmus Fischer

Weitere Informationen zum „Friedensglocken“-Projekt finden sich hier: https://www.drs.de/friedensglocken.html

Erschienen in: Der Westpreuße – Unser Danzig. Landsmannschaftliche Nachrichten 3/2023.

Kunst in Zeiten des Krieges

Die Ukraine zu Gast im Bode-Museum Berlin

Von Tilman Asmus Fischer

„Und er stand auf, nahm das Kind und seine Mutter und ging nach Ägypten“ steht auf Ukrainisch in Anlehnung an Mt 2,13 am unteren Bildrand des Ölgemäldes „Flucht nach Ägypten“ von Alisa Lozhkina. Zu sehen ist es gegenwärtig – gemeinsam mit dem gleichnamigen Relief eines unbekannten Künstlers aus dem 15. Jahrhundert – im Berliner Bode-Museum. Dort haben ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine die Skulpturensammlung und das Museum für Byzantinische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin die Sonderpräsentation „Timeless. Contemporary Ukrainian Art in Times of War“ eröffnet. Noch bis Mitte März 2024 bringt das Haus Stücke der eigenen Sammlungen aus dem 4. bis 18. Jahrhundert mit Werken zeitgenössischer ukrainischer Künstler ins Gespräch. Entstanden sind diese in den Jahren 2014 bis 2022, also in acht der bisher neun Jahre des Krieges: von der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion über den Krieg im Donbas bis zum Angriffskrieg. Kuratiert wurde die Präsentation durch Olesia Sobkovych vom Kiewer Nationalen Museum der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg.

In ihren – abgesehen von einer Plastik – vornehmlich graphischen Werken bedienen sich die Künstler (neben den in diesem Artikel genannten, sind dies Serhii Druziaka, Oleg Gryshchenko, Serhii Lytvynov, Sergii Radkevych und Konstantin Sinitskiy) in einer Intensität Motiven und Themen aus der christlichen Kunstgeschichte, dass sich aus der Gegenüberstellung mit einzelnen Stücken der Berliner Sammlung ein spannungsvoller Dialog ergibt. So bearbeitet Lozhkina mit dem erzwungenen Heimatverlust ein Urthema der Menschheit und greift zudem dessen biblische Rezeption beim Evangelisten Matthäus auf. Dabei stellt sie – in einem Begleittext, wie er zu jedem der gezeigten Stücke den jeweiligen Künstler selbst zu Wort kommen lässt – in markanter Weise den hl. Josef ins Zentrum: „ein gewöhnlicher Mann, der dazu bestimmt wurde, der Beschützer der zwei wichtigsten Menschen im Universum zu werden“. Mit dieser Akzentsetzung geht es ihr zugleich um eine Deutung des Schicksals heutiger Flüchtlinge aus ihrem Heimatland: „Anders als die Helden aus der ‚Flucht nach Ägypten‘ hatten diese Frauen niemanden, der sie in einem fremden Land beschützte. Ich möchte daran glauben, dass die durch den Krieg getrennten Familien sich sehr bald vereinen, dass alle Flüchtlinge nach Hause zurückkehren und dass niemand jemals wieder vor dem bösen Herodes fliehen muss.“

Freilich, das dominante Motiv in den hier gezeigten Werken ist dasjenige der Gottesmutter: Oleksii Revika thematisiert in „Verlust, 2022-58“ das Schicksal der im Krieg gestorbenen Kinder in Form einer mit Kugelschreiber und goldenem Gel auf Papier geschaffenen Ikone, die Fragment bleibt, da der von Maria im Arm gehaltene Jesus ausgespart ist. In Alla Sorochans digital gestalteten Bild „Freiwilligenbewegung“ bildet das von ebendieser für das Militär gewebte Tarnnetz den Schutzmantel der Gottesmutter. Diese wird in Oleg Gryshchenkos gleichnamigem digitalen Werk ganz dezidiert zur „Schutzmantelmaria der Streitkräfte der Ukraine“. Maryna Solomennykovas „Ukrainische Madonna“ verarbeitet die reale – und in einem berühmt gewordenen Pressefoto dokumentierte – Geschichte von Tatjana Blizniak, die in der Kiewer Metro, geschützt vor russischem Beschuss, ihr Kind stillte.

Es sind in besonderer Weise die Marienbilder, die zeigen, wie – was für die anderen Werke in ihrer jeweiligen Weise ebenso gilt – Motive der christlichen Tradition für eine lebensdienliche Deutung der Gegenwart fruchtbar gemacht werden: Sie können Verlust und Schmerzen ebenso zum Ausdruck bringen wie Hoffnung, Fürsorge und Solidarität. Dabei regen die Bilder durchaus zu theologischen Rückfragen ein. Dies betrifft insbesondere die in den Werken verhandelte Verhältnisbestimmung von Letztem und Vorletztem. Das gilt für die Schutzmantelmadonnen von Sorochan und Gryshchenko ebenso wie für Matvei Vaisbergs Verarbeitung des Motivs des Erzengels Michael im Ölgemälde „Engel der Streitkräfte der Ukraine“. Hier erhält der – fraglos moralisch gerechtfertigte wie gebotene – militärische Widerstand gegen den unrechtmäßigen Angriffskrieg Russlands eine heilsgeschichtliche Aufladung, die durchaus diskutiert werden kann; dies umso mehr angesichts der Sakralisierung des Politischen, wie sie vor und seit Kriegsbeginn völlig zurecht mit Blick auf Russland kritisiert wird. Dass die Kunstwerke solche sensiblen Fragen aufwerfen, ist absolut zu begrüßen.

Bedauerlich ist, dass die Werke der ukrainischen Künstler nicht im Original gezeigt werden können. „Da es unter den aktuellen Umständen kaum möglich ist, ihre Gemälde, Graphiken und Skulpturen nach Deutschland zu transportieren“, so die Staatlichen Museen, „werden sie in der Ausstellung in Form von Fotoreproduktionen gezeigt.“ Dies ist nachvollziehbar – und letztlich ist jede Anstrengung anerkennenswert, trotz des von Kriegsterrors und gegen diesen den kulturellen Austausch zwischen den freien und demokratischen Zivilgesellschaften aufrecht zu erhalten. Dennoch ist das Gefälle, das zwischen den historischen und zeitgenössischen Kunstwerken entsteht, problematisch. So sind die modernen Werke – soweit sie nicht digital erstellt wurden – der Effekte beraubt, die sie entfalten könnten, wenn sie in ihrer vollen Materialität in Erscheinung träten. Zudem sind sie nicht konsequent in ihrer Originalgröße reproduziert – und mithin i.d.R. kleiner als die historischen Vergleichsobjekte. Dies ist umso bedauerlicher bei den digital erstellten Werken, bei denen eine größere Reproduktion per se problemlos hätte möglich sein sollen. Nimmt man nun hinzu, dass diejenigen Reproduktionen die mit historischen Skulpturen ins Gespräch gebracht werden sollen, auch noch hinter diesen an der Wand befestigt sind, legt sich die Formulierung nahe, dass die zeitgenössischen Kunstwerke hier letztlich in den Schatten ihrer historischen Pendanten gestellt sind. So handelt es sich bei dem dargebotenen „Dialog“ zwischen den einzelnen Stücken zumindest nicht um einen solchen auf Augenhöhe; vielmehr scheinen die Werke der ukrainischen Künstler in den Dienst der ‚großen Meister‘ gestellt zu sein, insofern ihnen zugestanden wird, diese zu kommentieren bzw. aktualisieren. Ob dies der notwendigen Wertschätzung für Zeugnisse künstlerischer Gegenwartsdeutungen in einer menschlichen wie politischen Extremsituation Genüge tut, ist fraglich.

