Aufklärung über geschichtliche Prozesse

Buchempfehlung zu: Mark Jones, 1923. Ein deutsches Trauma

Ein ideales Timing kann man dem irischen Historiker Mark Jones nicht absprechen. 2017 war er mit seinem Buch „Am Anfang war Gewalt“ an die Öffentlichkeit getreten, das sich mit der Entstehung der Weimarer Republik im Kontext der deutschen Revolution der Jahre 1918 und 1919 befasste. Fünf Jahre später hat er nun, 2022, ein Werk unter dem Titel „1923. Ein deutsches Trauma“ auf den Markt gebracht. Dabei hat der Autor sich jedoch wohl nicht nur von der simplen Einsicht treiben lassen, dass die Deutschen gerne Bücher kaufen, die sich an der 100. Wiederkehr von Epochenjahren orientieren.

Abspüren lässt sich dem Buch vielmehr die – begründete – Überzeugung, durch historische Analyse und Reflexion zu einer Aufklärung über geschichtliche Prozesse beizutragen, die auch von gegenwärtiger Relevanz ist. Für die deutsche Leserschaft handelt es sich dabei gewissermaßen um eine „Selbstaufklärung“; denn Jones‘ Bücher eröffnen ein tieferes Verständnis für historische Entwicklungen, die nicht nur die deutsche Geschichte, sondern zugleich das kollektive Gedächtnis und politische Mentalitäten in der longue durée, der in langen Zeiträumen betrachteten Geschichte, geprägt haben.

Indem Jones eine Studie über das Jahr 1923 vorlegt, fokussiert er ein Jahr, dessen Ereignisse nachhaltigen Einfluss auf das spannungsreiche Verhältnis der Deutschen zu ihrer ersten Republik hatte, und betrachtet damit zentrale Aspekte der Demokratie-Geschichte Deutschlands gleichsam unter dem Brennglas. Dabei liegt es Jones fern, die letztlich arbiträren Grenzen des Kalenderjahres zu einem inhaltlichen Kriterium zu erheben – und so beginnt das Buch nicht erst mit der französischen Ruhrbesetzung im Januar 1923, sondern bereits mit dem Rathenau-Mord 1922 und reicht mit dem seit Dezember 1923 erarbeiteten Dawes-Plan zur Regelung der deutschen Reparationszahlungen an die Siegermächte des Ersten Weltkrieges weit in das Jahr 1924 hinein.

Zwischen diesen Wegmarken bieten die – dann wieder kalendarisch strukturierten – zwölf Kapitel aber spannende Einzelstudien zu zentralen Ereignissen eines von drohendem Bürgerkrieg, Inflation und politischem Extremismus von rechts und links geprägten Jahres. Dabei gelingt es Jones, wie bereits in seiner Monographie „Am Anfang war Gewalt“, makrogeschichtliche Fragestellungen derart zu – durch intensive Quellenarbeit erschlossenen – mikrogeschichtlichen Fallstudien in Beziehung zu setzen, dass neue Perspektiven und Einsichten erschlossen werden. Dies gilt für die massenweise Vergewaltigung deutscher Frauen durch französische Besatzungssoldaten ebenso wie für antisemitische Gewalttaten im Kontext des erstarkenden Rechtsextremismus – aber auch für Beispiele gelingenden Krisenmanagements einer demokratischen Regierung.

Mark Jones, 1923. Ein deutsches Trauma. Basierend auf neu erschlossenem Quellenmaterial aus europäischen Archiven, aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Berlin: Propyläen, 2022;. 384 S., Hardcover, € 26,00 – ISBN 9783549100301

Tilman Asmus Fischer

O. T. erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2022.

Mehr Polen und Europa für die deutsche Erinnerungskultur

Der „Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen“ ist im Entstehen begriffen. Eine Diskussionsveranstaltung des Deutschen Polen Instituts ordnete ihn in den Kontext deutsch-polnischer Erinnerungspolitik ein.

Vor einem Dreivierteljahr hatte der damalige Bundeaußenminister Heiko Maas in Berlin das Konzept für den 2020 vom Bundestag beschlossenen „Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen“ vorgestellt. Die Umsetzung ebendieses Beschlusses dürfte Parlament und Regierung in der noch verhältnismäßig jungen Legislaturperiode beschäftigen. Die Entscheidung für den Polen-Ort geht auf eine in den Jahren zuvor etablierte und am Deutschen Polen Institut (DPI) angesiedelte zivilgesellschaftliche Initiative zurück, die die Errichtung eines Denkmals für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieg gefordert hatte. Geht es nach einem Konzeptpapier aus dem Vorjahr, sollen es gerade auch zivilgesellschaftliche Akteure sein, die den Polen-Ort mit Leben füllen. Vor diesem Hintergrund versprach die am 7. Juni vom DPI in der Europäischen Akademie Berlin durchgeführte Tagung „Rund um den ‚Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen‘“ Einblicke in die Entwicklungsperspektiven dieses Projektes zu geben. In besonderer Weise galt dies für die öffentliche Podiumsdiskussion, welche unter dem Titel „Erinnern für die Zukunft: Wie viel Polen, wie viel Europa braucht die deutsche Erinnerungskultur?“ das Vorhaben in seinen größeren geschichtspolitischen Kontext einordnete.

Eingeladen hatte das DPI hierzu Dr. Axel Drecoll, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und Leiter der Gedenkstätte KZ Sachsenhausen, Dr. Annemarie Franke, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa sowie wissenschaftliche Projektmitarbeiterin beim Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität, und Dr. Raphael Utz, Leiter der beim Deutschen Historischen Museum angesiedelten Stabsstelle Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ (ZWBE). Moderiert wurde die Debatte von DPI-Direktor Prof. Dr. Peter Oliver Loew. Dabei konnte dieser zugleich seine Expertise als Vertreter seines Instituts in der Expertenkommission zur Einrichtung des Polen-Ortes ins Spiel bringen, so dass sich die Diskussion als – nicht zuletzt für das Auditorium fruchtbares wie anregendes – kollegiales Fachgespräch vollzog, in das sich im zweiten Teil auch Publikumsgäste einbringen konnten.

Einleitend hob Loew hervor, dass das Anliegen des Polen-Orts deutlich größere Zustimmung in Gesellschaft und Politik gefunden habe, seit sich herauskristallisiert habe, dass es nicht „nur“ – wie im Falle der ursprünglichen Initiative – um ein Denkmal, sondern einen Ort der Erinnerung und Begegnung gehe. Entwickelt werden soll dieser im engen grenzüberschreitenden Austausch: Das „Gespräch muss entscheidender Bestandteil des Polen-Ortes sein“, steht für Loew fest. Dabei könne man an die Erfahrungen bei der Erarbeitung des deutsch-polnischen Schulbuchs anknüpfen, das inhaltlich sehr gelungen sei.

Wie jedoch soll Polen an den Gremien der im Entstehen begriffenen Institution konkret beteiligt werden? Diese – bekanntermaßen politisch wie diplomatisch sensible – Frage wurde aus dem Publikum an das Podium herangetragen, auch mit Blick auf das ZWBE. Hinsichtlich des Polen-Ortes gab Loew zu verstehen, dass gegenwärtig noch keine Klarheit über die Gremienbesetzung – und mithin über die Rechtsform der Institution – bestünde. In jedem Fall bedürfe es jedoch unterschiedlicher Gesprächskreise, die sich mit „symbolischem Erinnern“, „Ausstellung“ und „Wanderausstellungen“ befassten. Es sei wünschenswert, wenn der Ort im Prozess-Charakter bleibe und sich dynamisch weiterentwickle.

Für die konzeptionelle Ausrichtung des Polen-Ortes war von besonderer Bedeutung, dass Raphael Utz das künftige ZWBE vertrat, dessen Errichtung der Bundestag in zeitlicher Nähe zu seiner Entscheidung zugunsten des Polen-Ortes beschlossen hatte und mit ihm  eine nicht geringe inhaltliche Schnittmenge aufweist. Befürchtungen einer Konkurrenz zwischen den beiden und ggf. weiteren Institutionen konnte Utz jedoch zerstreuen. Vielmehr könnten sich die Orte ergänzen, wenn nur in vernünftiger Weise aufeinander verwiesen würde. Zudem habe das ZWBE ganz Europa – bzw. 27 von der deutschen Besatzungsherrschaft betroffene Staaten – im Blick. Hinsichtlich der Beteiligung internationaler Partner an den Gremien der Gedenkstätte gab Utz zu verstehen, man wolle keinen mit Botschaftern besetzten „internationalen Aufsichtsrat“, der zum Gegenstand er Interessen nationaler Erinnerungspolitiken werde. Er selbst habe bereits „Besuch von Vertretern der russischen Botschaft“ erhalten, die „klare Vorstellungen“ von der Gedenkstätte gehabt hätten. Anstelle von Vertretern der einzelstaatlichen Regierungen setze man vielmehr auf Vertreter aus der europäischen Zivilgesellschaft und Wissenschaft, die durch ein angegliedertes „Forum der Erinnerung“ bzw. im Haus angesiedelte Forschungsprojekte einbezogen werden sollten.

Axel Drecoll weitete den Blick nochmals, indem er auf die Wechselbeziehung zwischen Informationszentren wie dem Polen-Ort oder dem ZWBE und Gedenkstätten, die an konkreten historischen Orten an das dortige Geschehen erinnerten, nachzeichnete. Letztere seien auf erstere angewiesen, da diese der breiten Bevölkerung historisches Wissen vermittelten, das notwendig sei, um sich auf Gedenkstätten einlassen zu können. Es brauche solche Information, „damit Gedenkorte nicht erstarren“. Auch hier komme es letztlich auf eine funktionierende Verweisstruktur an. Aus dem Publikum vorgetragene Befürchtungen eines abnehmenden Interesses an Informations- und Gedenkorten infolge des zunehmenden zeitlichen Abstandes zum Zweiten Weltkrieg bewertete Drecoll als unbegründet, insbesondere da er beobachte, dass heute auch noch die inzwischen vierte Generation die Verfolgung ihrer Vorfahren als Teil der eigenen Familiengeschichte verstehe.

