Verstehen und Verständigung

Bundestagspräsidentin a. D. Rita Süssmuth – Zeitzeugin im Gespräch

Rita Süssmuth war eine der prägenden Gestalten der späten Bonner und frühen Berliner Republik, zumal als Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit von 1985 bis 1988 sowie insbesondere als Präsidentin des Deutschen Bundestages von 1988 bis 1998. Zudem ist die 1937 in Wuppertal geborene CDU-Politikerin bis heute – neben anderen Themenfeldern – intensiv mit Fragen der deutsch-polnischen Beziehungen befasst: nicht nur als Präsidentin des Deutschen-Polen-Instituts, sondern ebenso als Kuratoriumsvorsitzende der Deutsch-Polnische Gesellschaft und Vorstandsmitglied der im Geiste des Weimarer Dreiecks arbeitenden Stiftung Genshagen. Dies macht sie zum einen zu einer Zeitzeugin der Deutschland- und Ostpolitik der Jahre ihrer Verantwortung in Regierung und Parlament und zum anderen zu einer erfahrenen Beobachterin der gegenwärtigen Phase intensiver Herausforderungen für den Zusammenhalt Europas. In einem Gespräch mit Tilman A. Fischer gab sie Einblick in ihre historischen Erfahrungen wie in ihre Gegenwartsanalysen. Entstanden ist so das intellektuelle Porträt einer zentralen Persönlichkeit im deutsch-polnischen Dialog.

Frau Professor Süssmuth, Sie sind in Westdeutschland geboren und aufgewachsen. In welchem Zusammenhang wurde hier ‚der Osten‘ für Sie erstmals thematisch?

Das war in der Nachkriegszeit. Wir waren evakuiert in einem Dorf auf dem Lande und da wurden samstagsmorgens immer die Backplatten – die einen mit Brot, die anderen mit Kuchen – zum Bäcker gebracht, um da abgebacken zu werden. Da habe ich erlebt, dass die Platten der Flüchtlinge immer als letzte drankamen. Da habe ich zuhause gefragt: „Was machen die da eigentlich? Warum heißt es, ‚der Ofen ist voll‘? Da flackerte in mir etwas auf. Das hat zwar nicht zum Polen-Interesse geführt, hat mich aber sensibilisiert: Warum werden die Flüchtlinge – und das waren Deutsche aus dem Osten – anders behandelt als Einheimische. Es gibt Zugehörige und solche, die an den Rand gedrängt werden. Das Flüchtlingsproblem habe ich erst viel später tiefer verstanden; denn meine Kindheit dominierte die Frage nach dem eigenen Überleben: Man sorgte für sein Überleben, ging hamstern, alles Mögliche sammeln, Eier zu bekommen und so weiter.

Dennoch gewann der Themenkreis Deutschland und Ostmitteleuropa für Sie an Bedeutung. Wie kam es dazu?

Als ich zur höheren Schule kam zu den „Schwestern der Christlichen Liebe“ – oder auch der Strenge – in Lippstadt, habe ich mich sehr für Geschichte interessiert und war da auch entsprechend begabt. In dieser Zeit war mein Vater – ein Pädagoge – am Wiederaufbau der Lehrerbildung beteiligt. Und auf seinem Schreibtisch sah ich immer die „Frankfurter Hefte“ – rote Hefte mit bestimmten Themen. Das hat mich interessiert: Was macht Dein Vater da? Das war eine Mischung aus politisch-kritischen, sozialen und Bildungsfragen – und so weiter. Das hat mich wach gemacht. Dann kam die Mittlere Reife und ich wollte von der Schule abgehen, um Krankenschwester zu werden. Da sagte mein Vater: „Rita, mach doch wenigstens Abitur!“ Als ich dann das Abitur in Rheine gemacht hatte, sagte er: „Und jetzt studier‘ bitte Jura!“ – „Oh Schand‘!“, dachte ich da und ich sagte ihm: „Nein, das kann ich nicht – ich habe keine Beziehung dazu. Ich muss etwas machen, wovon ich schon jetzt was erlebt und Ahnung haben. Ich werde Romanistik und Geschichte studieren.“ Ich war entschlossen, als Lehrerin in die Schule zu gehen. Diese Fächer habe ich zunächst in Münster, dann in Tübingen, dann in Paris an der Sorbonne studiert.

Dies freilich klingt eher nach einer Westorientierung.

In dem Studium stieß ich dann aber nicht nur auf den Westen, sondern entdeckte plötzlich auch die reiche Geschichte Ostmitteleuropas: Da war ein Mediävistik-Professor, und der beschäftigte sich eben gerade mit Mittel- und Osteuropa. Ich besuchte seine Seminare und er lud mich dann ein, als ich 1961 das Examen gemacht hatte, mit auf eine Studienfahrt zu kommen.. Zunächst habe ich sein Oberseminar auch noch mitgemacht, aber ich hatte dann das Angebot für einer Dissertation und promovierte über die „Anthropologie des Kindes“. Mit der Anstellung als Assistentin von Robert Spaemann an der Universität in Osnabrück folgte dann auch der berufliche Durchbruch an die Universität. Jedoch habe ich parallel zur Universität immer auch andere Themen verfolgt: Ich betrieb weiter Geschichtsstudien, obwohl ich ja das Examen in Alter und mittelalterlicher Geschichte bereits hatte – aber ich muss sagen: Das war mehr ein Auswendiglernen gewesen. Verstehen der Geschichte habe ich erst durch die Franzosen gelernt – abstrakt gesprochen durch die Strukturalisten, denen es darum ging, nicht nur politische, sondern auch Sozial- und Kulturgeschichte zu betreiben. Das eröffnete auch einen neuen Blick auf unsere östlichen Nachbarn.

In welcher Beziehung steht Ihr persönlicher Perspektivwechsel zu den Umbrüchen in der deutschen Politik – mithin der politischen Kultur – in den 1960er und 1970er Jahren?

Dies waren für mich die entscheidenden Entwicklungsjahre. Ich war damals zwar durch meinen Berufseinstieg zur Kämpferin für Frauen geworden, aber noch nicht zu einer richtigen Kritikerin. Dies geworden zu sein, verdanke ich den 68ern. Meine Partei freut sich nicht, wenn ich sowas sage. Was kann denn an den 68ern gut gewesen sein? Ja, die haben die Fragen gestellt – auch im Parlament. Die 68er-Bewegung klärte die Menschen auf – im Sinne Kants: ihren eigenen Verstand zu gebrauchen. Und das ist ja das Entscheidende, so entsteht Verstehen und erst durch Verstehen kommt dann die Verständigung zustande – eben auch mit Völkern, zu denen eine historisch belastete Beziehung besteht.

Welche Bedeutung kam dieser Verknüpfung zwischen Verstehen und Verständigung gerade mit Blick auf den damaligen Ostblock zu?

Die Spaltung Europas hat nicht nur in Form von physischen Grenzen existiert, sondern auch in den Köpfen. Das waren immer „die Anderen“. Wir haben jahrelang den Westen positiv gesehen und den Osten als die zu Befreienden. Polen, die Tschechoslowakei – in all diesen Ländern gab es auch eigene Bewegungen, deren Denken wir eigentlich viel zu wenig zur Kenntnis genommen habe.

In Ihrer Partei sind sie auch als eine Unterstützerin der „Neuen Ostpolitik“ – und in diesem Kontext durchaus auch als eine Kritikerin der Vertriebenenverbände – in Erscheinung getreten. Wie haben Sie diese Konstellation wahrgenommen?

Für manche in der Union war ich nie eine richtige Parteizugehörige – wahrscheinlich auch nicht genug Parteisoldat. Ich habe Schwierigkeiten, das gebe ich zu, mit so einem unmittelbaren Gehorsam. Da hatten meine Eltern schon Schwierigkeiten. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte – das kriegte man nicht so schnell da wieder raus. Es gab damals eine Hauptunterstützung von den reformerischen Kräften. An der Spitze Heiner Geißler. Heiner Geißler war ein Kämpfer, der auch manchmal über seine Grenzen ging, auch in der Verletzung anderer Menschen. Später hat er sich dann immer wieder entschuldigt.

Aber es gab in der Union doch auch genug meinungsstarke Kritiker Ihrer Position.

Ja, aber Herbert Czaja und einige der Hauptmatadore der Vertriebenenverbände haben im Laufe der Zeit auch gelernt. Wir haben einerseits die „große Zeit“ der Vertriebenenverbände vor Augen, die die deutsche Politik sehr beeinflusst haben, auch wegen ihrer Wählerstimmen – mit denen man sich gutstellen musste. Wir haben aber auch die heutige Zeit vor Augen, in denen viele Akteure aus den Vertriebenenverbänden ganz wesentlich zur Verständigung in Europa beitragen. Dort, wo heute die Vertriebenen wieder in ihr altes Heimatland kommen und die heute dort Lebenden sie bitten: „Kommt doch mal rauf und wir trinken eine Tasse Kaffee zusammen!“, da erleben wir heute, dass gerade eine Region wie Oberschlesien die Region der Verständigung ist – inmitten des von der PiS dominierten Polen. Ähnliches gilt für Danzig. Umso schlimmer sind die Reparationsforderungen aus Warschau, die keiner mehr bezahlen kann..

Lassen Sie uns gerne später auf diesen Punkt zurückkommen – hier aber noch kurz in der Retrospektive verweilen! Wie entwickelten sich in den sogenannten Wendejahren Ihre persönlichen Beziehungen nach Polen?

Ich habe in der Geschichte ja viel erfahren, von den furchtbaren Dingen, die im Zweiten Weltkrieg und danach auch passiert sind. Nach Polen war ich noch nicht gekommen, aber wir hatten wenigstens Informationen aus zweiter Hand. Polen hat sich für mich eigentlich erst ab den frühen 1980er Jahren eröffnet und eine führende Persönlichkeit war Władysław Bartoszewski, ein Widerständler und ein wunderbarer Mensch. Auch wenn er, wie ich jetzt im Augenblick, nicht aufhören konnte zu reden. Aber durch ihn habe ich viel über Polen verstanden. Vorher habe ich studiert, dies sicherlich auch engagiert – aber ich habe noch nicht viel verstanden. Gewusst habe ich eine Menge, aber das ist weniger als Verstehen.

Wann sind sie ihm, Bartoszewski, das erste Mal begegnet?