Erschienen am 12. Oktober 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Den Frieden wagen

Friedensinitiativen sind in die Kritik geraten. Aber ist es wirklich naiv, sich für gewaltfreie Konfliktlösungen einzusetzen?

Unter dem Eindruck des Ukrainekrieges findet vom 10. bis 12. September das internationale Treffen der Gemeinschaft Sant’Egidio unter dem Motto „Den Frieden wagen“ statt. Teilnehmerin Antje Heider-Rottwilm, Vorsitzende von „Church and Peace“ und Pfarrerin im Ruhestand sprach mit Tilman A. Fischer über die Bedeutung aktiver Gewaltfreiheit und den gegenwärtigen friedensethischen Diskurs.

Welche Bedeutung hat das Welttreffen der Gemeinschaft Sant‘Egidio in Berlin?

Antje Heider-Rottwilm: Ich bin froh, dass Sant’Egidio gerade jetzt nach Berlin kommt. Für mich ist an der Gemeinschaft überzeugend, dass das globale Friedensengagement sich entwickelt aus dem konkreten Mitleben mit Menschen am Rande der Gesellschaft weltweit. Sie teilen mit anderen Gemeinschaften– wie etwa den Quäkern und Mennoniten– die Erfahrung gelebter Gewaltfreiheit und Konflikttransformation, wie sie etwa in Afrika seit Jahrzehnten praktiziert, wenn auch hier kaum wahrgenommen wird. Dies ist ein wichtiges Zeugnis hier in Berlin, gerade angesichts des Krieges in der Ukraine.

Dieser währt nun bereits im zweiten Jahr. Wie reflektieren Sie die dortigen Entwicklungen?

Die Befürchtung, dass es eine Eskalation in Bezug auf die Waffenlieferungen geben würde, hat sich bewahrheitet: Erst Munition, dann ging es um die Panzer – und immer gab es ein Zögern der deutschen Regierung, mit guten Gründe für die Zurückhaltung. Dann war jedoch der Druck so groß, dass man mitzog. Jetzt geht es um Kampfjets und Marschflugkörper, die sogar nuklear bestückt sein könnten.

Auch wenn man sich diese Eskalation von Anfang an eingestanden hätte: Die andere politische Option wäre doch gewesen, die Ukraine den Invasoren zu überlassen.

Wahrscheinlich ist verhindert worden, dass der russische Übergriff über die jetzigen Stellungslinien hinausgegangen ist. Aber es ist ein grausamer, brutaler Stellungskrieg, der jetzt in der Ukraine stattfindet. Das US-Verteidigungsministerium spricht von einer halben Million Menschen, die getötet oder verletzt wurden. Das ist unglaublich – und das muss uns, egal auf welcher Seite die Toten sind, zutiefst verstören und erschrecken. Für mich als Christin steht im Vordergrund: diese Trauer über die Opfer auf allen Seiten – auch die Wut auf dieses russische Regime, das sich nicht stoppen lässt. Aber natürlich auch Zweifel…

Woran?

Ob der Weg, der im vergangenen Jahr eingeschlagen wurde, der richtige ist, oder ob es Alternativen gegeben hätte. Damals habe ich gesagt, dass für viele von uns im europäischen Netzwerk von  „Church and Peace“ und in den deutschen Friedensgruppen die Suche nach Alternativen bereits vor Kriegsbeginn nicht glaubwürdig war und die Kompetenz von Friedensforschung und Konfliktprävention, die seit Jahrzehnten global entwickelt worden ist, nicht in dem Maße genutzt wurde, wie dies notwendig und verantwortlich gewesen wäre.

Schreibt sich diese Wahrnehmung fort?

Vom Anfang des Krieges an gab es Stimmen, die gesagt haben: Auch wenn das eine Katastrophe ist, was die russische Regierung da im Moment tut, auch wenn dieser brutale Überfall in keiner Weise zu akzeptieren ist, müssen wir trotzdem Wege suchen, einen Waffenstillstand zu erreichen, um dann alles weitere zu verhandeln. Es hat seit März letzten Jahres in der internationalen Politik eine Fülle von Vorschlägen für einen Waffenstillstand gegeben. Ich werde mich vor Schuldzuschreibungen hüten, aber die Themen „Waffenstillstand“ und „Friedensverhandlungen“ wurden in der Öffentlichkeit diskreditiert zugunsten der dominanten Frage nach militärischer Aufrüstung der Ukraine mit dem Ziel, Russland zurückzudrängen und zu schwächen.

Wenn ich Sie recht verstehe, diagnostizieren Sie quasi „blinde Flecken“ im deutschen Diskurs über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Durchaus. Mein Blick ist auf diejenigen Facetten dieses Krieges, in denen etwas wahrnehmbar wird, das gestärkt werden muss, und nicht erschlagen werden darf durch den Focus auf die militärischen Optionen. Ein Beispiel: Bereits im Sommer 2022 gab es eine Studie zu aktiver Gewaltfreiheit in der Ukraine, die über 200 Beispiele zivilen Widerstands seitens Ukrainerinnen und Ukrainern dokumentiert. Oder auch: Die Wohnung des Generalsekretärs der ukrainischen pazifistischen Bewegung, Dr. Yurii Sheliazhenko, der Kriegsdienstverweigerer unterstützt, wurde unlängst durchsucht. Er ist angeklagt, die russische Aggression zu rechtfertigen, die er jedoch konsequent anprangert. Das Friedensnetzwerk der  Quäker hat in einem offenen Brief an Präsident Selenskyj die Hoffnung ausgedrückt, dass die Anklage fallengelassen wird und die ukrainische Friedensbewegung ungehindert ihr legitimes Eintreten für Gewaltlosigkeit fortsetzen kann.

Im Windschatten der militärischen und politischen Ereignisse hat sich auch die kirchliche Debatte weiterentwickelt. Wie haben Sie die Diskussion wahrgenommen?