Ausgehend von den Erfahrungen der Gedenkstätte KZ Sachsenhausen, fragte Drecoll hingegen nach der „Grenze bei separaten Orten des Erinnerns“ für einzelne Opfergruppen: So seien in Sachsenhausen zwar zu einer großen Zahlen Polen inhaftiert gewesen – insgesamt seien jedoch Angehörige vieler Nationen unter den Opfern. In diesem Bewusstsein stelle sich die Frage, wie damit umgegangen werden solle, wenn – in Entsprechung zum Polen-Ort – auch andere Völker wie etwa die Ukrainer ihren eigenen „Ort“ forderten. Auf den „Knackpunkt“ der vielbesprochenen Opferkonkurrenz in geschichtspolitischen Debatten wies mit Blick auf den Polen-Ort auch Annemarie Franke hin. Zuerst nämlich – 2012 – war eine Gedenkstätte für die polnischen Weltkriegsopfer just in Reaktion auf die Einweihung des Mahnmals für die ermordeten Sinti und Roma gefordert worden. Damals habe Władysław Bartoszewski als polnischer Staatssekretär und außenpolitischer Berater Donald Tusks die staatliche Position Polens vertreten. Dass der Polen-Ort demgegenüber nun aus einer zivilgesellschaftlichen Initiative heraus entstanden sei, hält Franke für einen wichtigen Unterschied.

Wie jede gegenwärtige Veranstaltung zu ostmitteleuropäischen Themen stand auch die Diskussion zum Polen-Ort im Schatten des russischen Überfalls auf die Ukraine – so dass merklich die Gegenwarts- und Zukunftsdimension von Erinnerungskultur(en) hervortrat. Dass „heute Angriffskriege mit dem Zweiten Weltkrieg begründet werden“, zeige, so Decroll die Bedeutung von Gedenkstätten und historischer Bildung. Und wie Franke betonte, sei eine „gemeinsame Bewältigung der Folgen des Ukraine-Krieges“ gerade auch im Dialog zwischen Deutschland und Polen wichtig. Bei Begegnungen, wie sie der Polen-Ort ermöglichen solle, dürfe es nicht um beliebige Begegnungen gehen, sondern darum, „Impulse zu geben, mehr voneinander zu lernen“. Was es brauche, sei ein „Ort kritischer Begegnung auf Augenhöhe“.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: DOD – Deutscher Ostdienst 3/2022 und Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 3/2022.

Auf ein Wort: Erinnerungskultur ist Demokratieförderung

Von Lucas Koppehl und Tilman A. Fischer

Identitätspolitik ist heute in aller Munde. Die Deutungshoheit über dieses Thema ist wohl Gegenstand der schärfsten Debatten des Jahres 2021. Seien es Geschlechterfragen, koloniale Überbleibsel oder die Verortung unseres nationalen Selbstverständnisses – von rechts wie links ein Minenfeld. Es zeigt sich: Debatten tun not. Die Schärfe des aktuellen „Diskurses“ zeigt hingegen, wie groß die Ängste verschiedener Teile der Gesellschaft vor der künftigen Gestalt unseres Landes und seiner künftigen Legitimationsbezüge sind. Denn nicht erst seit George Orwells „1984“ wissen wir „Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit. Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft.“

Unser Land hat also wieder einmal Selbstzweifel. Was lapidar klingt, hat doch einen ernsten Kern. Denn Identitätspolitik kommt eben ohne Erinnerungspolitik nicht aus. Erinnerungskultur hingegen legt fest, welche Werte in unserer Demokratie Konsens sind und welche nicht. Nach Ansicht der Autoren kommen bei erinnerungspolitischen Debatten in Deutschland jedoch jene Kräfte oft zu kurz, die selber über einen reichen Schatz an historischen Erfahrungen verfügen, – oder sie melden sich gleichsam zu wenig zu Wort. Dabei hätten sie viel beizutragen.

Hierbei geht es sowohl um Repräsentanten einer demokratischen Tradition unseres Landes, die durch die Wirren der deutschen Geschichte nicht belastet sind, als auch um solche, die in einer authentischen Weise für eine deutsche Lerngeschichte stehen, die aus ebendiesen Wirren Einsichten gewonnen und Konsequenzen gezogen hat. Zu den erstgenannten Akteuren gehört das 1924 von den Parteien der Weimarer Koalition gegründete Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold; zu den zweitgenannten ein Gutteil der – nach der Unheilsgeschichte von Rassenwahn und ethnischen Säuberungen – auf Versöhnung und europäischen Ausgleich orientierten Interessenverbände der deutschen Vertriebenen.

(Foto: Cezary Piwowarski)

Das Reichsbanner wurde am 22. Februar 1924 auf Betreiben der SPD zusammen mit der liberalen Deutschen Demokratischen Partei und der katholischen Zentrumspartei gegründet. Schnell entwickelte es sich zu einer Massenorganisation mit mehr als drei Millionen Mitgliedern. Neben fünf Reichskanzlern waren bekannte Mitglieder unter anderem Philip Scheidemann, Otto Wels, Julius Leber, Fritz Bauer, Paul Löbe und Theodor Heuss – aber auch etwa der im westpreußischen Kulm geborene Kurt Schumacher. Das Reichsbanner kann heute für sich reklamieren, stets auf der Seite der Freiheit, der Demokratie und der Republik gestanden zu haben. Dem Kampf gegen Nationalsozialisten, Kommunisten und Monarchisten, die die Republik von Anfang an erbittert bekämpften, fielen etliche seiner Mitglieder zum Opfer – zumal nach der Machtübertragung auf Hitler, gegen den viele der Reichsbannermänner im Untergrund Widerstand leisteten.

Der nach wie vor bestehende Verband vereint auf Grund dieser Vergangenheit wohl wie kaum eine andere politische Organisation in Deutschland Geschichte, Gegenwart und Zukunft in sich. Auf Grund der am eigenen Beispiel erlebten Erfahrungen sowie seiner Demokratie- und Freiheitstraditionen, die über die Weimarer Zeit bis zur 1848er Revolution zurückreichen, kann das Reichsbanner bei drohenden Aushöhlungen der demokratischen Verfassungsordnung heute wohl mit besonderer Glaubhaftigkeit mahnen.

Für diese Verfassungsordnung stehen ebenso glaubwürdig die Organisationen der deutschen Heimatvertriebenen ein. Vor dem Hintergrund der Folgen, die Nationalismus und politischer Extremismus – in die auch Mitglieder aus den eigenen Reihen verstrickt waren – über Europa gebracht hatten, bekannten sie sich 1950 in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen nicht nur zum Verzicht „auf Rache und Vergeltung“, sondern ebenso zur „Schaffung eines geeinten Europas […], in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können“. Ihr Versprechen, „durch harte, unermüdliche Arbeit“ teilzunehmen „am Wiederaufbau Deutschlands und Europas“ bedeutete zugleich ein Bekenntnis zu einem demokratischen Deutschland, für das die deutschen Heimatvertriebenen – und Spätaussiedler – mit einer wachsenden Zahl an Unterstützern und Interessierten aus ihrem Umfeld bis heute eintreten.

Erinnerungspolitisch legt das Reichsbanner ebenso wie die deutschen Heimatvertriebenen besonderen Wert auf eine Politik, die selbstbewusst auch auf die positiven Teile und Traditionen der deutschen Geschichte aufmerksam macht. Dabei stehen die Revolution von 1848/1849 und die Paulskirche nicht nur für das Fanal des deutschen Parlamentarismus, sondern ebenso für ein Bekenntnis zur nationalen Einheit, das nicht Feindschaft, sondern Solidarisierung mit den Nachbarvölkern – und hier insbesondere dem polnischen Volk – begründete. Hinzu treten die demokratischen Errungenschaften der Weimarer Republik und der vielfältige Widerstand gegen den Nationalsozialismus sowie der Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953. Die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung Deutschlands in einem geeinten Europa, an denen nicht zuletzt Deutsche mit Wurzeln im Osten Europas Anteil nahmen, bilden jüngere Bezugspunkte eines positiven Selbstverständnisses.

Die Gegnerschaft zu politischem und religiösem Extremismus ist das Eine, das positive Bekenntnis zu unserem Land und zu unserer Demokratie ist das Andere. Denn aus den Geschehnissen in Weimar ebenso wie aus den Verwerfungen der Geschichte Deutschlands mit seinen Nachbarn muss die Lehre gezogen werden, dass der demokratische, republikanische deutsche Staat überzeugte Unterstützerinnen und Unterstützer braucht, die diesen Staat nicht nur als notwendiges Übel ansehen, sondern als positiven Wert an sich begreifen. Dies muss stets im Mittelpunkt allen erinnerungspolitischen Bemühens stehen.

Lucas Koppehl ist Bundesgeschäftsführer des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, Bund aktiver Demokraten e.V.

Tilman A. Fischer ist Vorstandsbeauftragter der Westpreußischen Gesellschaft – Landsmannschaft Westpreußen e.V.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 3/2021.

Militärgeschichte als Militärkritik

Rezension zu: Sönke Neitzel, Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte, Berlin 2020.

Tilman Asmus Fischer

Unter dem programmatischen Titel „Kirchengeschichte als Kirchenkritik“ erschien unlängst ein Sammelband mit Beiträgen des profilierten konservativen Kardinals Walter Brandmüller. Man könnte fast verleitet sein, das neue Buch „Deutsche Krieger“ des Profanhistorikers Sönke Neitzel unter den inoffiziellen Titel „Militärgeschichte als Militärkritik“ zu subsummieren. Nicht, dass Neitzels Standardwerk, welches vom Kaiserreich bis in die Gegenwart reicht, eine verteidigungspolitische Programmschrift im Kleide einer wissenschaftlichen Studie wäre. Dem schieben bereits das umfangreiche zugrundeliegende Quellenstudium sowie die analytische Schärfe des Verfassers einen Riegel vor. Jedoch leitet ebendiese analytische Schärfer den aufmerksamen Leser zu einem kritischen Nachdenken über das deutsche Militär an – und zwar sowohl in seiner facettenreichen Geschichte als auch in seiner gegenwärtigen Gestalt.