Ich bin ihm das erste Mal 1985 begegnet. Aber da war er mir natürlich bereits bekannt: Er gehört zu den Personen, die schon vorher die Kontakte hergestellt haben, gerade über den religiösen Austausch; denn natürlich hatte ich die Diskussion um die neue Ostpolitik, in welcher der „Botschaft der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder zur Versöhnung“ von 1965 eine große Bedeutung zukam, intensiv verfolgt – und in dieser Zeit war Bartoszewski bereits im von den Kirchen betriebenen Dialog engagiert. Eine zentrale Rolle kam damals den jungen Menschen von Aktion Sühnezeihen zu, die jüdische Opfer pflegten (es gab ja noch keinen Ausgleich und keine Versorgung für sie). Über diese kirchlichen Kontakte bekam er Reiserecht nach Deutschland und hat seitdem die Verständigung wirklich auch in unserem Land betrieben.

Dies taten Sie selbst dann auch vor Ort in Polen. Wie waren Ihre ersten Eindrücke von unserem östlichen Nachbarland?

Als die Solidarność stärker wurde, und als sich dann 1989 die Grenzen öffneten, war meine erste Wahrnehmung: In der DDR hatte man Angst gehabt, überhaupt hineinzufahren – wahnsinnige Kontrollen; und wenn man nach Polen fuhr, brauchte man kaum den Kofferraum aufzumachen. Auch in der Akademie der Wissenschaften ein völlig anderer Ton als bei den Kollegen in der DDR. Und bei den Reisen in diesen Jahren habe ich die ersten Solidarność-Leute in Warschau kennengelernt. Das geschah abends in der Botschaft ohne großes Aufsehen – einfach zum vertraulichen Gespräch. Da war Adam Michnik, heute Chefredakteur der Gazeta Wyborcza – ein etwas schwieriger Typ, aber ich habe ihn sehr geschätzt wegen seiner Einstellung, aber auch wegen seines Wissens. Ich habe heute noch Kontakt mit Lech Wałęsa in Danzig. Er ist jetzt älter geworden und etwas gebrechlich, nimmt aber weiterhin an den Demonstrationen der heutigen polnischen Opposition teil. Sie sehen, da ist was geblieben.

Welche Fragen und Themen sind Ihnen heute in den Beziehungen Deutschlands zu den Nachbarn in Ostmitteleuropa bedeutsam?

Im Augenblick kämpfe ich zum einen für Ungarn – ziemlich auf einsamem Posten. Wir Deutschen sind manchmal sehr lehrmeisterhaft und restriktiv: Ihr seid nicht gehorsam und haltet die Rechtsordnung nicht ein, die Gewaltenteilung – und jetzt fordern wir Sanktionen. Die Analyse ist zutreffend, ja aber statt zu sanktionieren müssen wir besonders viel mit den Andersdenkenden sprechen. Wichtig ist mir heute zum anderen und insbesondere seit dem totalen Bruch in der West-Ost-Beziehungen: Ich höre nur von morgens bis abends: „Die Ukrainer müssen den Krieg gewinnen.“ Es kommt nie die Frage auf: Was machen wir eigentlich, wenn sie ihn nicht gewinnen? Wir werden gleichsam alle plötzlich zu Konformisten. Die andere Seite – was machen wir, wenn nicht – muss doch auch bedacht werden und die fehlt mir heute, auch in meiner eigenen Partei. Ja, Engagement für die Ukraine – aber wir müssen immer auch bedenken: Es könnte anders kommen, als wir es erhoffen. Wir können ja nicht sagen: keinerlei Kontakt mehr – weder wissenschaftlich noch ökonomisch. Das kann ich mir nicht vorstellen. Da muss wieder Neues entstehen, wie es entstanden ist nach dem Zweiten Weltkrieg.

Schwingen in der Hoffnung auf die Möglichkeit von Verständigung noch Erfahrungen aus der Ära Gorbatschow mit?

Damals gab es einen anderen Geist. Ich habe die Suche nach Gesprächen mit Gorbatschow unterstützt und unsere Regierung hat sie gefunden. Ohne Gorbatschow hätten wir keine deutsche Einheit. Das ist meine Position. Es gab damals eine Zeit, in der Gorbatschow auch die Armut in Russland sah, die Unfreiheit der Russen, und ihnen mehr Freiheit gegeben hat. Putin hat nur dasEine gesehen: Er hat unser Land verkleinert. Anders als Gorbatschow ist Putin nicht zu einer größeren europäischen Perspektive in der Lage. Fehler sind aber natürlich auf allen Seiten gemacht worden. So stand das Baltikum in der Phase seines Freiheitskampfes für den Wunsch nach einer Verständigung zwischen Ost und West! Später sind dann die russischsprachigen Minderheiten ausgegrenzt worden, was zur Verschlechterung der Beziehungen beitrug.

Verständigung mit Russland, Fehler auf Seiten der westlichen Staatenwelt – sind das Fragen, die heute im Austausch mit Partnern in Polen, wo man zu Recht mit Sorge auf Russland blickt, angesprochen werden können?

Ja, sicher. Aber nicht mit der PiS-Regierung. Gewiss lässt sich die Haltung Jarosław Kaczyńskis gegenüber Russland auch aus dem dramatischen Schicksal des Verlusts seines Bruders erklären, aber im Sinne Bartoszewski gesprochen: Es muss jederzeit nach christlichem Verständnis möglich sein, wieder aufeinander zuzugehen. Aber für Kaczyński ist der Bruder von Russen ermordet worden. Und das treibt ihn bis heute um und er will es rächen.

Sie hatten die PiS – und auch die polnischen Reparationsforderungen – bereits angesprochen. Was für eine Entwicklung des politischen Diskurses erleben wir da gerade in unserem Nachbarland?

Dass solche Reparationsforderungen artikulierbar sind, hat die PiS erreicht, indem sie eine absolut polarisierte Atmosphäre geschaffen hat. Deshalb bin ich über all die deutlichen Manifestationen der politischen Opposition glücklich, denn da geht nicht einfach ein kleines Grüppchen auf die Straße, sondern Tausende von Menschen, die sich etwa gegen die Gesetzesinitiative gegen Tusk richten, die ihm das Wahlrecht nehmen und alle Schuld auf seinem Haupt versammeln soll. Dabei wird ihm von der PiS insbesondere seine Haltung gegenüber Russland vorgeworfen. Hierzulande wird die Zivilcourage der polnischen Opposition ja teilweise relativiert. Dann heißt es mit Blick auf Demonstrationen: Es war die Stadt und nicht das Land. Ist alles wahr, aber die Demonstrationen zeigen: Da ist ein Volk, das denkt: Was müssen wir an demokratischen Errungenschaften erhalten? Was sind die Grundlagen unserer Freiheit?

Sehen Sie die Perspektive, dass durch die gemeinsame Bewältigung der Krise des russischen Angriffskriegs mit all ihren humanitären Folgen auch die Ost-West-Spannungen in der EU abgebaut werden können – oder ist der Konfliktaustrag nur in einem momentanen Burgfrieden ausgesetzt?

Angesichts des Krieges in der Ukraine versuchen wir heute, gute, oder zumindest normale Beziehungen zwischen Deutschland und Polen zu pflegen. Polen engagiert sich ungeheuer. Sie haben – das kommt noch hinzu – immer eine enge Beziehung zur Ukraine gehabt. Auf der einen Seite ist Europa zusammengewachsen: Die Staaten merken, wir müssen zusammenstehen, nur gemeinsam können wir der Ukraine helfen. Auf der anderen Seite haben wir ständig Entwicklungen, bei denen der eine oder der andere sagt: Wir sind anders. Das betrifft etwa die Gewaltenteilung – in Polen, in Ungarn. Das heißt: auf der einen Seite Annäherung und Zusammenschluss, um ein stärkeres Europa zu schaffen – auf der anderen Seite bleibende Abgrenzungen. Diese Spannungen gilt es klug auszubalancieren.

Welche Streitfragen stehen dabei im Fokus?

Polen vertritt klare politische Standpunkte, was die militärische Aufrüstung betrifft. Manchmal habe ich dabei das Gefühl: Wenn Ihr uns Deutschen jeden Tag neue Dinge abverlangt, denkt Ihr auch daran, welche Risiken das für uns mit sich bringt? Und nicht nur für uns Deutsche – für ganz Europa? Wir müssen doch vielmehr gemeinsam eine Kriegsbeseitigung, einen Stopp der Waffen herbeiführen – und nicht nur für uns, sondern für Europa, wenn diese Idee des Staatenbundes noch eine Chance haben soll.Im Kalten Krieg ging es immer darum: Welche Waffen schützen uns? Welche Abwehrkräfte schützen uns? Und jetzt sind wir wieder in einer solchen Situation: Haben wir überhaupt noch Schutz? Und wir sagen, dieses Europa muss sich retten. – Wir sind aber im hohen Maße abhängig von Amerika. Amerika hat uns geholfen, ganz entscheidend geholfen bei der Wiedervereinigung. Das waren ja Hoffnungsjahre. Im Augenblick aber leben wir in einer Zeit der Unfälle und Enttäuschungen…

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 3/2023.

Katholische Vordenkerin

Ein Gespräch mit Gesine Schwan

Pünktlich zum 80. Geburtstag von Gesine Schwan ist im Frühjahr ein Gespräch des Philosophen Holger Zaborowski mit der Politikwissenschaftlerin und sozialdemokratischen Vordenkerin erschienen. Es arbeitet nicht nur zentrale Themen des Denkens der Jubilarin heraus, sondern porträtiert sie zudem trefflich als eine markante katholische Intellektuelle der Gegenwart. Und so rahmen die Kapitel „Politik, Glaube, Medien“ sowie „Freiheit, Menschenwürde, Bildung“ auf sinnfällige Weise das, wenn nicht Haupt-, so doch Herzstück des Buches über „Kirche, Christentum, Glaube“. Bemerkenswert ist dabei, dass Schwan die christliche Fundierung ihres Denkens und Wirkens in doppelter – nämlich in intellektueller wie in spiritueller – Hinsicht explizit aufscheinen lässt.

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Erschienen in: Herder Korrespondenz 9/2023, S. 53.

Beauftragte in schwierigen Zeiten

Natalie Pawlik im Interview

Russlands Krieg gegen die Ukraine, Diskriminierung deutscher Schüler in Polen – die Lage, in der Natalie Pawlik MdB das Amt der Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten angetreten hat, kann gewiss nicht als leicht bezeichnet werden. Im Interview mit Tilman A. Fischer spricht die 1992 im sibirischen Wostok geborene Sozialdemokratin über ihre Positionen, persönliche Anliegen und die Erfahrungen der ersten Monate im Amt.

Frau Pawlik, Sie sind als russlanddeutsche Spätaussiedlerin nach Deutschland gekommen. Gibt es einen konkreten biographischen Moment, von dem Sie rückblickend sagen würden, dass Ihnen die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Gruppe der Aussiedler erstmals explizit bewusst geworden ist?