Im vergangenen Jahr wurde hart diskutiert, das heißt auch, dass die seit 2007 formulierte Friedensethik der EKD als naiv desavouiert wurde. Etwas feinsinniger hat Militärdekan Roger Mielke einer „pazifistischen Pflichtethik“ eine „realistische Güterethik“ gegenübergestellt und davor gewarnt, die Balance zwischen beiden aufzulösen. In dieser Debatte ist auch Landesbischof Friedrich Kramer sehr attackiert worden, der sehr glaubwürdig geblieben ist – sowohl mit Blick auf seine Biographie als Kriegsdienstverweigerer und damit Bausoldat in der DDR als auch in seiner Position als EKD-Friedensbeauftragter. Nachdem alles viele Male gesagt worden ist, warten nun alle darauf, was in der vom Friedensbeauftragten einberufenen Friedenswerkstatt geschehen wird.

Welche Erwartungen verknüpfen Sie hiermit?

Die zentrale Herausforderung ist es, der Komplexität im Blick auf die unterschiedlichen Einschätzungen der Ursachen als auch der gegenwärtigen Situation gerecht zu werden. Zugespitzt stellt sich die Frage: Heißt „Anschlussfähigkeit der Friedensethik“, politische Codes zu übernehmen und theologisch zu legitimieren? Oder heißt es, im Wissen um die Brisanz der Situation zu fragen, was die Aufgabe der Kirche auf dem Hintergrund des biblischen Zeugnisses ist?

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 37/2023.

Katholische Vordenkerin

Ein Gespräch mit Gesine Schwan

Pünktlich zum 80. Geburtstag von Gesine Schwan ist im Frühjahr ein Gespräch des Philosophen Holger Zaborowski mit der Politikwissenschaftlerin und sozialdemokratischen Vordenkerin erschienen. Es arbeitet nicht nur zentrale Themen des Denkens der Jubilarin heraus, sondern porträtiert sie zudem trefflich als eine markante katholische Intellektuelle der Gegenwart. Und so rahmen die Kapitel „Politik, Glaube, Medien“ sowie „Freiheit, Menschenwürde, Bildung“ auf sinnfällige Weise das, wenn nicht Haupt-, so doch Herzstück des Buches über „Kirche, Christentum, Glaube“. Bemerkenswert ist dabei, dass Schwan die christliche Fundierung ihres Denkens und Wirkens in doppelter – nämlich in intellektueller wie in spiritueller – Hinsicht explizit aufscheinen lässt.

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Erschienen in: Herder Korrespondenz 9/2023, S. 53.

Zwischen Transzendenz und Konkretion

Intellektuelle verschiedener Disziplinen denken in einem Sammelband über Solidarität als Koordinate Europas nach

Von Tilman Asmus Fischer

Ob mit Blick auf die Folgen der Corona-Pandemie, die Unterstützung der Ukraine im Kampf um ihre Freiheit, die Aufnahme von Flüchtlingen von dort oder anderswo – und nicht zuletzt im Ringen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der gegenwärtigen Energie- und Wirtschaftskrise: der Ruf nach Solidarität ist in aller Munde – mal mehr, mal weniger reflektiert gewendet. So trifft es sich, dass Martin W. Ramb und Holger Zaborowski 2022 ihre neue Buchreihe „Koordinaten Europas“ mit einem Band zu „Solidarität und Verantwortung“ eröffnet haben. Mit Beiträgern aus Theologie und Philosophie, Orientalistik und Skandinavistik, Gesellschafts- und Naturwissenschaften, Politik und Kirche bildet der Sammelband ein breites Spektrum an Perspektiven ab. Dabei werden die Beiträge in ihrer Vielfalt durch eine Reihe gemeinsamer Fragehinsichten und Problemstellungen zusammengehalten. Ihr Zentrum haben sie in der Reflexion auf das ethisch-philosophische Fundament solidarischen Handelns.

Das gilt zum einen für die enge Verknüpfung des Europa-Gedankens mit demjenigen der Solidarität. Immer wieder lassen einzelne Beiträge das latente Risiko einer doppelten Engführung erkennen: der Überfrachtung Europas durch ein universalistisches Solidaritätsideal und einer Vereinnahmung der Solidarität als Identitätsmarker Europas. In diese Gemengelage hinein ruft Holger Zaborowski in Erinnerung, dass mit der Forderung, „dass Europa ein Kontinent der Solidarität sein sollte, […] zunächst einmal nicht zum Ausdruck gebracht [wird], dass andere Länder und Kontinente weniger solidarisch seien oder sein könnten“. Demgegenüber schlägt der Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt vor, Europa als Mittlerin zu verstehen, die den Europäern einen Zugang zum universellen Wert der Solidarität erschließt. So seien wir, „nicht nur Kosmopoliten, Bürgerinnen und Bürger der weiten Welt, sondern gehören immer auch zu konkreten partikularen Gemeinschaften, innerhalb derer wir in besonderer Weise Verantwortung tragen“. Daher sei es „naiv und gefährlich, die Zwischenbereiche zwischen dem konkreten Ich und der ‚weiten Welt‘ auszublenden, die vielfältigen Bezüge und Vernetzungen, die Verstrickungen in verschiedene Gemeinschaften und Herkünfte […]. Denn gerade das könnte dazu führen, dass Solidarität zu allgemein oder zu abstrakt verstanden würde und unser Handeln dann in Lethargie oder Apathie erstarrte.“

Zum anderen verweist das Buch darauf, dass Solidarität nicht nur politische bzw. kulturelle, sondern zuletzt auch weltanschauliche Voraussetzungen hat und auf einen Transzendenzbezug angewiesen ist. Barbara Zehnpfennig erkennt in Gott „das Tertium Comparationis im Verhältnis des Menschen zum anderen“. Der Gottesbezug löse, so die Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau, „den Menschen aus seiner Selbstbefangenheit, aus der Fixierung auf sich selbst, die ihn auch den anderen nur nach Maßgabe seiner Selbsterfahrung wahrnehmen lässt“. Beachtlich ist Zehnpfennigs Bezugnahme auf die Enzyklika Pacem in Terris (1963), von der ausgehend sie die Verknüpfung des christlichen Solidaritätsdiskurses mit dem Konzept der Schöpfungsordnung bedenkt. Im Vergleich mit liberalen Anthropologien arbeitet sie die Bedeutung der hierinliegenden geistigen Dimension der Solidarität heraus: „Die Ausrichtung des Lebens ist […] zuerst geistig, dann erst materiell; die Gemeinschaft mit den anderen besteht von Natur aus und ist nicht bloß Ergebnis eines Willensakts; die Rechte, die sich aus der Menschenwürde ergeben, begründen Pflichten, und diese Pflichten hat man vor allem sich selbst bzw. dem gegenüber, was man mit Augustinus den ‚inneren Menschen‘ nennen kann.“ Zehnpfennigs Reflexionen laden dazu ein, weiter über die vielleicht doch nicht unzeitgemäße Bedeutung naturrechtlicher Begründungsmuster von Solidarität nachzudenken.