Die methodischen Prämissen seiner Analyse entfaltet Neitzel in der Einleitung, welche bereits die entscheidende sozialgeschichtliche Dimension begründet, die der Verfasser in seiner Untersuchung starkmacht, indem er – anhand der Landstreitkräfte – nach „tribal cultures“ [S. 19] der Truppengattungen fragt. Chronologisch durchschreitet das Buch sodann die Geschichte der Reichswehr in Kaiserreich und Weimarer Republik sowie der Wehrmacht im Dritten Reich, um sodann in zwei zeitlich parallel verlaufenden Kapiteln die Bundeswehr der Bonner Republik sowie (in knapperer Form) die Nationale Volksarmee zu beleuchten. Mit dem letzten Kapitel – zur Bundeswehr der Berliner Republik – schlägt Neitzel die Brücke zwischen Geschichte und Gegenwart, um abschließend nochmals die Grundlinien seiner Untersuchung in einem Resümee nachzuzeichnen.

Bundesminister der Verteidigung Theodor Blank am Rednerpult (darüber „Eisernes Kreuz“) bei Ansprache zur Überreichung der Ernennungsurkunden für die ersten 101 Freiwilligen der Bundeswehr am 12 November 1955 in der Ermekeilkaserne, Bonn. (Bundesarchiv, Bild 146-1995-057-16 / CC-BY-SA 3.0)

Hierzu gehört insbesondere die Einsicht, dass sich – unabhängig von oder auch im Kontrast zur BMVg-eigenen Erinnerungspolitik und zumal angesichts des Versäumnisses, eine eigene jüngere Tradition auszubilden – durchaus „tribal cultures“ [S. 596] über die unterschiedlichen Phasen deutscher Militärgeschichte hinweg bis in die Gegenwart hinein erhalten haben, für die das Bild des ‚Kriegers‘ weiterhin von nicht zu vernachlässigender Bedeutung ist. Neben diesem Befund steht derjenige einer Verteidigungspolitik, die sich – sowohl aufgrund des Traumas deutschen Militarismus als auch geprägt von der lange währenden Hoffnung, sich im Zeitalter der ‚Friedensdividende‘ einrichten zu können – durch ein Phänomen auszeichnet, das Neitzel mit dem Begriff des „strukturellen Pazifismus“ [S. 597] fasst.

Wenn sich Neitzel auch anachronistischen Vergleichen enthält, bietet seine detailreiche Studie doch eine Vielzahl von historischen Konstellationen und Situationen, von denen ausgehend sich heutige Verteidigungspolitik befragen lässt. Dies gilt etwa für das Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und Reichswehr in der Weimarer Republik. Entscheidend war hierfür der Rücktritt von Gustav Noske als Reichswehrminister infolge des Kapp-Putsches und der anschließende Verzicht der SPD auf das Wehrresort: „So verständlich dieser Schritt politisch war, so unglücklich war er rückblickend, da die Sozialdemokratie damit wichtigen Gestaltungsspielraum aufgab.“ [S. 85] Bedenkt man die hierdurch mitbeförderte „Entfremdung von Reichswehr und Republik“, lässt sich angesichts jüngster Sach- und Personalentscheidungen nur hoffen, dass die „ambivalente Haltung“ der SPD „zur Armee“ (S.86), die ihr Neitzel für die erste deutsche Demokratie attestiert, in der Gegenwart nicht neuerlich wirkmächtig(er) wird. 

Unter anderem Titel erschienen in: Zeitschrift Wehrtechnik, Ausgabe I/2021, Seite 85.

Im Schatten des Vernichtungskrieges

Sönke Neitzel über geschichtspolitische Debatten um die deutschen Streitkräfte

Professor Neitzel, im August 1957 gratulierte das Bundesorgan der Landsmannschaft Westpreußen deren stellvertretenden Sprecher General a.D. Walther K. Nehring zum 65. Geburtstag. Die Meldung, welche ein Bild des Jubilars in Uniform ziert, würdigt die militärischen Erfolge des Ritterkreuzträgers im Zweiten Weltkrieg, u. a. als Kommandierender General des Deutschen Afrikakorps, und beziffert, er sei „fünfmal verwundet“ worden, „davon zweimal als General“. In welchem Sinne ist diese Personalmeldung symptomatisch für das Bild der Wehrmacht in der Zivilgesellschaft der jungen Bundesrepublik?

Weite Teile der Gesellschaft sahen in hoch ausgezeichneten Soldaten wie Walther Nehring Vorbilder, Repräsentanten einer Wehrmacht, die als eine der besten Armeen der Welt galt. Nehring umwehte der Nimbus der deutschen Panzertruppe – er war in Frankreich, der Sowjetunion und Afrika an vielen Siegen der Wehrmacht beteiligt. In dem zerstörten, besetzten und geteilten Land blieb aus den Kriegsjahren nicht mehr viel, auf das man sich positiv beziehen konnte. Der Nimbus der einstigen militärischen Erfolge, der Siegeslauf der ersten Kriegshälfte, auch die Überzeugung, eigentlich die beste Armee der Welt gehabt zu haben, das waren für Millionen Deutsche wichtige Bezugspunkte, die Nehring symbolisierte. Und über solche Personen ließen sich Millionen ehemaliger Wehrmachtsoldaten in den neuen Staat integrieren. Über den Vernichtungskrieg wurde dabei natürlich nicht gesprochen.

Der fünffach verwundete Ritterkreuzträger Nehring dürfte gewiss dem Bild der „Deutschen Krieger“ entsprechen, die ihrem neuesten Buch den Titel gegeben haben. Was hat es mit diesem Soldatenbild auf sich – und welche Bedeutung kommt ihm in den heutigen deutschen Streitkräften zu?

Dass Streitkräfte dazu da sind, militärische Gewalt anzudrohen oder anzuwenden, ist über Jahrhunderte Allgemeingut gewesen. Die Katastrophen des Zweiten Weltkrieges veränderten gerade in der Bundesrepublik aber das Verhältnis zum Militär grundlegend, zumal der Krieg in Zeiten von Atomwaffen nicht mehr als sinnvolle Option der Politik gelten konnte. Soldaten wurden nun nicht mehr nur von der Logik des Krieges her gedacht, sondern immer mehr vom Alltag des Friedens. Und nach 1990, mit dem Ende des Kalten Krieges, wurden keine „Krieger“ mehr gebraucht. Es ging ums Retten, Schützen und Helfen, nicht mehr ums Kämpfen. In der Kampftruppe selbst denkt man sicher anders, hier wird das scharfe Ende des Berufes sehr ernst genommen. Aber der Alltag der Bundeswehr wird heute – etwas überspitzt formuliert – vom Frieden und der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie bestimmt, nicht von Kampfeinsätzen. Mit denen hadert die Gesellschaft, zumal die Erfahrungen von Afghanistan berechtigten Zweifel an dem Sinn solcher Operationen schüren. Schon der Begriff „Krieger“ erscheint uns daher vollkommen aus der Zeit gefallen.

Bundesminister der Verteidigung Theodor Blank am Rednerpult (darüber „Eisernes Kreuz“) bei Ansprache zur Überreichung der Ernennungsurkunden für die ersten 101 Freiwilligen der Bundeswehr am 12 November 1955 in der Ermekeilkaserne, Bonn.
(Bundesarchiv, Bild 146-1995-057-16 / CC-BY-SA 3.0)

In welchem Verhältnis stehen die gelebte Traditionspflege der Truppe und die offizielle Geschichtspolitik des Bundesministeriums der Verteidigung?

Der offizielle Traditionsbegriff ist im Wesentlichen ein politischer, der sich an den Werten und Normen des Grundgesetzes orientiert und damit an den Grundfesten unserer Demokratie. In der Truppe gibt es daneben aber durchaus noch ein anderes, gewissermaßen inoffizielles Traditionsbild, dass sich auch an handwerklichen Vorbildern orientiert. Und auf dieser Ebene spielt die Zeit vor 1945 eine stärkere Rolle – wenngleich die Bezüge zu einzelnen Wehrmachtsoldaten oder Offizieren der kaiserlichen Armee bzw. aus den Befreiungskriegen sicher mit der Zeit immer weniger werden. Wie man mit dem Bedürfnis gerade der Kampftruppen nach „artgerechten“ Vorbildern, also nach solchen, die auch gekämpft haben, umgehen soll, ist bislang ein Problem, dem eher mit Verboten, denn mit konstruktiven Ideen begegnet wird.

Dem idealisierten Bild der Wehrmacht und der „Deutschen Krieger“ stehen Narrative gegenüber, die sich einer dezidiert kritischen Perspektive auf die deutsche Militärgeschichte verdanken. Einige von ihnen beleuchten Sie in Ihrem Buch. Lassen Sie uns zwei von ihnen aufgreifen: die gesamtgesellschaftliche Militarisierung des kaiserzeitlichen Preußens und die Reichswehr der Weimarer Republik als „Staat im Staate“. Wie steht es um das Recht und die Grenzen dieser Deutungsmuster?

Nach meiner Interpretation schießen diese Perspektiven übers Ziel hinaus. Gewiss hatte das Militär in Staat und Gesellschaft des Kaiserreiches eine starke Stellung, aber sie war weniger umfassend als dieses Narrativ vorgibt. Dasselbe gilt für den „Staat im Staate“. Das Schlagwort fehlt in keiner Fernsehdokumentation, keinem Zeitungsartikel und steht auch im aktuellen Traditionserlass. Es trifft meines Erachtens aber nicht zu, denn viele Teile der Gesellschaft haderten ebenso wie das Militär mit der Republik, teilten die Werte und Normen der Reichswehr. Sie war in Staat und Gesellschaft gewiss kein Fremdkörper.