Dadurch, dass ich meinen Großvater noch kennengelernt habe, dessen Biographie sehr von den Kriegsfolgen geprägt war, war das Schicksal der Russlanddeutschen immer ein Thema in unserer Familie. Wir haben – zumal aufgrund der Traumatisierung meines Großvaters – immer offen über diese Geschichte gesprochen. So richtig ist mir in der Grundschule bewusst geworden, dass wir zu einer besonderen Gruppe gehören: Ich wohnte in einem Aussiedlerwohnheim – andere Mitschüler in „normalen“ Häusern oder Wohnungen. Dass wir irgendwie anders sind, wurde ab diesem Zeitpunkt immer deutlicher. Außerdem hatte ich in meiner Biographie immer wieder Phasen – zum Beispiel als Teenager –, in denen ich mehr mit russischsprachigen Menschen zu tun hatte und dadurch natürlich auch in Identitätskonflikte gekommen bin.

Wann wurden diese Erfahrungen und Zusammenhänge für Sie als Politikerin relevant?

Seit dem „Fall Lisa“, im Jahr 2016, habe ich angefangen mich sehr offensiv mit Aussiedlerpolitik zu befassen, weil es mich sehr geärgert hat, wie zu der Zeit in den Medien über Russlanddeutsche berichtet wurde. Eine ganze Gruppe wurde damals in ein negatives Licht gerückt. Es hat mich wütend gemacht, dass nicht die Vielfalt der russlanddeutschen Community, die Vielen, die sich engagieren und Teil dieser Gesellschaft sind, im Fokus standen, sondern die Russlanddeutschen immer nur in einem negativen Kontext dargestellt wurden. Das wollte ich damals nicht zulassen und so habe ich begonnen, mich intensiv mit Aussiedlerpolitik und den Herausforderungen der Community zu beschäftigen

Welche Erfahrungen haben Sie in den Jahren als Jugendliche und junge Politikerin mit den Selbstorganisationen der Deutschen aus Russland gesammelt?

Als Jugendliche war ich in der Tanzgruppe „Internationaler Club Bad Nauheim“ aktiv – zusammen mit Menschen aus unterschiedlichen Nationen, darunter viele Russischsprachige: jüdische Kontingentflüchtlinge und Russlanddeutsche. Hierüber kam ich zur Deutschen Jugend aus Russland (DJR), dort habe ich recht früh begonnen Theater zu spielen und an Jugendprojekten teilzunehmen. Seit 2016/17 bin ich auch Mitglied bei der Deutschen Jugend aus Russland in Hessen. Dort habe ich im Rahmen der politischen Bildungsarbeit als Referentin und Teilnehmerin mitgewirkt. Im Rahmen meiner neuen Aufgabe als Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten arbeite ich sehr eng mit den Selbstorganisationen, den Vereinen und Landsmannschaften der verschiedenen Aussiedlergruppen zusammen. Dieser enge Austausch und der regelmäßige Kontakt sind mir auch sehr wichtig.

Nun ist das Verhältnis Ihrer Partei zu den organisierten Vertriebenen und Aussiedlern historisch nicht spannungsfrei. Wie reagierte man in den Reihen der SPD auf Ihr Engagement?

In der SPD wurde es immer sehr positiv wahrgenommen, dass ich mich als Russlanddeutsche in der Partei engagiere. Zugleich habe ich immer versucht, innerhalb der Partei einen Zugang zu aussiedlerpolitischen Themen zu organisieren und für gegenseitiges Verständnis zu sorgen und Menschen zusammenzubringen. Es ist natürlich immer herausfordernd, in der SPD – wie auch in den anderen Parteien – ein Bewusstsein für aussiedler- und vertriebenenpolitische Fragen zu schaffen, da diese oft als Nischenthemen abgestempelt werden. Dennoch konnte ich immer wieder offene Türen einrennen. Was mich jedoch aufgebracht hat, war, wenn ich auch aus den eigenen Reihen Kommentare über „die Russlanddeutschen“, die als „die Russen“ oder „die AfD-Wähler“ bezeichnet wurden, gehört habe. Ich sehe es als meine Aufgabe an, dafür zu sorgen, das Wissen über die Anliegen und die Geschichte von Aussiedlern und Vertrieben weiterzutragen und dafür zu sorgen, dass Vorurteile abgebaut werden.

Und wie sieht es umgekehrt aus: Wie werden Sie als sozialdemokratische Fachpolitikerin von den Zielgruppen wahrgenommen?

Bei meiner Tätigkeit geht es vordergründig um die Anliegen der Angehörigen der nationalen Minderheiten, der deutschen Minderheiten und der verschiedenen Aussiedler- und Vertriebenengruppen. Da spielt meine Parteizugehörigkeit eine nebensächliche Rolle. Es freut mich aber natürlich, wenn es mir gelingt, innerhalb der Sozialdemokratie ein Interesse für die Themen der Vertriebenen und Heimatverbliebenen herzustellen, ebenso wie ich mich freue, wenn sich Vertriebene und Heimatverbliebene sozialdemokratischen Ideen öffnen. Tatsächlich hatten – etwa die deutschen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa (MOE) sowie den Staaten der ehemaligen Sowjetunion – bisher wenige direkte Berührungspunkte mit der SPD. Nicht zuletzt, weil die Position des Aussiedlerbeauftragten lange Zeit konservativ besetzt war, aber auch, weil es in der SPD bisher keine große Gruppe gibt, die sich für die deutschen Minderheiten engagiert. Anfang November hatten wir aber bereits ein gutes Treffen zwischen der Spitze der SPD-Bundestagsfraktion und der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Minderheiten (AGDM). Das sind Brücken, die ich gut bauen kann und bauen möchte, auch im Sinne der politischen Vielfalt und Überparteilichkeit in diesem Politikfeld.

Gibt es so etwas wie einen sozialdemokratischen Schriftzug, der in Ihrer Wahrnehmung des Amtes als Beauftragte der Bundesregierung deutlich werden könnte?

Ich setze Aussiedler- und Vertriebenenpolitik zum einen stark in den gesamtgesellschaftlichen Kontext. Das heißt, ich habe den Anspruch, nicht nur an die Geschichte zu erinnern, sondern tages- und sozialpolitische Bezüge herzustellen: Wie war der Integrationsprozess der Vertriebenen und Aussiedler? Welche strukturellen Hürden müssen sie und ihre Nachkommen auch heute noch meistern? Wie können sie dabei unterstützt werden? Was können wir aus der Geschichte der Aussiedler und Vertriebenen für die Gegenwart lernen, um die Aufnahme- und Integrationsprozesse zu verbessern und Vielfalt in unserer Gesellschaft zu stärken? Zum anderen habe ich einen sehr offenen Heimatbegriff: Für mich ist Heimat nicht diskriminierend, sondern inklusiv. Die Bundesrepublik Deutschland soll auch für Menschen Heimat sein, die woanders geboren wurden und woanders herkommen. Entscheidend ist die Frage, wie eine moderne, vielfältige Gesellschaft aussehen kann, in der Aussiedler sowie die deutschen Heimatvertriebenen und ihre Nachfahren ihre Identität und ihre Mehrsprachigkeit leben können und sie gesellschaftliche und soziale Teilhabe haben. Dabei geht es nicht zuletzt auch um Sichtbarkeit – als Teil der Gesellschaft.

Seit der Ernennung zur Aussiedlerbeauftragten hatten Sie bereits vielfältige Gelegenheiten, ihren Blick über die russlanddeutsche Gemeinschaft hinaus zu weiten. Welche Erfahrungen und Eindrücke sind dabei von zentraler Bedeutung?

Vor meiner Ernennung hatte ich noch keine enge Zusammenarbeit mit Teilen der Landsmannschaften oder den Selbstorganisationen der deutschen Minderheiten in MOE und der Gemeinschaft unabhängiger Staaten. Im Zuge meiner Ernennung habe ich aber natürlich zeitnah Kontakt aufgenommen und die meisten Akteurinnen und Akteure kennengelernt. So konnte ich zum Beispiel im Rahmen des Sudetendeutschen Tages wichtige Vertreterinnen und Vertreter dieser Gruppe kennenlernen, und konnte beispielsweise bei meiner Reise nach Polen der deutschen Minderheit in Polen in ihrer Breite begegnen. Die Auseinandersetzungen mit der Frage des Heimatverlustes und das Ankommen in einer neuen Heimat ähneln den Diskursen, die ich auch aus der russlanddeutschen Community kenne. Es gibt zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppen, für die ich zuständig bin. Gleichwohl ist jede Gruppe in ihrer Geschichte, ihren Traditionen, ihren Arbeitsweisen und ihren Anliegen sehr individuell. Das finde ich spannend zu sehen. Auch meine Besuche bei den nationalen Minderheiten in Deutschland haben meinen Blick nochmal neu für die Geschichte und die Herausforderungen der einzelnen Gruppen geöffnet – mit allen Unterschieden und Gemeinsamkeiten. Am Ende geht es aber doch bei allen um Sichtbarkeit, Teilhabe, Chancen, ein Leben frei von Diskriminierung; und das verbindet, nach meiner Einschätzung, letztlich auch alle Gruppen miteinander.

Sowohl für die deutschen Heimatvertriebenen als auch für die Heimatverbliebenen stellt sich in diesen Jahren die Herausforderung des Erinnerungstransfers. Welche Perspektiven sehen Sie hier?

Es ist sehr wichtig, dass wir weiterhin erinnern. Deshalb sind Institutionen wie das Dokumentationszentrum in Oppeln oder die ostdeutschen Landesmuseen wichtig, die die Geschichte weitertragen. Was ich aber auch betonen möchte: In Polen habe ich eine unglaublich lebendige Jugend der deutschen Minderheit erlebt – sie ist wahnsinnig aktiv. Dort engagieren sich sehr viele junge Menschen, die sich sowohl mit der Geschichte als auch mit der Gegenwart beschäftigen. Das finde ich sehr beeindruckend – und darum geht es eben gerade auch: Dass wir die junge Generation mitnehmen, die dem Ganzen eine Zukunft gibt. Die Jugendarbeit zu stärken ist mir ein wichtiges Anliegen.

Umso fataler sind die Maßnahmen der polnischen Regierung gegen die deutsche Volksgruppe. Wie schätzen Sie deren menschenrechtliche Lage ein und welche Handlungsmöglichkeiten haben Sie?

Ich bin sehr erschrocken darüber, dass in Europa, in Polen wieder Diskriminierungen einer Minderheit stattfinden – und zwar so offensichtlich: Wenn einseitig bei der deutschen Minderheit der muttersprachliche Unterricht gekürzt wird, werden damit Kinder für parteipolitische Interessen in Sippenhaft genommen. Das bedeutet ganz konkret: Über 50.000 Kindern wird die Möglichkeit genommen, in muttersprachlichem Deutschunterricht Deutsch zu lernen. Es gehört zu unseren Aufgaben, der deutschen Minderheit in diesen Zeiten zur Seite zu stehen. Ich freue mich sehr, dass wir vor diesem Hintergrund 5 Millionen Euro im Bundeshaushalt 2023 für die außerschulische Sprachförderung der deutschen Minderheit in Polen verankern konnten. Gleichzeitig versucht die Bundesregierung auch, auf diplomatischem Wege dahin zu kommen, dass die Kürzungen zurückgenommen werden.