In eine ähnliche Richtung weist Nils Markwardts Aktualisierung des Böckenförde-Diktums angesichts gegenwärtiger Konflikte um die Zugehörigkeit „zum gesellschaftlichen ‚Ganzen‘“, innerhalb derer „Liberale die entscheidende Gemeinsamkeit aller Bürgerinnen und Bürger vor allem in ihrem Status als freie Marktsubjekte sehen, Konservative hingegen die Bedeutung gewachsener Traditionen betonen, Linke schließlich den Anspruch auf soziale Rechte akzentuieren“. Vor diesem Hintergrund erinnert der Literatur- und Sozialwissenschaftler an die Feststellung des Verfassungsrichters und katholischen Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde aus dem Jahre 1964, dass der freiheitliche-säkularisierte Staat „von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“, sondern er vielmehr nur bestehen könne, „wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert“. Auf den aktuellen Solidaritätskonflikt angewendet, bedeutet dies für Marquardt, dass sich dieser „nicht – allein – durch einen rechtspositivistischen Purismus lösen [lässt], da die Demokratie eben auch von jenen De-facto-Voraussetzungen lebt, die im sozialen Alltag allein durch Recht und Verfassung nicht garantiert werden können“. Dies bedeutet für ihn vor allem jene „solidarische[] Anteilnahme für den Anderen, die nicht restlos erzwungen werden kann, sondern einem kollektiven Verantwortungsgefühl entspringt“.

Die Strittigkeit von Solidarität hebt der Sammelband keinesfalls auf – das ist auch nicht sein Anspruch. Aber er bietet Orientierung in einer sich stetig neuformierenden Auseinandersetzung. Nicht zuletzt macht er dabei immer wieder Traditionen christlicher Theologie und Philosophie für ebendiese Debatte fruchtbar.

Martin W. Ramb, Holger Zaborowski (Hg.): Solidarität und Verantwortung. Oder: Was Europa zusammenhält. Wallenstein Verlag, Göttingen 2022, Hardcover, 378 Seiten, EUR 22,-

Erschienen am 10. August 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

„Rückkehr“ – nicht: „ Rückgabe“

Zur Diskussion um den Danziger Paramentenschatz

Von Tilman Asmus Fischer

Am 8 Dezember 2022 hatten die Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK), das Erzbistum Danzig und die Gemeinde der Danziger Marienkirche in Hannover einen „Letter of Intent“ unterzeichnet, dessen Inhalt nach Bekanntwerden durch eine offizielle Pressemitteilung zu anhaltenden kontroversen Diskussionen geführt hat: Die im Besitz der UEK befindlichen Stücke des Danziger Paramentenschatzes sollen durch Schenkung in den Besitz der Marienkirche übergehen. Parallel zur – teils mit verbitterten Stellungnahmen geführten – öffentlichen Debatte, kam es in inzwischen zu konstruktiven Gesprächen zwischen der UEK bzw. EKD und Vertretern aus dem Bereich der Vertriebenenpolitik. – Der in diesem Zusammenhang gewonnene Kenntnisstand, der die Gesamtlage in einem deutlich veränderten, klareren Licht erscheinen lässt, soll hier dokumentiert und zudem auf die hiermit verbundenen kulturpolitischen Perspektiven hin befragt werden.

Nachdem es am 28. April 2023 in Hannover zu einem Gespräch zwischen dem Präsidenten des BdV, Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius, und dem Präsidenten des EKD-Kirchenamtes, Dr. Hans Ulrich Anke, über grundsätzliche Fragen der Beziehung zwischen beiden Institutionen gekommen und dabei auch die Problematik des Paramentenschatzes angesprochen worden war, wandte sich am 16. Mai Bischöfin Petra Bosse-Huber in einem Brief an den BdV – und bezog die Westpreußische Gesellschaft wie den Bund der Danziger in die Korrespondenz mit ein. In ihrem Schreiben erläutert die Vizepräsidentin des Kirchenamtes und Leiterin des Amtsbereichs der UEK das Vorhaben zum Danziger Paramentenschatz. Diese bisher umfassendste offizielle kirchliche Stellungnahme sei hier mit Erlaubnis der Verfasserin dokumentiert.

Die Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) ist als Rechtsnachfolgerin der früheren Evangelischen Kirche der Union (EKU) bzw. der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union (ApU) Eigentümerin der (vorwiegend liturgischen) Gegenstände, die aus den am Ende des Zweiten Weltkriegs untergegangenen deutschen Evangelischen Kirchengemeinden im heutigen Polen von Mitgliedern dieser Gemeinden auf ihrer Flucht nach Westen mitgenommen und auf diese Weise häufig vor Verlust und Zerstörung gerettet worden sind. Diese Gegenstände sind von der EKU erfasst und in regulären Verfahren entweder an Evangelische Kirchengemeinden in Deutschland zu kirchlichem Gebrauch ausgeliehen worden oder werden als Dauerleihgaben der EKU/UEK in Museen in Deutschland aufbewahrt und ausgestellt. Ersuchen des polnischen Staates zur „Rückführung“ solcher Gegenstände nach Polen wurden seit Jahrzehnten (und werden grundsätzlich weiterhin) von der EKU/UEK abschlägig beschieden; dies wird zum einen mit den Eigentumsrechten begründet, die durch ein Urteil des Berliner Kammergerichts aus dem Jahr 1970 der EKU zugesprochen wurden, zum anderen mit dem Hinweis auf ausstehende zwischenstaatliche Gesamtregelungen zur Rückführung von Kulturgütern.

Allerdings wurden bereits in früheren Jahren in Einzelfällen Gegenstände – so ein Abendmahlskelch aus Jauer und einige historische Kirchenbücher aus Schweidnitz – an die betreffenden Kirchen, die heute zur Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen gehören, übergeben; dies war jeweils mit persönlichen Begegnungen der Beteiligten und mit gemeinsamen Gottesdiensten verbunden.

