Kirchenkritik ohne Tiefgang

Peter Mayer-Tasch arbeitet sich am Begriff der Gnade ab, ohne zu überzeugenden Schlussfolgerung zu kommen

Von Tilman Asmus Fischer

Einen „Beitrag zur Politischen Theologie“ möchte der Münchner Politikwissenschaftler Peter Cornelius Mayer-Tasch mit seinem heuer erschienen Essay „Von Glanz und Elend der Gnade“ leisten. Worin konkret soll dieser Beitrag jedoch bestehen?

Am Anfang steht die Faszination wie scheinbare Unzeitgemäßheit (angesichts einer sich als aufgeklärt verstehenden Moderne), die der Autor dem Begriff der Gnade beimisst: „Gnade – welch ein Wort! Ist es aber nicht auch ein eher in die Vergangenheit weisendes als der Gegenwart zugehöriges Wort?“ Ausgehend von der Wahrnehmung dieser Spannung unternimmt Mayer-Tasch „den Versuch, verschiedene Aspekte des individuellen und kollektiven (d. h. also sozialen und politischen) Umgangs mit dem Begriff der Gnade auszuloten“. An dessen Ende freilich steht das Plädoyer für eine docta ignorantia, die es erlaubt und gebietet, „die Wahrnehmung all dessen, was wir unter der Vorstellung von Gnade, Begnadung und Begnadigung verstehen mögen, in den Freiraum höchstpersönlicher Bewertungen zu entlassen“ – die es vor allem aber nahelegt, „die unverkennbare und unabweisbare Faszination und Magie dieses altehrwürdigen Begriffs wenigstens gedanklich sowohl dem Glanz als auch dem Elend menschlicher Machtkämpfe zu entziehen“.

Insbesondere letztes verdient – nimmt man den Charakter des Unverfügbaren ernst, den Gnade aus einer theologischen Perspektive trägt – volle Zustimmung, ebenso wie das grundsätzliche Anliegen zu begrüßen ist, einen nicht mehr selbstverständlichen, jedoch fortwährend in aller Munde geführten Begriff theorie- und kulturgeschichtlich zu erhellen. Umso bedauerlicher ist, dass die vom Autor gebotene Herleitung der Schlussfolgerung in besonderer Weise darunter leidet, dass er in ihrem Vollzug vornehmlich eine verkappte Kirchenkritik betreibt. Das geht nicht nur zulasten der Fokussierung auf das eigentlich in Frage stehende Phänomen; vielmehr fehlt zugleich der Kirchenkritik der – will man sie ernsthaft betreiben, notwendige – Tiefgang. Diese Schieflage deutet sich bereits darin an, dass Mayer-Tasch nicht mit der knappen Begriffsgeschichte, die von „Gnade als Inbegriff des Willkommenen“ ausgeht, einsteigt. Ihr voran stellt er vielmehr die Frage „Gnade – ein Anachronismus?“, um diese „angesichts einer sich ständig verschärfenden Krise der sich noch immer zur Gnadenvermittlung primär berufen fühlenden Institution“ – also der christlichen Großkirchen – abschlägig zu beantworten.

Das obsessive Verhältnis des Autors zur Kirchengeschichte setzt sich sodann im Kapitel „‚Gott‘ als Urquell jeglicher Gnade“ fort, das nach acht Seiten zur biblischen Begründung des Monotheismus – in denen statt von „Jesus (Christus)“ vom „Propheten aus Nazareth“ die Rede ist – gleich in die europäische und außereuropäische Religionsgeschichte abbiegt. Es schließt sich – Schlagwort Thron und Altar – ein Kapitel zum „‚Gottesgnadentum‘ als Herrschaftslegitimation“ an. Hieran knüpft Mayer-Tasch die Frage „Ein Gott von Kaisers Gnaden?“ an, unter die er die Dogmengeschichte der Alten Kirche stellt. Es ist schon fast rührend zu beobachten, wie sich der Autor des Duktus eines Aufklärers befleißigt – als wenn die Leserschaft durch ihn erstmalig über die Zusammenhänge von Theologie und Politik im Zusammenhang mit der Konstantinischen Wende und der Entwicklung des Nicäno-Konstantinopolitanums konfrontiert würden. „Vom Geheimnis der Gnade“ handelt der Autor abschließend in zweifacher Hinsicht: „rational“ und „metarational“, wobei erstes für ihn die Rekapitulation seiner zuvor geleisteten Dekonstruktion mit Fokus auf ein Kalkül gegenseitiger Stabilisierung von geistlicher und weltlicher Autorität bedeutet, zweites dann – folgerichtig – die ‚Inschutznahme‘ der Gnade vor einer dogmatisch-monotheistischen Vereinnahmung.