Blicken wir noch etwas weiter nach Osten, sind wir gegenwärtig mit besonders schwerwiegenden Fragen konfrontiert. Welche Auswirkungen hat der russische Überfall auf die Ukraine auf Ihren Arbeitsbereich?

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine wirkt sich stark auf meine Arbeit aus. Einerseits gibt es dadurch starken Handlungsbedarf für die Heimatverbliebenen, also vor allem für die deutsche Minderheit in der Ukraine. Hier geht es um humanitäre Hilfe und die Unterstützung des Verbandswesens, aber auch um die Frage: Wie schaffen wir es für Menschen, die sich für eine Umsiedlung nach Deutschland entscheiden, eine schnelle Aufnahme im Rahmen eines Härtefallverfahrens zu ermöglichen? Gleiches gilt natürlich für die deutsche Minderheit in Russland, die gegenwärtig massiven Repressionen ausgesetzt ist. Die Organisationskonten sollten gesperrt werden, und zum Teil wurden sie als Agentenorganisationen gehandelt. Gleichzeitig stellt der Wechselkurs die Finanzierung von Projekten der deutschen Minderheit in Russland vor große Herausforderungen. Andererseits passiert sehr viel innerhalb der russischsprachigen Community hier in Deutschland. Es ist allgemein bekannt, dass Putin versucht, auch im Ausland seine Narrative und Desinformationen zu verbreiten. Bei einigen wirkt das nach wie vor. Daher ist es eines meiner zentralen Anliegen, daran zu arbeiten, dass die Desinformationskampagnen nicht erfolgreich sind, sondern dass unsere Gesellschaft zusammenhält. Ich kämpfe dafür, dass Desinformationen ihre Wirkung nicht entfallen können und trete dagegen an, dass Menschen völlig unbehelligt in Blasen der Desinformation unterwegs sind und sich dadurch von unserer Demokratie abkoppeln.

Wie kann das gelingen?

Zum Beispiel sind viele junge Menschen aus den Reihen der Spätaussiedler zuhause großen Konflikten ausgesetzt – oft mit ihren Eltern und Großeltern, die andere Informationen konsumieren. Diese Jugendlichen müssen in der Entwicklung von Kompetenzen unterstützt werden, um mit den Konfliktsituationen zurechtzukommen. Hier gilt es, ihnen im Rahmen der politischen Bildung Kommunikationsstrategien an die Hand zu geben, um auch zuhause unsere demokratischen Werte verteidigen, und Falschinformationen widerlegen zu können. Gleichzeitig ist es natürlich auch wichtig, dass wir die politische und digitale Bildung auch für Erwachsene und ältere Menschen stärken.

Welche Bedeutung kommt den Organisationen der deutschen Aussiedler und Heimatvertriebenen in der Bewältigung der Lage zu?

Wir haben ganz viele Vertriebenen- und Aussiedlerorganisationen, die bei der Aufnahme und der Unterbringung von Geflüchteten unterstützen, Hilfspakete und Spenden gesammelt und in die Ukraine gebracht haben. Unter den Vertriebenen und Spätaussiedlern gibt es eine große Solidarität und ein tiefsitzendes Erschrecken darüber, dass so etwas in Europa wieder passiert ist. Ganz viele russlanddeutsche Organisationen haben sich klar öffentlich gegen diesen Krieg positioniert. Ich bin davon überzeugt, dass diese Stimmen wichtig sind. Gleichzeitig arbeiten auch die Selbstorganisationen daran, dass unsere Gesellschaft gerade in diesen Zeiten zusammenhält.

Was aber kann zuletzt getan werden, um den bedrängten Deutschen in Putins Reich zu helfen?

Für sie öffnen wir ebenfalls das Härtefallverfahren bei der Aufnahme. Ich bin im ständigen Austausch mit den Vertreterinnen und Vertretern dort, um zu sehen, wie wir sie weiterhin unterstützten können. Wir können ihnen Wege zeigen, Russland sicher zu verlassen. Gerade auch im Kontext der Mobilmachung durch Putin haben wir das Härtefallverfahren für Menschen aus Russland geöffnet. Aber auch der deutschen Minderheit stehen wir zur Seite und helfen, wo wir helfen können.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2022.

Auf der Suche nach der verlorenen Mitte

Wie kann das „christlich-soziale Kontinuum“ bewahrt werden? Roman Deininger blickt auf die Geschichte der CSU

Von Tilman Asmus Fischer

Die Folgen, welche die Corona-Pandemie zeitigt, sind nicht nur sozial- und wirtschaftspolitischer Natur, sondern vermögen sich in markanter Weise auch auf die deutsche Parteienlandschaft auszuwirken. Das zeigt sich etwa darin, dass sich im Rahmen der Krisenbewältigung ein Parteivorsitzender, der zuvor im Wesentlichen mit Spott oder Ablehnung bedacht worden war, eine derartige Reputation erarbeiten konnte, dass für ihn und seine Partei nun sogar eine Kanzlerkandidatur nicht mehr ausgeschlossen ist. Die Rede ist von Markus Söder und seiner Christlich-Sozialen Union.

Nichts wird nach Corona mehr so sein, wie es vorher war. Diese schlichte wie tiefgreifende Tatsache lässt Roman Deiningers „Die CSU. Bildnis einer speziellen Partei“ besondere Bedeutung zukommen. Immerhin bietet sie das differenzierte Porträt einer Partei und die Geschichte ihrer Entwicklung zwischen ihrer Gründung nach der tiefgreifendsten politischen Zäsur des 20. Jahrhunderts – dem Ende des Zweiten Weltkriegs – und ihrem 75. Geburtstag im Jahr der (bisher) tiefgreifendsten politischen Zäsur des 21. Jahrhunderts – der Pandemie. Dass eben diese Krise für den Autor zur Zeit der Fertigstellung seines Buchs noch nicht abzusehen war, macht dieses zu einer spannenden Quelle, die am Beispiel der CSU feinsinnig die Debatte um Gegenwart und Zukunft der Volksparteien an der Jahreswende 2019/2020 – und damit den Status pro ante – dokumentiert. Hierfür bringt Roman Deininger schon deshalb die besten Voraussetzungen mit, da er als politischer Reporter der „Süddeutschen Zeitung“ bereits seit Jahren schwerpunktmäßig mit den Christsozialen befasst ist. Seine Kenntnisse aus der Berichterstattung über die gegenwärtige CSU verknüpft er in gekonnter Weise mit  historischen Hintergründen zur Parteigeschichte sowie mit politischen Köpfen Bayerns aus verschiedenen Generationen, die er im Gespräch zu Wort kommen lässt. Dabei gelingt es ihm, durchaus unterhaltsam zu schreiben, ohne ins Anekdotische abzudriften und die große Linie seiner Analyse aus den Augen zu verlieren.

Diese setzt mit einer Bestandsaufnahme zur Gegenwart der CSU ein, die Deininger zwischen dem Agieren der Partei unter Horst Seehofer im Asylstreit und der mit der Machtübernahme Markus Söders eingeleiteten Reform der Partei entfaltet. Von hier aus richtet der Verfasser den Blick in die Vergangenheit und zeichnet die Geschichte der CSU nach: vom mit der Gründung einhergehenden „Bruderkampf“ mit der Bayernpartei über die großen Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden der Bonner Republik bis in die Berliner Republik. Vor dem Hintergrund dieses historischen Überblicks befasst sich der dritte Hauptabschnitt des Buchs mit der facettenreichen Beziehung zwischen der Partei und ,ihrem‘ Freistaat. Ausgehend von der für das Wesen und Bestehen der CSU systemrelevanten Bindung an Bayern analysiert der vierte Abschnitt das Wirken der Partei „in Berlin, Brüssel und in der Welt“. Stand am Anfang der Blick in die Vergangenheit, wendet sich Deininger zuletzt der Frage nach der Zukunft der CSU zu. Beschlossen wird das Buch mit Überlegungen über die „CSU auf der Suche nach der verlorenen Mitte“.

Dr. Markus Söder: #JazuBayern (CSU-Parteitag 2018) (Foto: Michael Lucan)

Der differenzierte Blick, den Deininger wagt, zeigt sich etwa hinsichtlich des wohl am emotionalsten aufgeladenen Kapitels der jüngeren Beziehungsgeschichte von CDU und CSU: dem Asylstreit von 2018. Bei aller (begründeten) inhaltlichen Kritik an populistischen Auswüchsen des aus dem Selbstverständnis der CSU resultierenden Bestrebens, „rechte Wähler im demokratischen Spektrum zu halten“, und aller Stilkritik an Horst Seehofer verfällt Deininger nicht der (immer wieder gängigen) Pauschalverurteilung des Bundesinnenministers. So hält Deininger dezidiert fest, „dass Seehofer nicht der einzige Vertreter eines scharfen Kurses war, er war nicht mal der schärfste“. Ja mehr noch gesteht er sogar zu, dass „nüchtern betrachtet“ dessen „Position, es kämen zu viele Flüchtlinge zu ungeordnet ins Land, natürlich legitim“ gewesen sei – „zumal Merkel ihre Politik einer breiten Bevölkerung lange nicht hinreichend zu erklären vermochte“.

Das „breite Dach“ der CSU hebt der Autor nicht nur an dieser Stelle hervor, wo sich „Grenzzaunfreunde und Flüchtlingshelfer gleichermaßen“ unter ihm tummeln. Vielmehr zieht sich die Beobachtung der inhaltlichen Weite – und damit auch der inhaltlichen Spannungen – der CSU durch das gesamte Buch. Besonders spannend ist dieser Blickwinkel hinsichtlich der Europapolitik.

Hier verdeutlicht Deininger nicht nur das rivalisierende Miteinander nationalstaatlich und gesamteuropäisch orientierter Positionen in der CSU, sondern stellt zudem die Betonung eines „Europas der Regionen“ als besonderes Merkmal der christsozialen Europapolitik heraus. Irritierend ist, dass Deininger, obwohl er immer wieder gerade auch die Europapolitik der CSU in Geschichte und Gegenwart thematisiert, in keiner Weise auf die inhaltliche wie personelle Verwobenheit zwischen den Christsozialen und der paneuropäischen Bewegung eingeht. Dies gilt sowohl für den Präsidenten der Paneuropa-Union Deutschland und CSU-Europaparlamentarier Erzherzog Otto von Habsburg-Lothringen, als auch für dessen Nachfolger, das EP-Urgestein Bernd Posselt. Zumindest das Wirken Manfred Webers erhält eine angemessene Würdigung, jedoch fehlt auch hier – wie bei Franz Josef Strauß – der Verweis auf die Prägung der politischen Positionen durch die Paneuropa-Idee.