Auf Initiative des damaligen Bischofs der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Dr. Dr. h. c. Markus Dröge, und auf Beschluss des Präsidiums der UEK nahm die UEK im Jahr 2018 über das Erzbistum Danzig Kontakt zur Marienkirche Danzig auf, um wegen einer möglichen Rückkehr des von dort stammenden Dreifaltigkeitsaltars zu sondieren; dessen Retabel und Predella waren seit Jahrzehnten von der EKU/UEK an die Gemäldegalerie Berlin und an die St. Johannis-Kirchengemeinde Berlin Moabit ausgeliehen. Auf der Grundlage eines zwischen der UEK und der Marienkirche Danzig abgeschlossenen Schenkungsvertrages (und damit unter Anerkennung der vormaligen Eigentümerstellung der UEK) kehrte der Altar im März 2020 in seine Heimatkirche zurück. Aus Anlass einer Ökumenischen Vesper, die zum Trinitatisfest 2022 vom Erzbistum und der Marienkirche Danzig und von der UEK vor diesem Altar gemeinsam gefeiert wurde, wurde die Erarbeitung eines Letter of Intent zum „Danziger Paramentenschatz“ in Aussicht genommen. In ihm sollte – analog zum beim Dreifaltigkeitsaltar gewählten Verfahren – vereinbart werden: (1) die förmliche Schenkung der aus der Marienkirche Danzig stammenden, von Mitgliedern der dortigen Evangelischen Kirchengemeinde gegen Kriegsende bei der Flucht in den Westen geretteten und seit Jahrzehnten in Museen in Lübeck und Nürnberg aufbewahrten Stücke des „Danziger Paramentenschatzes“ von der UEK an die Marienkirche Danzig; (2) ihre Rückkehr zur Marienkirche Danzig zu einem Zeitpunkt, zu dem sie dort museologisch adäquat aufbewahrt und ausgestellt werden können. Ein solcher „Letter of Intent“ wurde am 8. Dezember 2022 in Hannover vom UEK-Vorsitzenden, Kirchenpräsident Dr. Dr. h. c. Volker Jung, vom Danziger Erzbischof Dr. Tadeusz Wojda und vom Pfarrer der Marienkirche Danzig, Prälat lreneusz Bradtke, unterzeichnet. Die Absichtserklärung sieht außer der Eigentumsübertragung durch Schenkung und der Rückkehr der Paramente nach Danzig vor, dass, wie es schon gegenwärtig der Fall ist, auch künftig in Lübeck und Nürnberg einzelne Paramente – dann als Leihgaben der Marienkirche Danzig – ausgestellt sein werden und dass ein gemeinsamer Fachbeirat die Umsetzung des Vorhabens begleitet.

Die auch künftige, dauerhafte Präsenz von Danziger Paramenten in Lübeck und Nürnberg soll gewährleisten, dass die dankbare Erinnerung an die Rettung des Danziger Paramentenschatzes vor Kriegsverlust und -zerstörung durch die aus Danzig geflüchteten und vertriebenen Evangelischen weiterhin in Deutschland lebendig bleibt und gepflegt wird. Diese Erinnerung gehört aber – und das erscheint uns genauso wichtig – zu der Narration, die mit der Rückkehr der Paramente an ihren Ursprungsort, die Marienkirche Danzig, auch dort erzählt werden soll und erzählt werden wird: die Narration von einer gemeinsamen deutschen und polnischen, evangelischen und katholischen Geschichte an der Marienkirche Danzig, die zur Entwicklung einer gemeinsamen europäischen und ökumenischen Zukunftsperspektive herausfordert. Für diese heute mehr als in früheren Jahrzehnten mögliche Sicht, dass auf der Grundlage geschichtlicher Verbundenheit gemeinsame Verantwortung erwächst, muss, das ist der UEK sehr bewusst, auf beiden Seiten von Oder und Neiße geworben werden. Ich werde mich bei meinem Besuch in Danzig Anfang Juni, der wieder mit einem ökumenischen Gottesdienst verbunden sein wird, bei meinen dortigen Gesprächspartnern persönlich dafür einsetzen. Bitte betrachten Sie auch dieses Schreiben als Ausdruck meines Wunsches – und des Anliegens der UEK –, auch bei denen, für die die deutsch-polnische und die evangelisch-katholische Beziehung durch schmerzliche persönliche und familiäre Erinnerungen belastet ist, um Zustimmung zu dem Vorhaben, das ich Ihnen geschildert habe, zu werben.

Einige Tage später, am 25. Mai, nahm die UEK zudem in einer öffentlichen Erklärung zu Vorwürfen Stellung, die das Kirchenamt seit Publik-Werden des „Letter of intent“ erreichten.[1] Dieses Dokument ist auch deshalb bedeutsam, weil es – zugespitzter als der Brief von Bischöfin Bosse-Huber – Befürchtungen zu zerstreuen vermag, welche die Pressemitteilung im Dezember des Vorjahres hatte wecken können.[2]

So wird zum einen der politische Kontext des Vorhabens erhellt und betont, dass die „Initiative zu dem Projekt […] nicht von polnischer Seite, sondern allein von der UEK“ ausgegangen sei und bei ihrer Umsetzung – wie bereits im Falle des Dreifaltigkeitsaltars – „für die UEK nur die Kirche, namentlich die Marienkirche und das Erzbistum Danzig, als Gegenüber auf polnischer Seite in Betracht“ komme. Dabei zieht sich die UEK nicht darauf zurück, dass es sich bei diesen Vorgängen um eine rein „kirchliche“ Angelegenheit ohne politische Implikationen handelt, sondern zeigt sich gerade dafür sensibel: So sei „vor der Rückkehr des Dreifaltigkeitsaltars in die Marienkirche Danzig die Zustimmung zuständiger Stellen der deutschen Bundesregierung eingeholt worden“ und es hätten „an den aus diesem Anlass stattfindenden Feierlichkeiten auch Vertreterinnen und Vertreter der deutschen und der polnischen Politik teilgenommen. Zudem wurde im ‚Letter of Intent‘ zum Danziger Paramentenschatz festgelegt, dass zu den Aufgaben des gemeinsamen Fachbeirats auch die Klärung politischer Fragen gehört, die sich bei diesem Vorhaben stellen.“ Dabei wäre es – so ließe sich anschließen – wünschenswert, dass die Klärung politischer Fragen über den Kreis eines Beirates hinaus auch in die deutschen und polnischen Öffentlichkeiten hineinwirken möge; denn zwischen beiden Staaten und Zivilgesellschaften sind bei allen Fortschritten der letzten Jahrzehnte weiterhin gewichtige Fragen offen. Sie betreffen sowohl die in beiden Ländern betriebenen Erinnerungspolitiken als auch die von Bosse-Huber benannte „ausstehende zwischenstaatliche Gesamtregelungen zur Rückführung von Kulturgütern“. Vielleicht – so eine leise Hoffnung – können die Bemühungen um die Zukunft des Paramentenschatzes den Ausgangspunkt für eine grundsätzliche Diskussion um Perspektiven des deutsch-polnischen Umgangs mit dem gemeinsamen Kulturerbe sein. Dabei – und das muss deutlich gesagt werden – besteht Klärungsbedarf hinsichtlich der (bewusst in den Plural gesetzten) Erinnerungspolitiken – nicht nur zwischen Deutschland und Polen, sondern auch innerhalb Deutschlands. Denn mit den Regelungen zum Verbleib „nur“ einiger Stücke der Paramente in der Bundesrepublik stellt sich – ganz unabhängig von Fragen der Besitzstandswahrung – die Frage, welche Bedeutung und Aufmerksamkeit dem ostdeutschen Kulturerbe im bundesrepublikanischen „Kulturbetrieb“ zukommt. Die UEK mit ihrer jetzigen Entscheidung für hier ganz offensichtlich bestehende gesamtgesellschaftliche Defizite in Geiselhaft nehmen zu wollen, geht am Ziel vorbei. Wenn wir jedoch über den Fall der Paramente darüber ins Gespräch kommen können, welchen Platz ostdeutsches Kulturgut in deutschen Museen und Kultureinrichtungen hat und haben soll, wäre das nur zu begrüßen.