Seit 1999 ist die Bundeswehr an Kriegseinsätzen beteiligt. Warum konnte es seither nicht zu einer nennenswerten eigenen Traditionsbildung kommen, die eine Alternative bzw. Ergänzung zu Bezugnahmen auf die vorbundesrepublikanische Militärgeschichte darstellen könnte?

Die Bundeswehr war ein Meister darin, Traditionen zu zerstören, aber tat sich immer schwer damit, neue aufzubauen. Das lag gewiss auch daran, dass auf allerhöchster Ebene diesem Thema bis heute zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es ging immer eher darum, sich schrittweise von der Wehrmacht zu trennen, aber nicht um die Frage, was an neuer Tradition an diese Stelle treten sollte. Die Traditionsdebatte erscheint als ein vermintes Gelände, das man zu umschiffen sucht. Dies auch, weil man fürchtet, dass das Herausstellen der Kampfeinsätze in der Traditionsarbeit in der Gesellschaft kritisch gesehen werden könnte.

1939 hatte das Deutsche Reich die Republik Polen überfallen. Spätestens nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 75 Jahre später ist Polen – neben anderen ostmitteleuropäischen Staaten – auf die Fähigkeit der Bundesrepublik zur Bündnisverteidigung angewiesen. Wie steht es um diese und was hat der Zustand der Bundeswehr auch mit geschichtspolitischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte zu tun?

Um die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr in der Bündnisverteidigung steht es trotz aller Trendwenden schlecht. Die Lage ist in den letzten fünf Jahren etwas besser geworden, aber am Urteil der nur sehr bedingten Einsatzbereitschaft hat sich nichts geändert. Die Polen können – leider – von den Deutschen nur wenig substantielle Unterstützung erwarten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Es liegt gewiss nicht nur an der historischen Erfahrung der Deutschen, von denen sehr viele nach Weltkrieg und Holocaust vom Militär die Nase voll haben. In den frühen 2000er Jahren konzentrierte man sich auf die Auslandseinsätze und gab angesichts der weltpolitischen Lage die Bündnisverteidigung de facto auf. Dies war aus der damaligen Situation heraus gewiss nachvollziehbar, hatte aber zur Folge, dass man ab 2014, als mit der Ukrainekrise das Thema wieder auf die Agenda kam, beinahe nackt dastand.

Mit Blick auf die heutige Bundeswehr könne Sie in Ihrem Buch gar von „strukturellem Pazifismus“ sprechen. Sind die Streitkräfte damit beim Gegenteil der „Deutschen Krieger“ angekommen – und, wenn ja, besteht Aussicht auf einen Mittelweg jenseits beider Extreme?

Es wäre sicher sinnvoll, wenn die Bundeswehr strukturell auch kampffähig wäre, zumindest verlangt das die NATO und ist auch der Anspruch in der Truppe selbst. Ich glaube aber nicht, dass sich am strukturellen Pazifismus auf absehbare Zeit etwas ändern wird. Die Deutschen fühlen sich einfach nicht so sehr bedroht und der Kulturbruch des Vernichtungskrieges bestimmt bis heute den Diskurs über Krieg und Militär. So wird sich die Politik zwischen außenpolitischen Anforderungen der NATO und innenpolitischen Zwängen weiter durchwurschteln.

Die Fragen stellte Tilman Asmus Fischer.

Erschienen in: DOD – Deutscher Ostdienst 6/2020; Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2021.

Verwandelnde Kraft des gemeinsamen Erinnerns

Anlässlich des Erscheinens des Sammelbandes „Geteilte Erinnerung – versöhnte Geschichte?“ spricht Annette Kurschus im Interview mit Tilman Asmus Fischer über die Aufarbeitung der deutsch-polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende ist Beauftragte des Rates der EKD für die deutsch-polnischen Beziehungen.

Präses Kurschus, welche Impulse konnten im Rahmen des offiziellen Gedenkens zum 80. Jahrestag des Überfalls auf Polen 2019 gesetzt werden, wie es das Buch „Geteilte Erinnerung – versöhnte Geschichte?“ exemplarisch dokumentiert?

Den 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen haben wir, die Evangelische Kirche in Deutschland gemeinsam mit unseren Partnern im Polnischen Ökumenischen Rat, zum Anlass genommen, in Warschau einen ökumenischen Gedenk- und Friedensgottesdienst zu feiern. In ihrer jeweiligen polnischen oder deutschen Muttersprache kamen darin Menschen zu Wort, die das Leid hautnah erlebt haben und trotzdem – oder gerade deshalb – über Jahrzehnte hinweg behutsame Schritte aufeinander zu gegangen sind. Welche verwandelnde Kraft das gemeinsame Erinnern in sich birgt und wie es uns ermutigt, den Weg der Versöhnung konsequent weiterzugehen, wurde an diesem Tag spürbar.

Präses Dr. h. c. Annette Kurschus (Foto: EKvW / Jörg Dieckmann)

Welche Akzente wiederum setzt der von Ihnen mitverantwortete Sammelband für die kritische Auseinandersetzung mit den Jahren von Nationalsozialismus und Krieg, die vor 75 Jahren endeten?

Unser Band versammelt teils unveröffentlichte Forschungsbeiträge, die aus der Arbeit der sog. Gemeinsamen Kirchengeschichtskommission des Rates der EKD und des Polnischen Ökumenischen Rates hervorgegangen sind. Die Kommission hat ihre Arbeit im Wendejahr 1989 aufgenommen und in vielfacher Hinsicht Neuland betreten. Zum ersten Mal überhaupt haben sich deutsche und polnische Forscher gemeinsam einem Zeitabschnitt zugewandt, der auf beiden Seiten mit traumatischen Erinnerungen verbunden ist. Auf deutscher Seite haben sie uns mehr und mehr zu verstehen gegeben, wie tief unselige Ideologien und nationalsozialistische Propaganda auch unsere kirchliche Haltung gegenüber unseren polnischen Nachbarn geprägt haben – übrigens bis weit über 1945 hinaus. Insofern dokumentiert unser Sammelband, wie wichtig die historische Aufarbeitung dieser unheilvollen Verästelungen für den Verständigungs- und Versöhnungsprozess zwischen Polen und Deutschen bis heute ist. Unsere Erinnerungskultur braucht die historische Expertise, nicht nur um das Vergangene zu verstehen, sondern auch unsere gegenwärtige Verantwortung zu begreifen.

1945 bedeutete zugleich insofern eine historische Zäsur, als eine nicht gewaltlose Nachkriegszeit und letztlich Jahrzehnte der Blockkonfrontation folgten. Welche Aspekte dieser spannungsreichen Phase werden von den Autoren beleuchtet?

Die Beiträge zur Entwicklung in den Nachkriegsjahren arbeiten die verheerenden Folgen des Nationalsozialismus, die Konsequenzen der territorial-politischen Verän­derungen und die Auswirkungen der kommunistischen Regime auf die Kirchen in Polen und in Deutschland auf. Sie decken Versuche ihrer Instrumentalisierung auf, aber auch die zarten Neuanfänge der Annäherung. Exemplarisch verweise ich auf die Arbeit meines Mitherausgebers Dr. Bernd Krebs, der sich um die Erforschung der deutsch-polnischen Beziehungen in besonderer Weise verdient gemacht hat, und die seines polnischen Kollegen Jarosław Kłaczkow. Es ist ein Erfolg der Gemeinsamen Kirchengeschichtskommission, dass zur Erforschung dieser wichtigen Phase neben deutschen Quellen erstmals auch Quellen aus kirchlichen Archiven in Polen genutzt wurden. Nur so konnte ein differenziertes Bild entstehen.

Wie ist vor dem Hintergrund dieser Rahmenbedingungen das historische Versöhnungswerk evangelischer Christen diesseits und jenseits von Oder und Neiße zu bewerten?

Tatsächlich wird man sagen dürfen, dass der Verständigungs- und Versöhnungsprozess zwischen Deutschland und Polen, der ja ein Meilenstein zur Überwindung der Teilung Europas war, wesentlich von den Kirchen in Deutschland und Polen mitgestaltet und befördert wurde. Er begann leise und unscheinbar durch Einzelkontakte, Gemeindebesuche und erste Partnerschaften. Historische Bedeutung erlangte daraufhin die sog. „Ostdenkschrift“ der EKD aus dem Jahr 1965, die in grundsätzlicher Weise die Frage nach dem Verhältnis zu den polnischen Nachbarn gestellt hat und damit der Annäherung auf politischer Ebene den Boden bereitete. Aber, und das betone ich ausdrücklich, es waren nicht nur evangelische Christen an diesem Prozess maßgeblich beteiligt. Ich erinnere an einen Brief desselben Jahres, worin katholische polnische Bischöfe an ihre deutschen Amtskollegen schrieben: „Wir vergeben und wir bitten um Vergebung“. Auch das war ein Meilenstein.

Welchen Beitrag können die protestantischen Kirchen in Deutschland und Polen zum grenzübergreifenden Miteinander heute erbringen, da die Beziehungen zwischen dem westlichen und östlichen Europa auf neuartige Weise angespannt sind?

Gerade in der gegenwärtigen Situation, in der die Vorbehalte zwischen europäischen Partnern und Nachbarn wieder größer zu werden drohen, in der rechtspopulistische Kräfte Sand ins Getriebe des Versöhnungsprozesses streuen und Öl ins Feuer alter Ressentiments gießen, kommt den starken Beziehungen zwischen unseren Kirchen eine wichtige Bedeutung zu. Ich denke an die vielen Gemeindepartnerschaften, die den Dialog fördern und aufrecht erhalten. Und ich denke an die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Polnischen Ökumenischen Rat und ihre jahrzehntelange gute Tradition. Gemeinsam mit unseren polnischen Partnern beobachten wir die Entwicklungen in Europa mit Sorge. Wir werden nicht tatenlos zusehen, wie rückwärtsgewandte Geister den Versöhnungs- und Friedensprozess in Europa umkehren.