Es ist die Frage nach den Perspektiven einer „Suche nach der verlorenen Mitte“ – anders gesagt: der Suche nach einer Zukunft der Volkspartei CSU –, auf welche Deiningers Buch hinausläuft. Er vermag sie schließlich in einem klarsichtigen Vergleich zur Schwesterpartei CDU zu fassen: „Die Merkel-CDU hat sich viel klarer als die CSU auf einer Seite der Bruchlinie der Gesellschaft positioniert – auf der Seite der Kosmopoliten.“ Den hierfür gezahlten Preis sieht Deininger darin, „dass für die CDU – wenn sie nach Merkel nicht einigermaßen drastisch den Kurs ändert – auf der Seite der Heimatbewahrer nicht mehr viel zu holen ist: bei den Arbeitern, bei der unteren Mittelschicht“. Im Kontrast hierzu erkennt Deininger zu Recht im Zugang zu ebendiesen Bevölkerungsgruppen „ein christsoziales Kontinuum, das ein Überleben als überdurchschnittlich große Partei begünstigt“, wenn auch nicht garantiert. Darin, dieses Kontinuum zu wahren, erkennt Deininger die zentrale Herausforderung der CSU: „Es ist ein heftiger Spagat, in den die CSU gerade hineingleitet: Sie muss die Sorgen der Heimatbewahrer ernst nehmen und trotzdem das Lebensgefühl der Kosmopoliten aufnehmen. Beim Thema Migration zum Beispiel: Wenn sie auf beiden Seiten der Bruchlinie reüssieren will, muss sie mit Leben füllen, was bisher nur eine Formel ist: ,Ordnung und Humanität‘.“

Fazit: „Wahrscheinlich war die Integrationsleistung, die eine Volkspartei zu ihrem Überleben erbringen muss, noch nie so groß wie heute.“

Roman Deininger: Die CSU. Bildnis einer speziellen Partei. Beck Verlag, München 2020, 352 Seiten, mit 20 Abbildungen, ISBN 978-3-406-74982-7, EUR 24,–

Erschienen am 18. Februar 2021 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Politische Lehrjahre in Oberschlesien

Er gehört zu den engagiertesten – heute jedoch vergessenen – Demokraten der Weimarer Republik: Karl Spiecker. Der Politiker der Zentrumspartei – und später der CDU – war von 1919 bis 1921 Beauftragter des Staatskommissars für die Überwachung der öffentlichen Ordnung in Breslau und in dieser Funktion von deutscher Seite in die Auseinandersetzungen um Oberschlesien involviert. Der Historiker Claudius Kiene hat nun eine erste Gesamtbiografie vorgelegt unter dem Titel „Karl Spiecker, die Weimarer Rechte und der Nationalsozialismus. Eine andere Geschichte der christlichen Demokratie“. Im Interview spricht er über Spieckers Zeit in Schlesien sowie über deren Nachwirkungen.

Herr Kiene, wer war dieser Dr. Karl Spiecker, der im Dezember 1919 seinen Dienst in Breslau antrat?

Zu Beginn seines Engagements für den preußischen Staat war der 1888 in Mönchengladbach geborene Karl Spiecker zunächst einmal ein eher unbekannter Journalist. Im heimischen Rheinland hatte er für regionale Zeitungen gearbeitet, bevor er bei der „Centrums- Parlaments-Korrespondenz“ eine Anstellung in der Reichshauptstadt Berlin fand. Infolge einer Kriegsverletzung kam er in die Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amtes, wo er wahrscheinlich erstmals mit nachrichtendienstlichen und außenpolitischen Problemen konfrontiert wurde. An diese Tätigkeit konnte er als deutscher Nachrichtenchef in Oberschlesien anknüpfen.

Der deutsche Plebiszitkommissar für die Vorbereitung der Volksabstimmung in Oberschlesien, Kurt Urbanek, hat Spiecker rückblickend als „geheimnisvoll durch Oberschlesien geisternde Persönlichkeit“ beschrieben. Was ist über das Wirken Spieckers in diesen Jahren bekannt?

Spiecker hatte als Beauftragter des Staatskommissars Robert Weismann eine von der lokalen Verwaltung relativ unabhängige Stellung. Seine Dienststelle in der Breslauer Tauentzienstraße diente als Bindeglied zwischen lokalen Organisationen und der Reichsregierung, die aus außenpolitischen Gründen verdeckt agieren musste. Zum einen wurden über die „Stelle Spiecker“ Geldmittel des Reiches für Propagandaaktivitäten und den oberschlesischen „Selbstschutz“ verteilt. Von dieser Finanzierung profitierten auch bekannte paramilitärische Verbände wie das Freikorps Oberland oder die Sturmabteilung Roßbach. Zum anderen unterhielt Spiecker ein ausgedehntes Informantennetzwerk, verfasste auf dieser Grundlage Berichte über die Lage vor Ort und fungierte als Hintermann diverser, selbst kommunistischer Zeitungen, die sich für den Verbleib Oberschlesiens bei Deutschland engagierten.

Urbaneks Charakterisierung umgibt Spiecker mit der Aura des Geheimnisvollen. Andere Zeitgenossen wählten schärfere Worte, so der deutschnationale Publizist Friedrich Carl Holtz oder der NSDAP-Fraktionsvorsitzende im Reichstag Wilhelm Frick, die Spiecker Jahre nach seinem Wirken in Oberschlesien als „fidelen Staatskommissar“ bzw. „Femerichter“ bezeichneten. Woher rührten die problematischen Konnotationen, die sich hiermit verbinden?

Sie resultieren unmittelbar aus der nötigen Diskretion, die eine Aufgabe wie die von Spiecker verantwortete mit sich bringt. Was sich selbst für den heutigen Historiker als undurchsichtige und zuweilen anrüchige Unternehmung darstellt, konnte auf die Zeitgenossen kaum anders wirken. Wie man Spieckers Leistung letztlich bewertete, hing vor allem vom politischen Standort des Kommentators ab. Während Anhänger der republiktreuen Parteien die Verdienste des Zentrumsmannes würdigten, verbreitete die radikale Rechte Gerüchte über seinen angeblich unsittlichen Umgang mit staatlichen Geldern oder brachte ihn mit den sogenannten Fememorden, also politischen Morden durch rechtsextreme Freikorps, in Verbindung. Problematisch waren diese Vorwürfe auch deshalb, weil ihnen aus Rücksicht auf die internationale Öffentlichkeit nicht offensiv begegnet werden konnte. Die Reichsregierungen mussten ein Interesse daran haben, Teile von Spieckers Engagement im Dunkeln zu belassen.

1921 war Spiecker in die Reichshauptstadt zurückgekehrt. Welche Erfahrungen oder Einsichten brachte er hierhin mit und wie sollte sich das Vermächtnis seiner schlesischen Episode auf seine weitere politische Laufbahn auswirken?

Obwohl die Tätigkeit in Breslau und in Oberschlesien tatsächlich nur eine relativ kurze Episode in einer überaus facettenreichen Biographie ausmacht, kann ihre Wirkung auf Spieckers weiteren Werdegang kaum überschätzt werden. Einerseits waren die Jahre des Abstimmungskampfes für ihn so etwas wie politische Lehrjahre. Die Fähigkeit zur Arbeit im Verborgenen erwies sich insbesondere im Kampf gegen den Nationalsozialismus von Vorteil, den Spiecker als hierfür zuständiger Sonderbeauftragter im Reichsinnenministerium und schließlich aus dem Exil herausführte.
Andererseits hatten die bereits angesprochenen, von der radikalen Rechten gestreuten Gerüchte über seine Tätigkeit eine schwerwiegende, rufschädigende Wirkung. Sie trugen dazu bei, dass sich Spieckers Hoffnungen auf ein Reichstagsmandat zerschlugen. Wie nachhaltig diese Gerüchte waren, zeigen die Jahre im nordamerikanischen Exil: Noch 1945 wurde er in einer kommunistischen Exilzeitschrift als ehemaliger politischer Anführer von „Nazi-Mörderbanden“ verunglimpft – mit Blick auf Spieckers Verdienste im Kampf gegen den Nationalsozialismus ein geradezu absurder Vorwurf.

Sie heben in Ihrer Arbeit hervor, dass es ein leidenschaftlicher Demokrat wie Spiecker verdienen würde, dass mehr an sein Wirken erinnert wird. Was jedoch hat seine historische Persönlichkeit uns heute noch zu sagen – bzw. wie könnte und sollte Karl Spiecker gedacht werden?

Eine Antwort auf diese Frage kann letztlich nur die Zivilgesellschaft geben. Ich bin aber überzeugt, dass die Weimarer Demokratie insgesamt als Bestandteil der deutschen Demokratiegeschichte einen größeren Stellenwert in unserer Erinnerungskultur verdient. Für dieses Ziel setzt sich zum Beispiel auch die 2017 gegründete Arbeitsgemeinschaft „Orte der Demokratiegeschichte“ ein, die den Ansatz einer identitätsstiftenden Demokratieerinnerung verfolgt. Die Beschäftigung mit Orten – aber eben auch Ereignissen und Persönlichkeiten – der Demokratiegeschichte soll als Thema der historisch-politischen Bildung zur Förderung des Demokratiebewusstseins beitragen.
Eine Einzelperson kann in diesem Sinne als lebensnahes Anschauungsobjekt dienen: In welchen Handlungsspielräumen bewegte sich ein überzeugter Weimarer Demokrat wie Karl Spiecker? Was machte Demokratie für ihn aus? Wo ging er für diese Überzeugungen Risiken ein? Was trennt ihn von heutigen pluralistischen Demokratieverständnissen? Es ist nicht zuletzt die Episode in Oberschlesien, die Spiecker zu einem ungemein spannenden Beispiel für solche Fragen macht.

Die Fragen stellte Tilman Asmus Fischer.

Erschienen in: Wochenblatt.pl, 1. Mai 2020.

Einseitig?

Die Linke und die Religion

Cornelia Hildebrandt / Jürgen Klute und andere (Hg.): Die Linke und die Religion. VSA-Verlag, Hamburg 2019, 240 Seiten, Euro 16,80.