Zum anderen wendet sich die EKU gegen Spekulationen, „als seien die Paramente unrechtmäßig nach Lübeck bzw. Nürnberg und ins Eigentum der UEK, der Rechtsnachfolgerin der untergegangenen evangelischen Marienkirchengemeinde Danzig, gelangt oder als würden sie auf eine Forderung hin zurückerstattet“. Dementsprechend sei „nicht von einer Rückgabe, Rückführung oder Restitution die Rede, sondern von ihrer Rückkehr oder auch Heimkehr zur Marienkirche Danzig“. Die UEK stelle „den Gedanken in den Mittelpunkt, dass die Paramente als historische Objekte und als kulturelles Erbe untrennbar mit der Marienkirche Danzig verbunden sind und dorthin zurückkommen“. Dass dies seitens der UEK so deutlich benannt wird, ist in doppelter Hinsicht zu begrüßen. Erstens steuert eine solche Klarstellung der Gefahr, das Vorhaben in den derzeit in Deutschland populären postkolonialen Restitutionsdiskurs einzulesen – und damit die Geschichte der vertriebenen Danziger Evangelischen in einer Weise zu beschädigen, die nicht nur erinnerungspolitisch fatal, sondern vor allem auch unter pastoralen Gesichtspunkten unverantwortlich wäre. Zweitens tragen die klaren Worte der UEK dazu bei, das Vorhaben auch davor abzusichern, wiederum in Polen von politischen Akteuren (jenseits der unmittelbaren Kooperationspartner) in die dort geführten Restitutionsdiskurse eingelesen zu werden, dessen Forderungen fortwährend an Deutschland adressiert werden. Das Problembewusstsein hierfür scheint bei der UEK in jedem Fall vorhanden zu sein. So schließt die Erklärung mit den Worten: „Den Partnern ist bewusst, dass eine solche neue Erzählung und die sie begleitenden Zeichen der Versöhnung sowohl in Deutschland als auch in Polen ernsten Vorbehalten begegnen, die aus den geschichtlichen Belastungen zwischen beiden Ländern und Konfessionen herrühren. Sie fühlen sich verpflichtet, diesen Vorbehalten verständnisvoll zu begegnen und gleichwohl für die gemeinsam gewonnene Einsicht zu werben.“ Eine aktive Einbeziehung der vertriebenen Danziger (und dabei im Sinne der Ökumene nicht nur der Protestanten) bzw. ihrer Nachfahren und deren Organisationen und Institutionen – wie der Westpreußischen Gesellschaft oder der Kulturstiftung Westpreußen – kann zum Gewinnen von Verständnis gewiss nur beitragen. In jedem Fall ist dem gesamten Fachbeirat, der sich am 2. und 3. Juni in Danzig konstituiert hat, zu wünschen, dass es ihm gelingt, an der von den Initiatoren angestrebte „Narration“ festzuhalten, sie zu stärken und gegen politische Angriffe wie Instrumentalisierungsversuche zu verteidigen, die es gewiss diesseits wie jenseits der Oder geben wird.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 2/2023.


[1] Erklärung zur beabsichtigten Rückkehr des Danziger Paramentenschatzes zur Marienkirche Danzig: https://www.uek-online.de/3-5-artikel-content-1054-erklaerung-danziger-paramentenschaftz-1054.php

[2] „Danziger Paramentenschatz“ kehrt zurück, EKD, 9. Dezember 2022: https://www.ekd.de/ruckkehr-danziger-paramentenschatz-76569.htm

„Postheroische Ehrlichkeit“ erwünscht

Seelische Einsatzfolgen stellen eine Herausforderung dar – sowohl für das Selbstverständnis unserer Gesellschaf als auch für die seelsorgerliche Praxis

Von Tilman Asmus Fischer

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat infolge der sicherheitspolitischen „Zeitenwende“ zu nachhaltigen Erschütterungen und Reorientierungen im friedensethischen Diskurs hierzulande geführt. Jenseits der breiten Debatten um schlagzeilenträchtiger Waffentypen und Friedensforderungen illustrer Provenienz vollziehen sich weitere Aufmerksamkeitsverschiebungen – oder werden zumindest Aufmerksamkeitsdefizite markiert. Dies gilt etwa für den Schnittbereich von Militär, Ethik, Medizin und Seelsorge. Hier zeigt sich eine wachsende und sich wandelnde Sensibilität für seelische Einsatzfolgen.

Diese fordert auch der evangelische Praktische Theologe Dr. Niklas Peuckmann von der Ruhr-Universität Bochum verbunden mit seinem Eintreten für eine „postheroische Ehrlichkeit“ – so auch der Titel seines programmatischen Aufsatzes in der Zeitschrift „Evangelische Theologie“ (6/2022): Dabei geht er von der Beschreibung Deutschlands als einer „postheroischen Gesellschaft“ aus, die „sich nicht (mehr) über heroische Taten konstituiert und ihre Gemeinschaftsidentität auch nicht aus heroischen Erzählungen über zurückliegende Kriege herleitet“, jedoch „auf ein Residuum des Heldenhaften angewiesen zu bleiben“ scheint: „So sind für das Militär und die Polizei heroische Taten und Narrative nach wie vor bedeutsam, vor allem für die eigene Identitätsbildung.“ Für Peuckmann stellt die sicherheits- und damit auch rüstungspolitische Zeitenwende den postheroischen Charakter der deutschen Gesellschaft nicht infrage, macht jedoch in besonderer Weise deutlich, in welchem Maße ebendiese Gesellschaft auf institutionalisierte Formen des „Heldenhaften“ – konkret auf die Armee – angewiesen ist. Von daher sieht er die Gesellschaft in der Verantwortung, „mitauszusprechen, dass eine neue Sicherheitsarchitektur im erheblichen Ausmaß auf Kosten der Personen geht, die diese repräsentieren und zu tragen haben.“ Das „Sichtbarmachen der Einsatzfolgen und der ‚unsichtbaren Veteranen‘“ ist diesem Sinne ist für Peuckmann das  „ein Beitrag zu einer Kultur einer postheroischen Ehrlichkeit, die bislang sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern einer (militärisch) wehrhaften Demokratie ausgeklammert wird“.