Bernd Krebs/Annette Kurschus/Dirk Stelter (Hrsg.), Geteilte Erinnerung – versöhnte Geschichte? Deutsche und polnische Protestanten im Spannungsfeld der Ideologien des 20. Jahrhunderts, Verlag Kohlhammer, Stuttgart 2020, 258 Seiten, 29 Euro

Erschienen in: „die Kirche“ – Evangelische Wochenzeitung für Berlin, Brandenburg und die schlesische Oberlausitz 45/2020.

Niederlagen können manchmal befreiend sein

Anlässlich des 75. Jahrestages der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am Ende des Zweiten Weltkriegs ist – wie bereits mehrfach in den vergangenen Jahrzehnten – über die Deutung des 8. Mai 1945 diskutiert worden. Dabei stand erneut die von Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 geprägte Formulierung des „Tages der Befreiung“ im Zentrum der Debatte. Über die Potenziale und Grenzen dieses Begriffs sprechen der Journalist und DW-Redakteur Tilman Asmus Fischer und der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Joseph Verbovszky – und fragen nach der Bedeutung des Gedenktags für Europa.

Tilman Asmus Fischer: Im Mai hat sich fast die ganze westliche Welt an den 75. Jahrestag des Kriegsendes und Sieges über Deutschland erinnert. Mit seiner berühmten Rede von 1985 hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker für den 8. Mai den Begriff des „Tags der Befreiung“ auch in die offizielle Erinnerungskultur Deutschlands implementiert. Wie blicken Sie als Politikwissenschaftler und Historiker, der sich mit den Folgen des „kulturellen Traumas“ des Zweiten Weltkrieges für die deutsche Politik befasst, auf die heutige Verwendung des Begriffs „Tag der Befreiung“?

Joseph Verbovszky: Der 8. Mai ist für viele, aber nicht für alle ein „Tag der Befreiung“, denn Deutschland hat letztlich den Krieg verloren und Ostdeutschland sowie ganz Osteuropa kamen von einer Schreckensherrschaft unter die nächste. Dennoch stellt der deutsche Außenminister Heiko Maas in einem gemeinsamen Beitrag mit Andreas Wirsching zum 8. Mai 2020 für den „Spiegel“ eine wichtige Frage, nämlich: Wie können wir diesen Tag in das kollektive Gedächtnis Europas eingehen lassen, damit er uns vereint?

Interessanterweise klingt dies bereits in der Weizsäcker-Rede zumindest am Rande an, insofern der 8. Mai nicht per se als „Tag der Befreiung“ selbstverständlich ist: Wenn von Weizsäcker eben auf die mit dem Kriegsende einhergehende Etablierung der kommunistischen Gewaltherrschaft im östlichen Europa verweist, überlässt er dem Hörer bzw. Leser die Frage, inwiefern für die Völker des Ostblocks der 8. Mai 1945 in einem umfassenden Sinne eine Befreiung bedeutete. Expliziter spricht er deren Lage erst 1989 in seiner Rede zum Jubiläum des Grundgesetzes an: Jenseits der Grenzen Europas lebten „Menschen, die Europäer sind wie wir, geprägt von der gemeinsamen Geschichte, erfüllt vom selben Verlangen nach Freiheit und gerechten Lebenschancen“.

Überhaupt ist es nicht ganz ohne Ironie, dass sich der Begriff des „Tags der Befreiung“ gerade mit dieser 1985 gehaltenen berühmtesten Rede von Weizsäckers verbindet: Diese ist möglicherweise der eilig angefertigte Neuentwurf einer Rede, in der Weizsäcker ursprünglich auch für Rudolf Heß, den ehemaligen Stellvertreter Hitlers, um Begnadigung ersuchen wollte. So behauptete es zumindest der damalige Redenschreiber von Weizsäckers, Friedbert Pflüger. Aufgrund des Skandals um den Besuch Bundeskanzler Helmut Kohls und des US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagen auf dem Soldatenfriedhof Bitburg, wo unter anderem auch Angehörige der Waffen-SS beerdigt worden sind, musste von Weizsäcker seine Rede umschreiben, was zu der allgemein bekannten Fassung führte.

Aber mindert das die große Bedeutung von Weizsäckers Rede?

Nein, denn mit ihr stellte sich der Bundespräsident eben einem kulturellen Trauma der deutschen Gesellschaft. Laut dem Soziologen Jeffrey Alexander folgt ein kulturelles Trauma nicht direkt aus den unmittelbaren Erschütterungen eines historischen Ereignisses – also etwa eines Krieges oder einer Niederlage. Es entsteht vielmehr erst, wenn die mit diesen Ereignissen verbundenen Erfahrungen in das kollektive Gedächtnis eingehen, wo sie einen wesentlichen Teil der kollektiven Identität bilden. Dies geschieht, indem soziale Akteure wie etwa Staatspräsidenten in herausgehobenen Sprachhandlungen um die Deutungshoheit des historischen Geschehens ringen.

In welcher Weise hat von Weizsäcker dies unternommen?

Von Weizsäcker postulierte: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Diese Aussage blieb nicht unumstritten. In der Tat, als eine erste Reaktion distanzierten sich 30 Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU von von Weizsäckers Aussage. Und zehn Jahre später fand die Debatte auch noch kein Ende, denn einige dieser Parlamentarier veröffentlichten nun einen „Appell“, in dem sie von Weizsäcker aufs Schärfste kritisierten: dessen Bezeichnung des 8. Mai könne „nicht Grundlage für das Selbstverständnis einer selbstbewussten Nation sein“.

Aber geht von Weizsäckers Deutung des 8. Mai in ihrer Gesamtheit im Begriff des „Tags der Befreiung“ auf? Lassen Sie mich einen Gedanken aus der Bibelwissenschaft auf die Deutung dieses Dokuments der Zeitgeschichte anwenden! In der biblischen Exegese ist die Frage nach der inhaltlichen Mitte der Schrift von zentraler Bedeutung. Es geht um die Frage nach einer Kernaussage – die Ausleger in der Christusbotschaft erkennen –, von der aus sich die Gesamtheit der Schrift erschließen lässt. Dies bedeutet jedoch wiederum nicht, dass diese inhaltliche Mitte jeden der biblischen Texte gleichermaßen regiert; vielmehr treten weitere Bedeutungsgehalte und Aussagen neben die Kernaussage. Gilt das nicht auch für die Weizsäcker-Rede? Deren inhaltliche Mitte ist zu Recht in der Aussage identifiziert worden: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ In ihrer Rezeptionsgeschichte scheint jedoch weitestgehend vergessen worden zu sein, dass eben auch im Falle dieses Textes sein gesamter Aussagegehalt nicht in seiner inhaltlichen Mitte aufgeht. Unterzieht man die Rede heute, nach 35 Jahren, einer Wiederlektüre, wird vielmehr deutlich: Die aus der Rede abgeleitete und heute scheinbar selbstverständliche Apostrophierung des 8. Mai als „Tag der Befreiung“ ist gerade keine Selbstverständlichkeit, sondern eine höchst voraussetzungsreiche Einsicht, deren Komplexität nicht reduziert werden darf.

Dies aber geschieht aktuell. Und so scheint weniger von Weizsäckers umfassendere Interpretation des 8. Mai als vielmehr das mit ihr gesetzte Narrativ des „Tags der Befreiung“ die Deutungshoheit errungen zu haben, nicht nur in Deutschland, sondern im gesamten Westen. Die Auseinandersetzung ist aber nicht endgültig beigelegt, denn nicht wenige beharren immer noch auf einem „Tag der Niederlage“. Also lautet die Frage in der öffentlichen Debatte weiterhin zugespitzt: „Tag der Niederlage“ oder „Tag der Befreiung“?

Tilman A. Fischer und Joseph Verbovszky im Gespräch.

Für wen gewinnt der 8. Mai dabei welche Bedeutung? Zunächst: Der „Tag der Befreiung“…

Das war der 8. Mai sicherlich für ganz Westeuropa sowie alle Menschen, die die Schrecken des Terrors – wie diejenigen der Konzentrationslager – erleben mussten. Die Rede von Weizsäckers hat Platz genau für dieses Narrativ im kollektiven Gedächtnis der Deutschen geschaffen, auch wenn Deutschlands Niederlage eine historische Tatsache bleibt. Obwohl wir die Geschichte nicht ändern können, haben wir die Freiheit, das kollektive Gedächtnis fortwährend umzubilden. Mit wachsender Distanz zu den historischen Ereignissen gewinnt das kollektive Gedächtnis an Bedeutung, vor allem für künftige Generationen. In diesem Sinne war die Rede von Weizsäckers ein „Reclaiming“, eine Art Neu-Besetzung des 8. Mai als „Tag der Befreiung“.

Und wie steht es um den „Tag der Niederlage“?

Die meisten Deutschen, darunter auch viele Flüchtlinge aus den verlorenen Ostgebieten, hätten unmittelbar nach dem Kriegsende sicherlich erstaunt geschaut, wenn jemand den 8. Mai als Tag der Befreiung bezeichnet hätte. Viele Osteuropäer, die die Gewaltherrschaft des Warschauer Pakts bis 1990 erdulden mussten, hätten dieser Charakterisierung des Kriegsendes wohl auch nur mit der Pistole auf der Brust zugestimmt – was sie dann ja auch im übertragenen Sinne über Jahrzehnte vollziehen mussten. Das heißt aber wohlgemerkt nicht, dass sie sich über einen deutschen Sieg gefreut hätten.

Bemerkenswert sind doch die Worte, die von Weizsäcker mit Blick auf Flucht und Vertreibung fand: „Bei uns selbst wurde das Schwerste den Heimatvertriebenen abverlangt.“ Diese Formulierung erinnert wohl nicht umsonst an die – heute ideologiegeleiteter Kritik ausgesetzte – Forderung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen: „Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.“ Gerade vor dem Hintergrund der inneren Ambivalenz der „Erfahrungszäsur“ (Edgar Wolfrum) des 8. Mai, die Weizsäcker eben gerade nicht negiert, sondern aushält, wird verständlich, dass er diesen Tag auch – und vornehmlich –, aber eben nicht eindimensional und ausschließlich als „Tag der Befreiung“ bezeichnet. So handelt es sich für ihn aus deutscher Perspektive um „kein[en] Tag zum Feiern“, sondern vielmehr einen „Tag der Erinnerung“.