Seit einigen Jahren setzt „Die Linke“ auf ein zunehmend konstruktives Verhältnis zu Kirche und Religion. Treibende Kraft ist eine 2017 vom Parteivorstand eingesetzte „Kommission Religionsgemeinschaften, Weltanschauungsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft“. Eskortiert werden diese Bemühungen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung: Nach zwei religionspolitischen Kolloquien und einem 2018 erschienenen Sammelband zum „gemeinsame(n) Erbe von Christen und Marx“ gibt nun das von Cornelia Hildebrandt und anderen herausgegebene Buch „Die Linke und die Religion“ Einblick in den Stand der Debatte.

Dabei ist dessen Stoßrichtung – erst recht vor dem Hintergrund der noch vor einigen Jahren in religionspolitischen Debatten der Linken dominanten Positionen – bemerkenswert: Die große Linie der Beiträge ist geprägt von einer nachhaltigen Skepsis gegenüber der „laizistischen Grundüberzeugung ‚Religion als Privatsache‘“, der – so die Herausgeber in ihrer Einleitung – „der Verdacht zugrunde [liegt], dass Religionen ein Konfliktpotenzial darstellen, das nur dann zivilisiert werden könne, wenn Religion zur Privatsache gemacht würde“.

Entsprechend kritisch – und zumindest in weiten Teilen selbstkritisch – nehmen die Autorinnen und Autoren in der ersten Sektion des Sammelbandes „Linke Religionskritiken von der Aufklärung über Marx bis zur SED und PDS“ in den Blick. Dabei setzen die Beiträge – allen voran Frieder Otto Wolfs als „Einwendungen gegen eine schiefe Debatte“ gefasste Überlegungen zu „Religionsbegriff und Religionskritik“ – einen religionsphilosophischen Schwerpunkt. Jedoch werden auch zeitgeschichtliche Themen wie das Verhältnis der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik zur weltanschaulichen Toleranz (untersucht von Ulrich Peter) und der „Abschied von der Religionspolitik der SED“ in den Blick genommen. Am ehesten vermag der Leser im letztgenannten Beitrag, den Cornelia Hildebrandt gemeinsam mit der früheren systemnahen DDR-Theologin Ilsegret Fink verfasste, apologetische Züge zu identifizieren.

Die in den vorangegangenen Aufsätzen angestellten Überlegungen führt der zweite Abschnitt des Buches – „Der Staat, die Linke und die Religion“ – mit Blick auf das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Religion fort und gelangen mehrheitlich zu einer Würdigung des in Deutschland etablierten Religionsverfassungsrechts. Freilich: So harmonisch, wie das neue Verhältnis der Linken vor allem nach der Lektüre des Gros der Beiträge vielleicht erscheinen mag, ist es nicht. Dies verdeutlichen die im letzten Teil des Buches versammelten Beiträge zu „Konfliktfelder(n) einer linken Religionspolitik“. Diese verweisen zum einen auf künftige Herausforderungen von Religionspolitik und Religionsverfassungsrecht, etwa das „Arbeitsrecht in der Kirche“ (Erhard Schleitzer) wie auch die „Anerkennung des Islam als ‚Körperschaft des öffentlichen Rechts‘“ (Karl-Helmut Lechner). Mit Ausnahme von Peter Bürgers vorurteils- und klischeebeladenen Beitrag über „Staatskirchliche Militärseelsorge als Teil der Kriegsapparatur“ sind auch diese Beiträge spürbar um eine besonnene Analyse bemüht.

Zum anderen regen sie zu kritischen Rückfragen an linke Perspektiven an: So treten etwa Andreas Hellgermann und Barbara Imholz für den Erhalt des Religionsunterrichts ein, da es sich bei einem „an einer Politischen Theologie/Befreiungstheologie orientierten Religionsunterricht“ um einen „Bündnispartner“ im Kampf um „Autonomie, Emanzipation und Solidarität“ handele. Es ist zu fragen, inwieweit hier sowohl eine einseitige Reduzierung theologischer Themen und Traditionen als auch eine problematische Instrumentalisierung von Religion vorliegt.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft 3/2020.

Zwischen Anerkennung der Fakten und Solidarität

Erhard Eppler (1926-2019) und die „Neue Ostpolitik“

Mit Erhard Eppler ist am 19. Oktober einer der entscheidenden Vordenker der „Neuen Ostpolitik“ heimgegangen. Nicht nur, dass die Unterzeichnung der sogenannten „Ostverträge“ 1970 bis 1973 in seine Amtszeit als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit fiel. Vielmehr war er bereits an der Ausarbeitung der Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1965 „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ beteiligt und unterstütze die ostpolitische Wende – auch gegen Vorbehalte – in der eigenen Partei und Fraktion. Eine wissenschaftliche Würdigung hat das ost- und deutschlandpolitische Vermächtnis Epplers durch die einschlägige Dissertation von Christine Simon (Erhard Epplers Deutschland- und Ostpolitik, Bonn 2004) erfahren.

Aufgrund der sich im Zusammenhang mit der „Neuen Ostpolitik“ manifestierenden vertriebenenpolitischen Frontverläufe in der Bonner Republik war eine Konfrontation mit den Vertriebenenverbänden unvermeidlich. Jedoch würde es zu kurz greifen, Eppler einseitig innerhalb eines binären Diskursschemas zu verordnen, das zum einen die Anerkennung deutscher Kriegsopfer an das Eintreten für deutsche Rechtspositionen, zum anderen die Bestreitung des Opferstatus an eine Politik des Verzichts koppelt. Vielmehr taten alle politischen Gegensätze nicht Epplers grundsätzlicher Empathie gegenüber den Vertriebenen Abbruch. Dies mag der Auszug aus einer Rede auf einer Kundgebung der Seliger-Gemeinde Baden-Württemberg 1975 verdeutlichen, in der sich Eppler in einen sudetendeutschen Sozialdemokraten 1945 hineinversetzte und dessen „konfliktgeladene, einsame, tragische Existenz“ nachzeichnete:

19.11.1983
SPD-Parteitag im Kölner Messezentrum
Verabschiedung des Leitantrages des SPD-Vorstandes zur Sicherheitspolitik (zur Nachrüstung gemäß NATO-Doppelbeschluß).

„Als die meisten jubelten, wusste er, daß dieser Jubel nicht lange halten werde, als die meisten ‚Heim ins Reich‘ brüllten, verlor er seine Heimat, als der Krieg da war, musste er seinem Gastland klarmachen, daß er eben doch nicht Tscheche oder Slowake, sondern Deutscher war, daß diese Sudetendeutschen Hitler nicht haßten, obwohl, sondern weil sie Deutsche waren und weil dieser Mann ein ganzes Volk ins Unheil führte, ganz gewiß den Teil des Volkes, dessen Ahnen in Böhmen und Mähren heimisch geworden waren. Und gleichzeitig mussten sie alles tun, um die Vertreibung, die sich schon 1940 ankündigte, trotz allem abzuwenden, weil sie zwar verstehen, aber niemals billigen konnten, was aus dem Haß und der Verbitterung entstand, die Hitler bei manchem Tschechen und Slowaken geweckt hatte.“

Vor dem Hintergrund einer solchen empathischen Grundhaltung strebte Eppler sodann eine gegenseitige Solidarität zwischen Vertriebenen und Mehrheitsgesellschaft an. Er „verlangte Solidarität mit den Vertriebenen, die allerdings auch solidarisch mit dem deutschen Volk sein müssten, das seinen Platz in einem friedlichen Europa sichern wolle“, so Simon. Bereits die von Eppler mitverantwortete Ostdenkschrift hatte – dieser Gesichtspunkt wird in ihrer jüngeren Rezeption leider fast durchgehend ausgeklammert – entscheidende Integrationsdefizite aufseiten der Zivilgesellschaft kritisiert, etwa die mangelnde Bereitschaft, die Vertreibungsopfer mit ihren Traumata ebenso wie mit ihren kulturellen Traditionen auf- und anzunehmen. Und die 1966 veröffentlichte – wiederum von Eppler mitverfasste – Stellungnahme der SPD-Bundestagsfraktion zur Ostdenkschrift hielt mit Blick auf eine anzustrebende friedensvertragliche Regelung fest:

„Kein deutscher Politiker kann den von Hitler begonnenen und total verlorenen Krieg nachträglich am Verhandlungstisch gewinnen. Die SPD wird sich dabei bemühen, so viel wie möglich von Deutschland für die Deutschen zu erhalten. Unser Wille zur Einheit schließt die Bereitschaft zu Opfern ein. Aber dieser Wille gebietet auch, daß wir uns innerhalb unseres Volkes unablässig um ein Höchstmaß an Solidarität, besonders zwischen Einheimischen und Vertriebenen, bemühen.“

Solidarität der Vertriebenen mit der Gesamtheit des deutschen Volkes hieß wiederum, dazu beizutragen, „daß wir die Fakten unserer Geschichte zur Kenntnis nehmen, und zwar mit jenem Minimum an Solidarität, ohne das eine Nation sich nicht behaupten kann“, so Eppler 1970. Die zu akzeptierenden „Fakten unserer Geschichte“ stellten sich für Eppler freilich dergestalt dar, dass man nur auf das verzichten könne, „was man hat oder doch haben könnte“ – und für ihn galt: „Pommern oder Schlesien waren von den Nazis längst verspielt, ehe es eine Bundesrepublik gab.“ Insofern war für Eppler die Notwendigkeit, die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen gegeben und der Spielraum, „so viel wie möglich von Deutschland für die Deutschen zu erhalten“, äußerst überschaubar.

Was Eppler jedoch wiederholt – und auch gegenüber polnischen Gesprächspartnern – anregte, war, im Gegenzug zu einer Grenzanerkennung eine Rückkehr ostdeutscher Vertriebener in ihre Heimatgebiete zu ermöglichen. Dass dies – in Form der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union – letztlich Realität wurde, mag für die Weitsichtigkeit sprechen, mit der Eppler den zweifellos bestehenden Spannungen und Interessenkonflikten der Ost- und Vertriebenenpolitik seiner Zeit stellte.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: DOD – Deutscher Ostdienst 6/2019.

Den Wandel erträglich gestalten

Der Historiker Andreas Rödder entwirft einen Konservatismus für das 21. Jahrhundert

Von Tilman Asmus Fischer

In den vergangenen Wochen wurden wieder einmal politische Themenfelder, mit denen sich ganz erhebliche Zukunftsfragen verbinden, primär von Personaldebatten dominiert. In diesem Fall mit den Personen Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer. Programmatische Fragen – einer europäischen Klimagesetzgebung oder der Erreichung des Zwei-Prozent-Ziels für den Verteidigungshaushalt – waren höchstens als den Personalia untergeordnete Gesichtspunkte von Bedeutung. Derartige Vorgänge sind nicht geeignet, den westlichen Demokratien und hierzulande den Volksparteien aus den Krisen zu verhelfen, in denen sie sich befinden und bei denen es sich vor allem um Vertrauenskrisen handelt. Gefragt ist vielmehr eine Politik, die sich – jenseits populistischer Patentrezepte – glaubhaft den Herausforderungen der Postmoderne stellt. Es geht um das, was der Mainzer Zeithistoriker und bekennende Christdemokrat Andreas Rödder in seinem neuen Buch als das „Anliegen eines liberalen Konservatismus“ formuliert: den „Wandel so zu gestalten, dass er für die Menschen erträglich wird und gelingen kann“.