Dabei geht es bei weitem nicht mehr nur – wie in den frühen 2000er Jahren um Posttraumatische Belastungsstörungen. Vielmehr wird – was in besonderer Weise von moraltheologischer und poimenischer Bedeutung ist – zunehmend die Relevanz von moralischen Verletzungen, moral injury, erkannt.

Diese definiert der promovierte katholische Theologe wie Mediziner Dirk Fischer als „eine tiefgreifende moralische Erschütterung im Rahmen psychisch traumatisierender Ereignisse, bei der eigenes oder fremdes Handeln resp. Nichthandeln im Widerspruch zum Werte- und Normenbewusstsein der Betroffenen steht und mit demselben nicht mehr zur Deckung gebracht werden kann.“ Obwohl es moralische Verletzungem „der Sache nach schon immer gab, werden sie heute infolge der interdisziplinären Moral-Injury-Forschung vermehrt wahrgenommen“, erläutert der Leiter des neu gegründeten Instituts für Wehrmedizinische Ethik in München in der aktuellen Ausgabe der im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegebenen „Zeitschrift für medizinische Ethik“. Eine große Herausforderung stellten moralische Verletzungen für die Betroffenen wie für ihre Therapeuten dar, „wenn es darum geht, moralische Konflikte ins Wort zu fassen und zu thematisieren; ethische Kompetenz erweist sich hier in mehrfacher Hinsicht als klinisch relevant“.

Viele der Betroffenen – aktive und ehemalige Soldaten, aber auch Angehörige bzw. Hinterbliebene von Soldaten oder etwa Mitglieder des Psychosozialen Netzwerks der Bundeswehr (PSN) – finden seit über zehn Jahren den Weg zu Angeboten des „Arbeitsfeld Seelsorge für unter Einsatz- und Dienstfolgen leidende Menschen“, kurz ASEM, im Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr. 2012 als befristetes fünfjähriges Projekt ins Leben gerufen, etablierte Militärbischof Sigurd Rink 2017 das ASEM als dauerhaften Aufgabenbereich seiner Behörde. Die stets von Militärgeistlichen geleiteten Maßnahmen reichen von Betroffenenseminaren über Angebote für Partner und Familien oder tiergestützte Formate bis hin zu stabilisierender Einzelfallhilfe in Notsituationen. In den einzelnen Projekten arbeiten die Geistlichen mit interdisziplinären Teams zusammen, in denen sowohl Zivilisten als auch Bundeswehrangehörige und Kompetenzen aus Sozialarbeit, Psychologie, und Medizin sowie unterschiedliche therapeutische Ansätze vertreten.

Dabei bedeutet die Kooperation zwischen Therapie und Seelsorge aus Perspektive der Seelsorgetheorie immer auch ein Wagnis – dies gilt bereits etwa in der Institution Krankenhaus, zugespitzt aber nochmals im Kontext der Bundeswehr, wo die Militärseelsorge innerhalb des PSN mit dem Sozialdienst, dem Sanitätsdienst und dem Psychologischen Dienst der Bundeswehr kooperiert. Das PSN ist, so nochmals Peuckmann, „latent von einem klinischen Imperativ geprägt, der einer medizinischen Codierung (gesund/krank) folgt“: hier kommt der Mensch, anders als in der Seelsorge, als ein zu therapierender – und im militärischen Kontext oftmals wieder einsatzfähig zu machender – Patient in den Blick. „Das ASEM-Projekt“, urteilt Peuckmann jedoch, „scheint insgesamt reflektiert und konstruktiv zugleich mit dem latenten Sog des klinischen Imperativs umzugehen. Soldatinnen, Soldaten und ihre Familien werden nicht funktional in den Blick genommen. Es geht nicht darum, Soldatinnen und Soldaten wieder einsatztauglich und damit ‚fit for fight‘ zu machen.“

Dies bekräftigt ASEM-Leiter Militärdekan Karsten Wächter gegenüber der Tagespost: „Bei uns müssen die Menschen keine Ziele erreichen. Das ist sehr entlastend.“ Aufgabe der Seelsorge sei es vielmehr, Räume „geteilter Lebenszeit“ zu eröffnen und mit den Soldaten „gemeinsam auf dem Weg zu sein“. Im besten Fall, so Wächter haben die Soldaten in den Seminaren „Erlebnisse von Leichtigkeit“ – heilsame Erfahrungen, die sie in ihren bisher von Trauma und permanenter Anspannung geprägten Alltag mitnehmen können. Religiöse Elemente sind in den Seminaren präsent, wobei es sich zunächst um niederschwellige Angebote handelt: Dies sind insbesondere Morgen- und Abendrunden mit liturgischen Elementen.

Wächter selbst bietet als Seelsorger den Soldaten Segens- und Beichtgespräche an. Insbesondere letzte, unterstreicht der evangelische Theologe, erfahren dabei eine besondere Nachfrage: „Ich habe gelernt, statt von Schuld von ‚moralischer Verletzung‘ zu sprechen. Sie kann nicht nur durch eigenes Verhalten oder Fehler entstehen, sondern auch durch das, was einem zugefügt wird. Oder wenn man tatenlos mit ansehen muss, wie anderen Unrecht oder Gewalt angetan wird. Dieser Themenkomplex hindert am Leben. Da kann das Ritual der Beichte sehr helfen, das Erlebte auszusprechen und an eine höhere Macht, Gott, abzugeben.“

Indem die Militärseelsorge in diesem Sinne Veteranen wahrnimmt und begleiten leistet sie nicht nur einen wichtigen Dienst an den Betroffenen. Zumindest ist – im Anschluss an Peuckmann – zu hoffen, dass sie als Teil der Kirche mit ihrem Tun auch in die „postheroische Gesellschaft“ hineinwirkt und exemplarisch zu zeigen vermag, wie eine „postheroische Ehrlichkeit“ gelebt werden kann.