Ebenso vielschichtig wie von Weizsäckers Deutung des 8. Mai ist übrigens die Frage, was aus dieser historischen Zäsur folgte. Hierfür muss man verstehen, was an dem Tag verloren sowie gewonnen wurde. Denn dies hat Konsequenzen auch für Gegenwart und Zukunft – zumal Europas.

Gehen wir dem nach! Was wurde verloren?

Deutschlands Souveränität sowie seine hegemonialen Ansprüche und – am wesentlichsten für die Zeit nach dem Krieg – das Vertrauen der Völkergemeinschaft. Der 8. Mai 1945 bedeutete aber auch das Ende der eurozentrischen Weltordnung. Das Europa der Vorkriegszeit war alleine nicht in der Lage gewesen, das Hegemonialstreben Deutschlands zu bändigen; ebenso war Deutschlands Gegenentwurf eines von Berlin dominierten „europäischen“ Großreichs gescheitert. Aus diesen Trümmern erstand die euro-atlantische Ordnung unter der Führung der USA, in deren wirtschaftlichen, kulturellen und militärischen Strukturen wir heute leben. In diesem Sinne erfuhr auch „Europa“ – als eigenständige weltpolitische Größe – am 8. Mai 1945 einen eindeutigen „Tag der Niederlage“.

Dies entspricht dann aber auch schon wieder der Näherbestimmung dessen, was für von Weizsäcker der „Tag der Befreiung“ bedeutete, nämlich die Befreiung „von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ bzw. „das Ende eines Irrwegs deutscher Geschichte […], das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg“. Also: Was wurde wiederum gewonnen?

Frieden und eine neue stabile internationale Ordnung der humanistischen Werte, die zu beispiellosem Wachstum und Fortschritt der westlichen Welt geführt hat. Dies war aber nur möglich im Kontext der Westbindung, dominiert durch die USA.

Lassen Sie uns zum Schluss vor dem Hintergrund unserer Überlegungen auf die Frage des Bundesaußenministers zurückkommen: Wie können wir den 8. Mai in das kollektive Gedächtnis Europas integrieren, so dass er die Gemeinschaft vereint?

Der 8. Mai kann uns vereinen, indem wir gedenken, was verloren gegangen ist, und feiern, was wir gewonnen haben. Dies ist aber keineswegs ein ausschließlich europäisches Narrativ. Unsere heutigen Werte sind nicht exklusiv europäisch, sondern allgemein westlich und werden auf beiden Seiten des Atlantiks geteilt. Diese Tatsache müssen wir anerkennen, wenn wir ein wahrhaftiges und der Zukunft zugewandtes Narrativ schaffen wollen. Wir müssen anerkennen, dass die alte Welt endgültig verloren ist und etwas Neues auf den Trümmern dessen gewachsen ist, wovon wir ein Teil sind. Und es ist genau dieses Akzeptieren der Veränderung, das befreiend wirkt.

Joseph Verbovszky promoviert an der Universität der Bundeswehr München zum Thema „Cultural Trauma and National Security: Structural Pacifism in Germany“. Er besitzt Master-Abschlüsse in International Relations and Economics von der Johns Hopkins School of Advanced International Studies sowie in Geschichte von der Case Western Reserve University. Er war als Strategic Analyst sowohl im deutschen als auch im Schweizer Defense-and-Technology-Sektor tätig.

Zum 100. Geburtstag Richard von Weizsäckers hat der Verlag Herder eine Sammlung von Reden des früheren Bundespräsidenten zur Demokratie herausgegeben. Diese enthält neben der Rede zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges auch diejenigen zu 40 Jahre Grundgesetz 1989 und zur deutschen Einheit 1990. Ergänzt werden diese Dokumente durch ein Vorwort von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sowie eine Einordnung des Zeithistorikers Edgar Wolfrum.
Richard von Weizsäcker, Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander. Reden zur Demokratie, Freiburg i. Br. 2020. Geb., 112 S., € 14,–; ISBN: 978-3-451-07218-5.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 5/2020.

Historische Urteilskraft?

Die Philosophin Hannah Arendt analysierte den Totalitarismus, war aber eine Verteidigerin der Thesen Hochhuts. Das Deutsche Historische Museum widmet ihr eine Ausstellung.

Von Tilman Asmus Fischer

„Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ – viel umfassender als aktuell das Deutsche Historische Museum (DHM) kann man wohl kaum Titel und Thema einer Sonderausstellung abstecken: auf der einen Seite das Denken einer der wohl prägendsten jüdischen Intellektuellen der Moderne, auf der anderen Seite ein von zwei Weltkriegen, fundamentalen ideologischen Konfrontationen und epochalen sozialen wie kulturellen Umbrüchen gekennzeichnetes Jahrhundert – und dazwischen das kleine Wörtchen „und“. Dieses „und“ zu füllen, also die Bezüge der politischen Theoretikerin zu ihrem historischen Kontext aufzuzeigen, ist eine ideengeschichtliche wie museologische Herausforderung.

Das Museum versucht sich an deren Bewältigung, indem es Hannah Arendt als öffentliche Intellektuelle herausstellt und in die gesellschaftlichen beziehungsweise politischen Diskurse ihrer Schaffenszeit einordnet. Diese reichen vom Antisemitismus der Weimarer Republik, vor dessen Hintergrund sich Arendt an eine Habilitation über die jüdische Salondame der Aufklärung Rahel Varnhagen begab, über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die sie insbesondere – aber nicht nur – als Chronistin des Jerusalemer Eichmann-Prozesses mitprägte sowie den Begriff der „Banalität des Bösen“, bis zur Frauenbewegung der 1970er Jahre, der sie skeptisch gegenüberstand.

Dabei ist die Ausstellung vor allem von dokumentarischem Wert. Sie versammelt nicht nur vielfältige Exponate, die vom Schaffen ebenso wie vom Leben der Denkerin zeugen – neben Erstausgaben und Briefen Arendts etwa auch ihre US-amerikanische Einbürgerungsurkunde von 1951 und ihre Nerzjacke. Daneben finden sich vielmehr zahlreiche Film- und Tonaufnahmen sowie Vitrinen, die exemplarisch die historischen Kontexte und alltagsgeschichtlichen Hintergründe ihrer Debattenbeiträge illustrieren. Dies alles findet sich thematisch gruppiert nach Schwerpunkten wie etwa „Zionismus“, „Jewish Cultural Reconstruction“ (die sich unter Arendts Geschäftsführung ab 1949 um die Rückführung geraubter jüdischer Kunst bemühende Organisation) oder „Überlegungen zu Little Rock“ (Arendts umstrittener Aufsatz zum Umgang mit der Rassentrennung in den USA). Ergänzt werden diese Hauptkapitel der Ausstellung um Biografien, die das Netzwerk der Freundschaften erschließen, die Hannah Arendt pflegte, Einheiten zu ihr als Fotografin und fotografisch porträtierte Intellektuelle, sowie einer Videoinstallation, die sich um eine Aktualisierung Arendts für das 21. Jahrhundert bemüht. In einem weiteren Vorführungsraum besteht die Möglichkeit, sich das legendäre Gespräch Arendts mit Günter Gaus aus dessen Reihe „Zur Person“ von 1964 anzusehen.

Bedauerlicherweise erschließen sich die eigentlichen Kontroversen, die Hannah Arendt zu den einzelnen Themen führte – über die Stichworte hinaus, welche die Wandtexte liefern – erst mittels Audiostationen zu den jeweiligen Einheiten. Diese bieten allermeist gelesene Passagen aus Arendts Texten und aus solchen ihrer Diskussionspartner und Kritiker. Wer nicht gezielt jede dieser Audiostationen ansteuert und sich die Tonspur anhört (aufgrund der gegenwärtigen Hygienerichtlinien darf dies aktuell nur eine Person gleichzeitig) oder bereits mit einem fundierten Vorwissen die Ausstellung besucht, dürfte sich mit den Exponaten nicht selten alleingelassen fühlen. Überdies bescheiden sich die für das Verständnis der Ausstellung maßgeblichen Audiostationen sodann eben vornehmlich auf gelesene Quellentexte. In der Gesamtschau, die Einblicke in die jeweiligen Debatten liefert, löst das DHM somit zwar durchaus den Selbstanspruch ein, eine Ausstellung „über die Lust und das Wagnis zu urteilen“ zu bieten. Was sie jedoch nicht bietet, ist eine eigenständige Deutung des politischen Denkens Arendts oder eine Interpretation von dessen großen Linien.

Wem eine solche Deutung fehlt, der sei auf den zur Ausstellung erschienenen – und von Dorlis Blume, Monika Boll sowie Raphael Gross herausgegebenen – gleichnamigen Sammelband verwiesen. Dessen Beiträger fragen sowohl nach dem jüdischen Selbstverständnis bei Arendt als auch nach ihrer intellektuellen Verarbeitung von Nationalsozialismus und Weltkrieg: Ihre Theorie des Totalitarismus und die juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit geraten dabei ebenso in den Blick wie zentrale Themen ihres Schaffens in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Daneben nehmen sich die Beiträge aber auch des Nachdenkens Arendts über ihre neue Heimat, die Vereinigten Staaten, und die Protestbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Beschlossen wird der Band von Aufsätzen, die das politische Denken Arendts auf grundsätzlicher Ebene reflektieren. Ausgehend von dem bei Piper erschienenen Buch lassen sich sodann auch die weiteren philosophiegeschichtlichen Traditionen erschließen, an die Arendt anknüpft, die jedoch in der Ausstellung aufgrund der Konzentration auf die Debatten der Zeit Arendts weitestgehend ausgeklammert bleiben.