Mit der weltweiten Renaissance autokratischer Regime, Rotchinas ökonomisch erfolgreichem „Kapitalismus ohne Demokratie“, Folgen der Digitalisierung auf den öffentlichen Diskurs und einem kulturellen wie wirtschaftlichen Globalismus umreißt der Autor einleitend die zentralen Herausforderungen für die westlichen Demokratien. Ebenso klarsichtig arbeitet Rödder die zunehmende Polarisierung der hierzulande geführten Debatten – zwischen einer rechten „Moralisierung des Eigenen“ und einer linken „Moralisierung des Regenbogens“ – heraus und wirft die Frage nach einem „Ende der Volksparteien“ auf. Wenn sich Rödder auch einer abschließenden Prognose enthält, macht er doch deutlich, was zwingende Überlebensbedingung ist: die „Wiederbelebung unterscheidbarer, inhaltlich profilierter Volksparteien, die zugleich dem fatalen Hang der Politik zur Selbstentmachtung begegnet“. Als Beitrag hierzu will er sodann auch seinen Entwurf eines „modernen Konservatismus als Kern einer Volkspartei der rechten Mitte“ verstanden wissen.

Dieser Entwurf besteht zunächst aus einer ideengeschichtlichen Herleitung des von Rödder vertretenen Konservatismuskonzepts, das sich vor allem Edmund Burke verdankt. Hieran schließt sich eine „Agenda für Deutschland“ – das umfangreichste Kapitel des Buchs – an, die die mögliche Programmatik eines modernen Konservatismus konkret für Deutschland und Europa ausbuchstabiert. Nach einem Parforceritt durch den britischen Konservatismus und die wechselhafte Geschichte des deutschen Konservatismus bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts geht Rödder intensiver auf die Entwicklung liberalen konservativen Denkens in der Bundesrepublik ein, wobei er explizit den Beitrag Robert Spaemanns und Hans Maiers hierzu würdigt. Einen Schwerpunkt legt der Autor auf die programmatische Entwicklung der „C“-Parteien.

Insgesamt arbeitet Rödder vier Grundzüge eines liberalen Konservatismus heraus: Der erste besteht in der Annahme, „dass die Beweislast nicht auf Seiten des Geltenden liegt, sondern auf Seiten des Neuen, das erklären muss, inwiefern es tatsächlich eine Verbesserung erbringt“. Zweiter, den Rödder als „fröhliche Skepsis“ bezeichnet, meint das Bewusstsein für die Fehlbarkeit menschlicher – auch eigener – Einschätzungen und Entscheidungen, was zu einer „Haltung der Bescheidenheit sowie der gesunden Skepsis und des produktiven Zweifels gegenüber Moden und vermeintlichen Gewissheiten und Eindeutigkeiten“ führt. Dritter ist das Prinzip von „Maß und Mitte“ und setzt „statt auf die Erschaffung einer neuen Welt auf behutsame Verbesserungen“. Zuletzt steht ein liberaler Konservatismus für eine starke Zivilgesellschaft gemäß der Losung „Gesellschaft vor Staat“ und unter dem Vorzeichen von Freiheit sowie Subsidiarität.

Rödders „Agenda für Deutschland“ deckt umfangreiche politische Themenbereiche ab: Internationale Politik und Europa, Bildung und Digitalisierung, Infrastruktur und Wirtschaft, Klima und Umwelt, Familie und Zivilgesellschaft, Asyl und Migration. Auf knapp 70 Seiten bündelt Rödder hier grundsätzliche Überlegungen und konkrete Forderungen zu den einzelnen Ressorts, was der Struktur nach einem Wahlprogramm gleicht – und sich in Teilen auch so liest, sodass man bisweilen den Esprit der ersten Kapitel vermisst. Hier hätte eine exemplarische und dafür ausführlichere Behandlung einzelner wenigerer Themenkomplexe – etwa Umwelt, Migration sowie internationale und Europapolitik – womöglich den Ertrag des Buches gesteigert. Große Überraschungen bleiben – abgesehen von der vielleicht etwas provokanten Forderung einer „Sozialstaatsbremse“ – aus. Dass so manche vernünftige, aber im öffentlichen Diskurs unpopuläre Forderung – wie diejenige nach mehr Realismus in der Außen- und Sicherheitspolitik – neu akzentuiert wird, ist Rödder zu danken. Die Stärken dieses Abschnitts liegen jedoch vor allem da, wo Rödder den gegenwärtigen Diskurs seziert und Ideologiekritik übt, etwa mit Blick auf Klima- und Familienpolitik.

Am Anfang von Rödders Buch steht zwar das Nachdenken eines Christendemokraten über die künftige programmatische Ausrichtung des eigenen politischen Lagers. Am Ende hat der meinungsstarke Historiker jedoch mit seinem Konzept eines modernen Konservatismus eine Idee umrissen, der sich – in diesem Sinne verstandene – Konservative weit über die Parteienfamilie der Union hinaus (mit gewissen Abstrichen bei einzelnen politischen Forderungen) verpflichtet fühlen können. Daher sollte „Konservativ 21.0“ auch nicht nur als praktisch-politische „Agenda für Deutschland“, sondern auf einer allgemeinen Ebene zudem als Leitfaden für eine besonnene und verantwortungsethisch orientierte Debattenkultur in Deutschland gelesen werden: Denn dies ist es, was Konservative über Parteigrenzen hinaus als ein gemeinsames Anliegen teilen – und was in Zeiten ideologisch geführter und von Ängsten getriebener Debatten nottut.

Andreas Rödder: Konservativ 21.0 – Eine Agenda für Deutschland. C.H. Beck Verlag, München 2019, 144 Seiten, ISBN 978-3-406-73725-1, EUR 14,95

Erschienen am 8. August 2019 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Von politischem Gestaltungsanspruch geprägt

Der Kirchentag eröffnete Einblicke in die aktuelle Debattenkultur

Von Tilman Asmus Fischer

Es gibt Konstellationen, die dem Zufall geschuldet und dennoch äußerst sinnfällig sind. Dies gilt etwa für das äußere Erscheinungsbild des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentags, der am vergangenen Wochenende mit über 120 000 Teilnehmern in Dortmund stattfand. Dessen Corporate Design folgte zum einen der Losung des heurigen Protestantentreffens: „Was für ein Vertrauen“ (2 Könige 18, 19) und war zum anderen konsequent durch eine grüne Farbgebung geprägt. Ausgehend von dem Schriftwort und seinem Zentralbegriff „Vertrauen“ ging es in vielen – traditionell von politischem Gestaltungsanspruch geprägten – Podien um Fragen gesellschaftlicher Kohäsion; ganz im Sinne der Problemanzeige, welche die Evangelische Kirche in Deutschland und die katholische Deutsche Bischofskonferenz unlängst in ihrem Gemeinsamen Wort „Vertrauen in die Demokratie stärken“ entworfen hatten. Die farbliche Gestaltung wiederum schien ideal mit dem gegenwärtigen gesamtpolitischen Trend zu korrespondieren, der – bei aller programmatischen Vielfalt – durchaus auch vielen der Kirchentagsveranstaltungen als prägend abzuspüren war. Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein schlaglichtartiger Blick auf die im Rahmen des Kirchentags immer wieder geführten Metadebatten um die politische und kirchliche Diskussionskultur in Deutschland und Europa.

Fragen rund um die Verschärfung des öffentlichen Diskurses – und Folgen dieser Entwicklung – haben hierzulande mit der Ermordung von Walter Lübke eine neue Dringlichkeit erreicht. Und so fragte der Landesbischof von Kurhessen-Waldeck, Martin Hein, auf einem Podium im Rahmen der Bundestagung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU im unmittelbaren Vorfeld des Kirchentags, ob Deutschland noch eine wehrhafte Demokratie sei: „Hier sind wir heute noch mehr gefordert als vor einer Woche, als noch nicht klar war, was der Grund für den Mord war.“ Der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maiziere MdB warnte mit Blick auf die Ermittlungen im Mordfall Lübke vor vorschnellen Festlegungen: „Wir haben einen dringend Tatverdächtigen, der in U-Haft sitzt, mehr nicht.“ Auch hier müsse – auch im Sinne einer sachlichen Debatte – am Prinzip der Unschuldsvermutung festgehalten werden; andernfalls könne der weitere Verlauf der Ermittlungen am Ende noch rechtspopulistischen Kräften in die Hände spielen.

Nachdem sich der Deutsche Evangelische Kirchentag bereits langfristig zu einem Ausschluss von Vertretern der AfD vom offiziellen Programm entschieden hatte, bot das Hauptpodium „Was ist noch konservativ? Was ist schon rechtspopulistisch?“ zumindest die Möglichkeit, an zentraler Stelle über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer solchen Grenzziehung zu diskutieren. In seinem Impuls konstatierte der Mainzer Zeithistoriker Andreas Rödder: „Diese Grenze muss es in der Tat geben, und es gibt sie auch. Sie wird bestimmt durch den Artikel 1 des Grundgesetzes, die Würde des Menschen, durch die Grenze zur Verharmlosung des Nationalsozialismus und zum völkischen Denken.“ Jenseits dieser Grenze gebe es nichts zu diskutieren, diesseits dieser Grenze bedürfe es aber – in den Worten von Timothy Garton Ash – „robuster Zivilität“ und „demokratischer Auseinandersetzung statt moralisierender Empörung und Ausgrenzung“. Schienen die beiden Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und Markus Söder in der anschließenden Diskussion mit den Positionen Rödders, der – so auch mit seinem neuesten Buch „Konservativ 21.0“ – für einen zeitgemäßen Konservatismus eintritt, gut leben zu können, bekam dieser den stärksten Gegenwind von der Journalistin Elisabeth von Thadden, deren Kritik jedoch nicht unwesentlich von Pauschalisierungen geprägt war.