Erschienen am 22. Juni 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

„In dieser Welt bleibt nur der Heuchler sauber“

Der evangelische Militärpfarrer Klaus Beckmann widmet sich in einer bedenkenswerten Streitschrift der theologischen Perspektive auf den Soldatenberuf in Zeiten der sicherheitspolitischen Neuorientierung

Von Tilman Asmus Fischer

Als „Erinnerungs- und Streitschrift“ markiert der evangelische Theologe Klaus Beckmann – 2011 bis 2020 Militärseelsorger, zuletzt persönlicher Referent von Militärbischof Sigurd Rink – sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch. Inhaltlich freilich liegt der Akzent eher auf dem streitbaren Debattenbeitrag als auf anekdotischen Berichten – und dies gereicht „Dienstweg – kein Durchgang?“ nur zum Vorteil. Denn was der Autor bietet, ist – bei aller Sättigung durch die Praxiserfahrung eines Militärpfarrers – eine friedensethische wie pastoraltheologische bzw. kirchentheoretische Standortbestimmung auf höchstem Reflexionsniveau.

Unter einer friedensethischen Perspektive liest sich Beckmanns Buch als einer der profundesten Beiträge zur die sogenannte „Zeitenwende“ begleitenden theologischen Debatte, die sich zwischen einem Aufbegehren fundamentalpazifistischer Positionen und Spekulationen über eine Wiederkehr der Lehre vom „gerechten Krieg“ bewegt. „In dieser Welt bleibt nur der Heuchler sauber“, kann der Autor am Schluss konstatieren – und diese Einsicht verdichtet wie in einem Brennglas seine Argumentation, die sich gegen unaufrichtige Positionen eines Radikalpazifismus wendet, den Beckmann in seiner deutschen Spielart wiederholt als Wiedergänger eines Nationalpazifismus mit Wurzeln in den dunkelten Kapiteln der Geschichte unseres Landes identifiziert. Für eine aufrichtige Perspektive tritt Beckmann demgegenüber ein, indem er vom Faktum der unerlösten Welt ausgehend zu einer verantwortungsethischen Herleitung der Notwendigkeit der Institution Militär gelangt.

Dabei betont Beckmann den hohen Wert, welcher der Gestalt des Militärischen zukommt, wie sie sich in der Bundeswehr mit den Prinzipien der „Inneren Führung“ bzw. des „Staatsbürgers in Uniform“ herausgebildet hat. Gewiss stellt der Autor mit dem Bild des gebildeten, verantwortungsbewussten und kritischen Subjekts hohe Ansprüche an den Beruf des Soldaten. Jedoch bilden ebendiese Ansprüche das logische Korrelat zur inhaltlichen Begründung der Existenz von Streitkräften, wie Beckmann sie vornimmt: zur Sicherung von Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit sowie zur Wahrnehmung internationaler Verantwortung unter dem Vorzeichen der Idee des „gerechten Friedens“.

Nicht minder bedenkenswert sind Beckmanns Ausführungen, liest man sie in einer postoraltheologischen bzw. kirchentheoretischen Blickrichtung: Ebenso klar, wie der Autor eine ethische Würdigung des Soldatenberufs vornimmt, tritt er für die Unabhängigkeit der Seelsorger wie der Institution Kirche im System Bundeswehr ein. Denn – eine grundsätzliche Problematik, die auch aus anderen Bereichsseelsorgen prinzipiell bekannt ist, sich aber im Falle der Militärseelsorge in besonderer Weise zeigt – das Bezugssystem, in dem die Militärpfarrer wirken, hat eine deutliche Tendenz dazu, die Geistlichen zu vereinnahmen. Dem stellt der Autor die Erwartungen der Soldaten an Militärseelsorger gegenüber – und hier mag eine implizite Kritik an einzelnen Amtsbrüdern anklingen:

„Nach meiner Erfahrung verfügen Soldaten über ein hohes Maß an kritischer Sensibilität gegenüber Anbiederungsversuchen. Sie wünschen sich durchaus nicht, dass ein Seelsorger in ‚Grünzeug‘ durch die Kaserne marschiert; militärisches Grüßen wird beim Militärpfarrer als unstatthaft empfunden – nicht allein, weil dieser nun eben einen zivilen Status hat, sondern auch und gerade, weil den meisten Soldaten bewusst ist, welchen Schatz der Seelsorger in seiner Sonderstellung für sie darstellt. Gleitet er in das militärische ‚grüne‘ Milieu ab, geht ein Stück Freiheit im militärischen Alltag verloren.“

Dieses „Stück Freiheit“ beginnt beim von den Seelsorgern als Raum freier Aussprache gestalteten Lebenskundlichen Unterricht und reicht über ihre Unabhängigkeit von der militärischen Hierarchie bis hin zum Beicht- und Seelsorgegeheimnis, das Militärseelsorger von Truppenpsychologen unterscheidet und einen Raum des geschützten Gesprächs selbst in Extremsituationen garantiert. Zur Absicherung ebendieser Freiheit und Unabhängigkeit mahnt der Autor wiederholt Strukturreformen innerhalb der evangelischen Militärseelsorge an: „Ein Verbesserungsansatz für die Militärseelsorge kann in verfassten Basisvertretungen liegen, die es dem Seelsorger ermöglichen, sich in Entscheidungen und Äußerungen abzustimmen und abzusichern. Handlungen der Militärseelsorge würden so nach außen nicht vom Pfarrer allein, sondern durch ein legitimiertes Gremium vertreten.“

Dabei greift der Verfasser interessanterweise auf die katholische Organisationsstruktur als Vorbild zurück: „Beachtenswert finde ich die Tatsache, dass die katholische Militärseelsorge bislang in der Beteiligung der Basis mehr zu bieten hat als die evangelische Seite. Dort existieren bei den Standortpfarrämtern verfasste“ – wenn auch, wie Beckmann einschränkt, vom Pfarrer berufene und nicht gewählte – „Mitarbeiterkreise und Pfarrgemeinderäte; über mehrere Ebenen hinweg sind die katholischen Soldatinnen und Soldaten bis ins Zentralkomitee der deutschen Katholiken repräsentiert.“

Diese Bezugnahme ist nur einer von zahlreichen Aspekten, die „Dienstweg – kein Durchgang?“ für eine ökumenische Leserschaft und nicht nur für den kleinen Kreis der an Fragen der evangelischen Militärseelsorge Interessierten äußerst lesenswert macht. Mithin in Monaten, da sich die gesamte Gesellschaft neu über Grundkoordinaten von Sicherheitspolitik und Friedensethik orientieren muss, stellen diese Reflexionen, die an Erfahrungen als „Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr“ anknüpfen, unangenehme Fragen und bieten Thesen, die in einer aufrichtigen öffentlichen Debatte nicht ausgeklammert werden sollten. Dass Deutschland diese Debatte vor dem Hintergrund seiner historischen Verantwortung ebenso wie gegenüber seinen heutigen Uniformträgern schuldig ist, macht Beckmann eindrücklich klar.

Klaus Beckmann: Dienstweg – kein Durchgang? Als Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr. Eine Erinnerungs- und Streitschrift. Miles-Verlag, Berlin 2022, 264 Seiten, ISBN 978-3967760439, EUR 19,80.

Erschienen am 20. April 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).