Ein gerade heute brisantes Kapitel der Ausstellung bildet dasjenige zu Arendts Solidarisierung mit dem deutschen Dramatiker Rolf Hochhuth anlässlich der öffentlichen Kritik an seinem Drama „Der Stellvertreter“. In diesem hatte Hochhuth massive Vorwürfe gegenüber der Haltung des Vatikans beziehungsweise Pius XII. zur Shoa zum Ausdruck gebracht. Hier findet der Ausstellungsbesucher zwar Exponate zu Hochhuths Drama – etwa das Papst-Kostüm der Uraufführung – und das Fernsehinterview, in dem sich Arendt Hochhuths Vorhaltungen einer unbegründeten und moralisch fragwürdigen Zurückhaltung der vatikanischen Diplomatie gegenüber dem Deutschen Reich anschloss. Die bereits seit Jahrzehnten geführte – und just in diesem Jahr durch die Öffnung einschlägiger vatikanischer Archivbestände befeuerte – kirchengeschichtliche Debatte um die historische Haltbarkeit ebendieser Kritik, findet allerdings keinerlei Berücksichtigung.

Trotz solcher Versäumnisse gelingt der Ausstellung vor allem eins, nämlich das nach allen Seiten hin eigenständige und unangepasste Wesen des Denkens und öffentlichen Wirkens von Hannah Arendt herauszustellen. Dies gilt etwa zum einen für ihre Totalitarismustheorie, für die sie von Teilen der politischen Linken im Westen angegriffen, die jedoch von Dissidenten im Ostblock dankbar aufgegriffen wurde. Dies beleuchtet auch Stefan Auer in seinem Beitrag zur Begleitpublikation über „Arendt-Lektüre in Osteuropa. Zwischen existenzieller Philosophie und Politik“. Zum anderen sind da Arendts scharfsinnige Beobachtungen zur „theoretische[n] Sterilität“ der 1968er Protestbewegungen. Diese Kritik erscheint – angesichts der ideologischen Frontstellungen heutiger politischer und gesellschaftlicher Debatten – auch gegenwärtig noch bedenkenswert.

Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“, Deutsches Historisches Museum, Berlin, 27. März bis 18. Oktober 2020, weitere Informationen: http://www.dhm.de
Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.): Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert. Piper, München 2020; 288 Seiten, Klappenbroschur; EUR 22,–

Erschienen am 23. Juli 2020 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

„Die Befreiung hat erst 1989/90 stattgefunden“

Der Präsident des VdG Bernard Gaida im Interview

Bernard Gaida – Präsident des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten – spricht im Interview über das Gedenken an den 8. Mai 1945 und erinnerungspolitische Debatten in Deutschland und Polen.

Herr Gaida, Corona hat in allen Ländern die Planungen für Gedenkfeierlichkeiten zum 8. Mai durchkreuzt. Wie hätte die deutsche Volksgruppe in der Republik Polen den Tag unter normalen Bedingungen begangen?

Schon vor einem Jahr hat der Dachverband in Polen auf der Verbandsratssitzung eine Resolution zum Jahrestag des Ausbruchs des tragischen Krieges verabschiedet, im Gedenken an die Abermillionen von Kriegsopfern, Opfern NS-Deutschlands, aber auch an das Leiden der Millionen Vertriebenen und derjenigen, in der von Deutschland abgetrennten Heimat zurückblieben. Mit dem Aufruf wollten wir sowohl die deutsche Volksgruppe als auch die polnische Mehrheit samt Verwaltung für die oft vergessene Tatsache sensibilisieren, dass besonders für die in Mittel- und Osteuropa verbliebenen Deutschen am 8. Mai der Krieg noch längst nicht zu Ende war. Arbeitslager, Sklavenarbeit, Enteignung, Deportationen und jahrzehntelange sprachliche und kulturelle Diskriminierung hatte erst begonnen. Geplant waren nicht nur traditionelle Gedenkveranstaltungen in Lamsdorf, Schwientochlowitz und Gdingen, aber auch an neuen Orten wie z.B. Potulitz. Viele Ortsgruppen der deutschen Minderheit planten, kleine örtliche Veranstaltungen zu organisieren, die an oft vergessene Orte des Nachkriegsleidens erinnern sollten. Es war eine Fahrradtour auf den Spuren der Arbeitslager für Deutsche von Lamsdorf über Tost bis nach Auschwitz geplant, so wie auch einige Konferenzen. Wir hoffen, dass es in der zweiten Jahreshälfte möglich wird, einige Projekte zu realisieren.

Auch ohne Großveranstaltungen wurde in diesen Wochen medial ausführlich über die historische Deutung des 8. Mai diskutiert. Welche Positionen sind dabei im gesellschaftlichen Mainstream der Republik Polen dominant?

Bernard Gaida
(Foto: Mef.ellingen)

Natürlich wird der Jahrestag der Beendigung des Krieges in Polen einerseits gegenwärtig als Ende der Besatzung und Niederlage des Deutschen Reiches gefeiert, aber andererseits wird deutlich gemacht, dass es der Anfang einer neuen Abhängigkeit und Versklavung Polens war. Die Befreiung hat erst mit der politischen Wende 1989/90 stattgefunden. Die Vertreibung der Deutschen ist heutzutage kein Tabu mehr, aber wird gleichzeitig nicht besonders thematisiert. Dennoch erzielte die Deutsche Minderheit, dass bei den Gedenkveranstaltungen, die an den Nachkriegsterror gegen Deutsche erinnern, auch Vertreter der polnischen Verwaltung teilnehmen. Jedoch betrachten diese es ausschließlich als eine Erinnerung an das kommunistische Verbrechen.

Wie verhält sich zu diesen Deutungen diejenige, die von Mitgliedern Ihrer Volksgruppe vertreten wird?

Wir sind der Meinung, dass wir in Polen immer noch vor der Aufarbeitung des Schicksals der Deutschen in Schlesien, Pommern, Ostpreußen aber auch in Zentralpolen stehen. Es handelt sich nicht nur um das Schicksal in den grausamen Nachkriegsjahren, sondern der gesamten Geschichte nach 1945. Das auch polnische Historiker sich damit befassen können, zeigt eine Ausstellung über Nachkriegslager in dem staatlichen Museum in Lamsdorf, aber auch Wissenschaftler, die sich mit dem Leiden der Heimatverbliebenen befassen. Obwohl das eher Ausnahmen sind.

Mit einer Erklärung hat sich der VDG im Vorfeld des 8. Mai an die Öffentlichkeit gewendet. Was waren ihre Kernaussage und Zielsetzung?

Das haben wir in dem Motto formuliert: „Der Krieg zeigte klar, dass vom Leiden und Schmerz Menschen aller Nationalitäten betroffen waren und von der Erinnerung daran niemand ausgeschlossen werden sollte.“ Wir haben damit eindeutig daran erinnert, dass wir aller Opfer des Krieges und auch deutscher Opfer gedenken, ohne die Verantwortung für den Weltkrieg zu relativieren. Mit der Auflistung der Opfer wollten wir unterstreichen, dass mit der Flucht und Vertreibung das Leiden der Deutschen nicht endete.

Konnten Sie wahrnehmen, dass anlässlich der bundesdeutschen Debatte zum 8. Mai in diesem Jahr das spezifische Schicksal der Heimatverbliebenen gebührend wahrgenommen worden ist?

Das hat eindeutig der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten Prof. Dr. Bernd Fabritius getan, aber schon im „Aufruf der Landesbeauftragten für Aussiedler, Spätaussiedler und Vertriebene zur Stärkung der Erinnerungskultur bezogen auf Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem europäischen Osten nach dem Zweiten Weltkrieg“ hat das Schicksal gefehlt. Überraschend, denn gerade in der Erinnerungskultur in Deutschland und ganz Europa darf dieses Kapitel, das ein Grundstein vieler deutscher Minderheiten ist, nicht vergessen werden. Umso mehr haben wir uns gefreut, dass die Landesbeauftragten anlässlich des 20. Juni ausführlich unser Schicksal thematisiert habe. Leider fehlt es hingegen weiterhin in Museen, Schulbüchern und der Medienberichterstattung.

Wie verhält sich Ihrer Einschätzung nach die historische Wahrnehmung der Deutschen in der Republik Polen zu der ihr zukommenden Minderheitenpolitik?

Die Minderheitenpolitik in Polen mit allen Schwächen und Stärken basiert mehr auf Verpflichtungen aus dem Prinzip der Menschenrechte und auf dem „Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten“, als auf der historischen Wahrnehmung des Schicksals der Deutschen in Polen. Die Minderheitenpolitik ist für alle nationale und ethnische Minderheiten gleich, mit einem Schwerpunkt auf Antidiskriminierung und leider viel weniger auf Entwicklungen, die die Verluste aus den Zeiten der Volksrepublik Polen wiedergutmachen könnten. Das betrifft nicht nur die deutsche Minderheit. Deswegen haben wir vom Anfang an bei dem deutsch-polnischen Runden Tisch das Thema der Aufarbeitung der Historie der Heimatverbliebenen Deutschen als eine der wichtigsten Forderungen gestellt. Leider erfolglos. Mit der geplanten Entstehung des Dokumentations- und Ausstellungszentrums der Deutschen in Polen in Oppeln, dank der Zusammenarbeit der Deutschen Minderheit mit dem Marschallamt und der Unterstützung des Bundesministeriums des Innern für Bau und Heimat, wird vielleicht ein Umbruch stattfinden.

Zuletzt: Sie stehen ja nicht nur dem VDG, sondern auch der AGDM vor. Wie haben die anderen deutschen Volksgruppen in Europa dieses Jahr das Gedenken an das Kriegsende wahrgenommen?