Zu einer europäischen Weitung der Perspektive auf Fragen der politischen Kultur kam es im Rahmen des Podiums „Europa – Verantwortung und Herausforderung für die Kirchen“. In der Diskussion fand Essens Bischof Franz-Josef Overbeck deutliche Worte zur Perspektive Europas, von dem er betonte, dass es mehr als die gegenwärtige Europäische Union sei. Dieses Europa dürfe nicht nur Mythos und Idee sein, sondern müsse als wirkliche Wertegemeinschaft politische Realität werden. Konkret forderte er eine Aufnahme sämtlicher Balkanstaaten in die EU – gerade auch mit Blick auf Friedensperspektiven für die Region. Insgesamt gelte es für Christen, Europa neu zu denken, statt angesichts zunehmender Säkularisierungstendenzen Rückzugsgefechte zu führen: „Wir sind als Christen in eine neue Welt gestellt und müssen die Zukunftsherausforderungen ökumenisch angehen.“

Deutlich wurden im weiteren Diskussionsverlauf die zunehmenden Ost-West-Spannungen, nicht nur zwischen den EU-Mitgliedsstaaten, sondern ebenso zwischen den Kirchen in Europa. Während der grüne Europaparlamentarier Sven Giegold die reformierte Kirche Ungarns dafür geißelte, Victor Orban mit an der Macht zu halten, räumte sein Unionskollege Peter Liese zumindest ein: „Bei aller Kritik an Osteuropa müssen wir kritisch eingestehen: Wir (Deutschland, A.d.R.) haben bis 2015 selbst eine europäische Verteilung von Flüchtlingen abgelehnt.“ Daher könne Deutschland in politischen Auseinandersetzungen innerhalb der EU nicht behaupten, prinzipiell zu wissen, was richtig ist.

Zu einer interessanten Auseinandersetzung kam es – jenseits von Fragen der großen Politik – zwischen der Leitung des „Markts der Möglichkeiten“ und der Lebensschutzorganisation KALEB, die – wie ihr langjähriger Geschäftsführer Gerhard Steier gegenüber der „Tagespost“ erläuterte – nicht das erste Mal damit für Unmut sorgte, dass an ihrem Stand die in der Lebensrecht-Arbeit weit verbreiteten Kunststoff-Embryomodelle auslagen, die zeigen, wie weit ein Mensch bereits in der zehnten Woche entwickelt ist. Diese Modelle, so Steier, erstaunten und begeisterten regelmäßig und würden an interessierte Standbesucher verschenkt. Nachdem sich KALEB, berichtet er, der Aufforderung der Hallenleitung widersetzt habe, auf die als „anstößig“ empfundenen Figuren zu verzichten, habe sich die Marktleitung eingeschaltet. Mit dieser habe man sich nach hitziger Debatte darauf verständigt, die Embryomodelle weiterhin „defensiv“ zu verteilen: „Also genau das, was wir immer schon gemacht haben.“ Für künftige Kirchentage, so Steier, habe sich die Marktleitung jedoch vorbehalten, dass KALEB beim nächsten Kirchentag gegebenenfalls nur unter gänzlichem Verzicht auf das „provokante“ Informationsmaterial zum „Markt der Möglichkeiten“ zugelassen werde.

Der nächste Kirchentag wird 2021 unter katholischer Beteiligung als dritter Ökumenischer Kirchentag in Frankfurt stattfinden. Der gastgebende Diözesanbischof von Limburg, Georg Bätzing, hatte bereits nun in Dortmund eine Bibelarbeit (zu Lukas 7, 36–50) gehalten. Dabei fand er klare Worte für die Perspektiven eines strittige Fragen nicht ausklammernden ökumenischen Dialogs: „Wir dürfen uns der Mühe nicht entziehen, die Fragen zu klären, die vor 500 Jahren zur Trennung führten, und die uns heute vielleicht in besonderer Weise mahnen, die eine Kirche Jesu Christi zu sein.“

Unter anderem Titel erschienen am 27. Juni 2019 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Zwischen Revolution und Reflexion

Ein Aufsatzband der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschließt das „gemeinsame Erbe von Christen und Marx“

Von Tilman Asmus Fischer

2018 wurde auf unterschiedliche Weise anlässlich des 200. Geburtstages von Karl Marx das Verhältnis von Christentum und Marxismus beleuchtet. Einen Beitrag aus dem Umfeld der politischen Linken – namentlich der Rosa-Luxemburg-Stiftung – haben die beiden Theologen Michael Ramminger und Franz Segbers mit einem Sammelband vorgelegt, der den programmatischen Titel trägt: „‚Alle Verhältnisse umzuwerfen… und die Mächtigen vom Thron zu Stürzen.‘ Das gemeinsame Erbe von Christen und Marx“.

Diesem ‚gemeinsamen Erbe‘ wird – nach einer Einführung durch die Herausgeber und den Theologen Kuno Füssel – auf dreifache Weise nachgespürt: Zuerst in einem schlaglichtartigen Rückblick auf das wechselvolle Verhältnis von Kirche und marxistischer Bewegung; dann vermittels Beiträgen zu unterschiedlichen Fragen des gegenwärtigen Diskurses, die sich zwischen Religionsphilosophie, Exegese und Sozialethik bewegen. Abschließend werden exemplarische Formationen der christlichen Marxismus-Rezeption auf den Philippinen sowie in Nord- und Südamerika erörtert. Dabei wird freilich deutlich, dass es sich bei einer ‚christlich-marxistischen‘ Symbiose – wie sie die den Autoren vor Augen stehen mag – eher um ein Zweckbündnis handelt, das gewiss nicht fundamentale Differenzen in Welt- und Menschenbild zu überwinden vermag (und in das sich zu fügen wohl auch nicht jeder Christ willens sein wird).

Den zentralen Ertrag bringt der zweite Hauptabschnitt des Sammelbandes hervor. Wenn die einzelnen Verfasser auch aus unterschiedlichen Disziplinen kommend ihre je individuelle Perspektive fruchtbar machen, lassen sich doch einige grundsätzliche Fragen und Aspekte benennen, die sich als roter Faden durch das Buch ziehen und zum fortgesetzten Nachdenken – und Diskutieren – anregen: Dies gilt vor allem für die Spannung zwischen (politischer) Ethik und christlicher Eschatologie. Denn während es den Autoren gelingt, aus der christlichen Tradition plausibel politische Imperative mit Blick auf gegenwärtige soziale, ökologische und ökonomische Missstände abzuleiten, bedürften die Ambivalenzen menschlicher Selbsterlösungshoffnungen einer tiefergehenden Reflexion als dieser Sammelband liefert.

Demgegenüber wird die marxistische Kritik am Fetischcharakter der Ware aus unterschiedlichen Perspektiven eingehend analysiert und zudem immer wieder ihre Anschlussfähigkeit an theologische Diskurse – vor allem ausgehend von der alttestamentlichen Idolatriekritik – erörtert (z. B. Michael Ramminger: Götzen, Fetische und das Jenseits des Kapitalismus). Mithin erscheint es lohnend, das theologische Nachdenken über den ungebändigten Kapitalismus als lebensfeindliche „Marktreligion“ (so dann auch im Titel des entsprechenden Aufsatzes von Franz Hinkelammert) weiter zu vertiefen; und dies nicht nur, weil es im Trend des gegenwärtigen Pontifikates liegt. Vielmehr eröffnet diese Perspektive entscheidende Einsichten in die Gebrechen und die Erlösungsbedürftigkeit einer vom Materialismus geprägten Gesellschaft. Dass solche Sozialkritik freilich nicht zwingend einen marxistischen Standpunktes voraussetzt, zeigen im Übrigen die wissenschaftlichen Würdigungen der Befreiungstheologie durch Gerhard Ludwig Kardinal Müller, die der Sammelband freilich nicht entsprechend rezipiert. Dies ist umso bedauerlicher, als eine Auseinandersetzung mit Müllers Überlegungen einen erheblichen Beitrag dazu geleistet hätte, in einem stärkeren Maße auch die Spannungen zu bedenken, die zwischen christlichen und marxistischen Vorstellungen einer Weltveränderung bestehen.

Die entscheidendere Schwachstelle des Sammelbandes liegt jedoch bei den zeitgeschichtlichen Beiträgen im ersten Teil des Buches. Es wäre an dieser Stelle eigentlich auch ein Aufsatz zum historischen Schicksal verfolgter Christen im realexistierenden Sozialismus zu erwarten gewesen. Jedoch finden sich als originärer Beitrag für den Sammelband hingegen „Politisch-biografische Anmerkungen einer ehemaligen Pfarrerin in der DDR“ – aus der Feder von Ilsegret Fink, die nicht unbedingt zum systemkritischen Spektrum evangelischer Theologen in der DDR zu zählen ist. Ergänzt werden ihre Ausführungen lediglich durch den gekürzten Nachdruck eines Textes des bereits 2009 verstorbenen Ost-CDU-Funktionärs Günter Wirth (Marxismus, Glauben und Religion in der DDR).

Die Stärken des historischen Rückblicks liegen hingegen in den kirchen- und theologiegeschichtlichen Beiträgen zum 19. und 20. Jahrhundert – vor allem von Franz Segbers, Julia Lis und Hermann-Josef Große Kracht. Segbers (Das Kommunistische Manifest und die Denkschrift der Inneren Mission) und Lis (ChristInnen und SozialistInnen – Gegner oder Bündnispartner? Sozialpolitik und Arbeiterbewegung bei Kolping und Ketteler) geben exemplarisch Einblick in sozialdiakonische Ansätze der katholischen wie evangelischen Kirche des 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen unpolitischer Wohlfahrt und Solidarisierung mit der Arbeiterbewegung. Große Kracht („… auf den Schultern von Karl Marx“) spürt sodann den unterschiedlichen Phasen der Marx-Rezeption im Werk des Jahrhunderttheologen und Sozialethikers Oswald von Nell-Breuning SJ nach.

Neuerlich spannt der letzte Abschnitt einen historischen Bogen auf – diesmal vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Neben zwei grundsätzlicheren Beiträgen zu Marxismus und Befreiungstheologie in Lateinamerika von Michael Löwy (Der Marxismus der Theologie der Befreiung) und Nancy Cardoso (Weder Abschrift noch Kopie: Nicht eine weniger. Marxismen in Lateinamerika) geben die Aufsätze von Franz Segbers und Jörg Rieger Einblicke in zwei weniger bekannte Konstellationen einer christlich-marxistischen Symbiose: Während sich Segbers mit der Geschichte der von Rom losgesagten Iglesia Filipina Independiente befasst, zeichnet Rieger die lange Tradition der – zwischenzeitlich in den Hintergrund getretenen – christlichen Linken bzw. des linken Christentums in den USA nach.

Michael Ramminger u. Franz Segbers (Hrsg.): „Alle Verhältnisse umzuwerfen… und die Mächtigen vom Thron zu stürzen.“ Das gemeinsame Erbe von Christen und Marx, VSA: Verlag, Hamburg 2018, 248 Seiten, 16,80 Euro, ISBN 978-3-89965-790-6.

In ähnlicher Form erschienen am 13. Juni 2019 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).