Die ganze Arbeitsgemeinschaft hat schon in November 2019 eine Resolution verabschiedet. Mit dieser Resolution wollten wir „die Gesellschaften und Regierungen an das Schicksal derjenigen Deutschen erinnern, die nach Ende des Weltkrieges außerhalb von Nachkriegs-Deutschland, in Mitteleuropa und der UdSSR, Opfer von ethnischen Säuberungen, Deportationen und körperlicher Gewalt“ wurden. In der Resolution wurde betont, dass sie „auch an die heutige Regierung und Bevölkerung Deutschlands“ gerichtet ist, damit die Millionen Leidtragenden nicht vergessen werden. Als Begründung des Appells haben wir „die lange Zeit des Schweigens“ erwähnt, in der „unzählige Opfer namenlos geblieben und viele Schauplätze in Vergessenheit geraten sind“. Alle deutschen Volksgruppen bemühen sich den Prozess des Vergessens zu stoppen und deswegen wurden in vielen Ländern mit unseren Kräften entsprechende Gedenktafeln oder Denkmäler eingerichtet. Ich habe bereits die Möglichkeit gehabt, unter solchen nicht nur in Polen sondern auch in Rumänien, Ungarn, Serbien oder Kroatien Kränze niederzulegen. Mit Freude muss man feststellen, dass in manchen Ländern sogar aus der Initiative der Verwaltung oder Mehrheitsbevölkerung solche Gedenkorte eingerichtet wurden. Aber grundsätzlich fehlen sie, so wie auch entsprechende Forschungen und museale Präsentationen des Schicksals der Heimatverbliebenen. Auch in Deutschland. Ich bin der Meinung, dass das Verschweigen des Schicksals der Deutschen nach dem offiziellen Kriegsende einen negativen Einfluss auf die weitere Geschichte hatte. Sie konnte z.B. bei den ethnischen Säuberungen und der Gewalt in ehemaligen Jugoslawien durch verbrecherische Politiker als Rechtfertigung genutzt werden. Hier teile ich die Meinung von Prof. Alfred de Zayas: „Leitgedanke muss immer der Mensch bleiben – damit die Menschenwürde und das Grundprinzip der rechtlichen Gleichheit aller Menschen und aller Opfer“.

Herr Gaida, vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Tilman Asmus Fischer.

Erschienen in: DOD – Deutscher Ostdienst 3/2020.

Erinnerungskultur – nicht nur für Biodeutsche

„Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik“

Michael Wolffsohn, langjähriger Professor für Neuere Geschichte an der Bundeswehr-Universität München, widmet sein neues Buch dem „Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik“ (vgl. Besprechung in Begegnungen 3/2020). Im Interview mit Tilman A. Fischer spricht der Träger des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises 2018 des Zentrum gegen Vertreibungen über unterschiedliche Schlussfolgerungen seiner Analyse historischer Narrative – von der Vertriebenenpolitik bis zu den europäisch-russischen Beziehungen.

Herr Professor Wolffsohn, in Ihrem neuen Buch nehmen Sie unterschiedliche „heiße Eisen“ des öffentlichen Diskurses in den Blick – die allermeist eng mit historischen Narrativen und Grundmustern deutscher Erinnerungskultur zusammenhängen. Warum tut es gerade heute – kurz nach dem 70. Geburtstag der Bundesrepublik – Not, hier „Tacheles“ zu reden?

Zielgruppen der gegenwärtigen deutschen Erinnerungskultur sind in erster Linie die sogenannten Biodeutschen. Das wird zwar selten ausgesprochen, aber so ist es. Das bedeutet: Diese Erinnerungskultur geht an rund einem Viertel der heutigen deutschen Staatsbürger total vorbei, denn etwa 25 Prozent unserer Mitbürger haben einen Migrationshintergrund. Was können, sagen wir, ein aus Nordafrika oder den arabischen Staaten stammender Neudeutscher oder seine Nachfahren mit der Art und Weise anfangen, in der hierzulande an die sechsmillionenfache Judenvernichtung erinnert wird? Rein gar nichts, weil entweder nicht gewusst wird oder nicht gesagt werden soll bzw. darf, dass die muslimische Welt seinerzeit freiwillig mit Hitler und den Nazis zusammengearbeitet hat. Kurzum, erinnern? Natürlich. Aber nicht à la carte, sondern auf der Basis gemeinsamer Bezugspunkte aller Deutschen, der Alt- und Neudeutschen.

Lassen Sie uns einige der von Ihnen behandelten Themen aufgreifen und dabei konzentrische Kreise vom „Kleinklein“ der Vertriebenenpolitik hin zu den großen Linien internationaler Politik ziehen! Bereits vor einigen Jahren hat der Bund der Vertriebenen – wie viele andere gesellschaftliche und staatliche Institutionen – die NS-Belastung seiner Gründerväter in einer Studie erforschen lassen. Wie bewerten Sie die Gesamtheit dieser Aufarbeitungsbemühungen in den vergangenen Jahren?

Anders als viele andere und wohl die meisten heutigen Deutschen weise ich schon seit Jahrzehnten darauf hin, dass die deutschen Vertriebenen ein Modell für Versöhnung bieten. Bereits 1950 haben sie offiziell und eindeutig auf die Anwendung von Gewalt bei der Verfolgung ihrer Ziele verzichtet. – Schauen Sie dagegen zum Beispiel mal auf die Palästinenser, die seit 1947/48, bis heute, nicht der Gewalt abgeschworen haben. – Bei der institutionellen Aufarbeitung bezüglich alter Nazis in den eigenen Reihen waren die Vertriebenen nicht besser, aber auch nicht schlechter als der Durchschnitt. Für mich entscheidet zugunsten der Vertriebenen der so frühe Gewaltverzicht. Die Fehler und Verbrechen der Vergangenheit können und müssen ideologisch und moralisch bereut werden, aber entscheidend sind die praktisch verwirklichten Lehren: eben Gewaltverzicht.

2020 wurde rege über Restitutionsforderungen des vormals regierenden deutschen Kaiserhauses diskutiert. In Ihrem Buch schreiben Sie von einer „Hohenzollern-Dämonologie“ und einer „Sippenhaft(ung)“, in die heutige Angehörige des Hauses genommen würden. Auf welche Weise sind diese Phänomene auch in der gegenwärtigen Auseinandersetzung wirksam?

Diese Phänomene sind offensichtlich und aus meiner Historikersicht sogar ein rechtssystemischer Bruch, den der Gesetzgeber, sprich: unser Bundestag, 1994 beging. Dass die Rückgabe geraubten Eigentums an die Nachfahren vom Wohlverhalten der Vorfahren abhängt, ist ein klarer Bruch mit den von der Aufklärung geprägten Werten westlich demokratischer Gesellschaften. Für John Locke, den Übervater der Aufklärung, war bereits 1689 der Eigentumsschutz eine der Kernaufgaben jeder Gesellschaft. Wer von „Europäischen Werten“ spricht, meint letztlich aus der Aufklärung abgeleitete, zeitlose Werte. Und nun das. Trotzdem ist unbestreitbar, dass „der Kronprinz“, der Sohn von Kaiser Wilhelm II., ein übler Antisemit und NS-Förderer war.

Es kriselt aktuell nicht nur zwischen den Hohenzollern und der Bundesrepublik, sondern gerade auch innerhalb der Europäischen Union – bzw. ihren östlichen und westlichen Mitgliedern. Manche Politiker der Visegrád-Staaten setzen sich als Beschützer des „christlichen Abendlandes“ in Szene. Jedoch: Wie tragfähig ist dieses Konzept als Grundlage gesamteuropäischer Identität überhaupt noch?

Christliches Abendland – das ist eine Floskel, die von vielen gerne benutzt wird. Auch um sich selbst als gebildet und kultiviert und die anderen als ungebildet und unkultiviert, gar unzivilisiert darzustellen. Bei näherer, also historischer Betrachtung sind die Wurzeln des Abendlands zunächst heidnisch gewesen, griechisch und römisch. Dann natürlich jüdisch, denn – nachzulesen im Neuen Testament – Jesus war Jude. Die scheinbar kulturferne islamische Welt war im europäischen Mittelalter sowie in der Frühen Neuzeit Europas eben diesem überlegen. Kurzum, der Begriff ist letztlich immer schon Kampfbegriff gewesen. Bezüglich des Judentums wurde nach der sechsmillionenfachen Judenvernichtung abgerüstet. Der Wiedergutmachungsbegriff folgte: „Christlich-Jüdisches oder Jüdisch-Christliches Abendland“. Die Kontroversen zwischen den neuen osteuropäischen Demokratien und Westeuropa würde ich, trotz des Politikervokabulars, nicht in den Zusammenhang Abendland-Morgenland stellen. Hier geht es um die Frage: Will man einen fundamentalen demografischen Wandel im eigenen Staat fördern oder nicht. Die Frage nach der je eigenen Kultur spielt dabei eine Rolle, aber nicht die entscheidende. Homogenität, ja oder nein, ist die Frage. Eine andere: Ob man den Wandel steuern kann oder nicht. 2015 meinten vor allem deutsche Politiker, man könne nicht. Angesichts der nationalen Antworten in Zeiten von Corona gibt es offenbar auch in Deutschland und Westeuropa andere Antworten als 2015.

Mit Sorge schauen die Staaten Ostmitteleuropas auf die politischen Entwicklungen in Russland und dessen geopolitische Ambitionen. Deren Einschätzungen fallen in Deutschland ambivalenter aus. Welche Nachwirkungen zeitigt hierzulande der Mythos der „neuen Ostpolitik“ von Egon Bahr und Willy Brandt – bzw. welches Potenzial hat eine heutige Rückbesinnung auf deren Ideen?

Die realpolitischen Auseinandersetzungen von damals wirken heute wie aus der Steinzeit. Aktueller denn je ist der Anspruch deutscher Politik, „die“ Verwirklichung von Moral zu sein. Im 19. Jahrhundert sollte am deutschen Wesen „die Welt genesen“. Dann war, so das Jahrhundertgedicht Paul Celans, der „Tod ein Meister aus Deutschland“, und jetzt heißt – unausgesprochen, aber faktisch – das neudeutsche Theaterstück „Moral ist ein Meister aus Deutschland“. Wie wär’s zur Abwechselung mal mit der Goldenen Mitte?

Die Fragen stellte Tilman Asmus Fischer.

Erschienen in: DOD – Deutscher Ostdienst 2/2020.