Mayer-Taschs Rhetorik lebt von Kurzschlüssen und deftigen Vergleichen: So funktioniert sein Vorwurf an das Christentum, dass die „Hoffnung auf einen jenseitigen Ausgleich diesseitiger Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zum soziokulturellen Allgemeingut wurde“, natürlich nur durch die Ausklammerung gegenläufiger theologie- und kirchengeschichtlicher Traditionslinien wie nicht zuletzt derjenigen der Befreiungstheologie. Geradezu abgründig sind die Motive für Parallelisierungen wie derjenigen, die Revolutionsführer des Irans würden „in einem ähnlichen Ringen bestimmt, wie dies in der katholischen Christenheit vom Konklave her bekannt ist“. Angesichts derartiger Unschärfen mag man dem Verfasser vor allem eines wünschen: gnädige Leser.

Peter Cornelius Mayer-Tasch: Von Glanz und Elend der Gnade. Ein Beitrag zur Politischen Theologie. Pustet-Verlag, Regensburg, 2023, 96 Seiten, EUR 18,–

Erschienen am 9. November 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Den Frieden wagen

Friedensinitiativen sind in die Kritik geraten. Aber ist es wirklich naiv, sich für gewaltfreie Konfliktlösungen einzusetzen?

Unter dem Eindruck des Ukrainekrieges findet vom 10. bis 12. September das internationale Treffen der Gemeinschaft Sant’Egidio unter dem Motto „Den Frieden wagen“ statt. Teilnehmerin Antje Heider-Rottwilm, Vorsitzende von „Church and Peace“ und Pfarrerin im Ruhestand sprach mit Tilman A. Fischer über die Bedeutung aktiver Gewaltfreiheit und den gegenwärtigen friedensethischen Diskurs.

Welche Bedeutung hat das Welttreffen der Gemeinschaft Sant‘Egidio in Berlin?

Antje Heider-Rottwilm: Ich bin froh, dass Sant’Egidio gerade jetzt nach Berlin kommt. Für mich ist an der Gemeinschaft überzeugend, dass das globale Friedensengagement sich entwickelt aus dem konkreten Mitleben mit Menschen am Rande der Gesellschaft weltweit. Sie teilen mit anderen Gemeinschaften– wie etwa den Quäkern und Mennoniten– die Erfahrung gelebter Gewaltfreiheit und Konflikttransformation, wie sie etwa in Afrika seit Jahrzehnten praktiziert, wenn auch hier kaum wahrgenommen wird. Dies ist ein wichtiges Zeugnis hier in Berlin, gerade angesichts des Krieges in der Ukraine.

Dieser währt nun bereits im zweiten Jahr. Wie reflektieren Sie die dortigen Entwicklungen?

Die Befürchtung, dass es eine Eskalation in Bezug auf die Waffenlieferungen geben würde, hat sich bewahrheitet: Erst Munition, dann ging es um die Panzer – und immer gab es ein Zögern der deutschen Regierung, mit guten Gründe für die Zurückhaltung. Dann war jedoch der Druck so groß, dass man mitzog. Jetzt geht es um Kampfjets und Marschflugkörper, die sogar nuklear bestückt sein könnten.

Auch wenn man sich diese Eskalation von Anfang an eingestanden hätte: Die andere politische Option wäre doch gewesen, die Ukraine den Invasoren zu überlassen.

Wahrscheinlich ist verhindert worden, dass der russische Übergriff über die jetzigen Stellungslinien hinausgegangen ist. Aber es ist ein grausamer, brutaler Stellungskrieg, der jetzt in der Ukraine stattfindet. Das US-Verteidigungsministerium spricht von einer halben Million Menschen, die getötet oder verletzt wurden. Das ist unglaublich – und das muss uns, egal auf welcher Seite die Toten sind, zutiefst verstören und erschrecken. Für mich als Christin steht im Vordergrund: diese Trauer über die Opfer auf allen Seiten – auch die Wut auf dieses russische Regime, das sich nicht stoppen lässt. Aber natürlich auch Zweifel…

Woran?

Ob der Weg, der im vergangenen Jahr eingeschlagen wurde, der richtige ist, oder ob es Alternativen gegeben hätte. Damals habe ich gesagt, dass für viele von uns im europäischen Netzwerk von  „Church and Peace“ und in den deutschen Friedensgruppen die Suche nach Alternativen bereits vor Kriegsbeginn nicht glaubwürdig war und die Kompetenz von Friedensforschung und Konfliktprävention, die seit Jahrzehnten global entwickelt worden ist, nicht in dem Maße genutzt wurde, wie dies notwendig und verantwortlich gewesen wäre.

Schreibt sich diese Wahrnehmung fort?

Vom Anfang des Krieges an gab es Stimmen, die gesagt haben: Auch wenn das eine Katastrophe ist, was die russische Regierung da im Moment tut, auch wenn dieser brutale Überfall in keiner Weise zu akzeptieren ist, müssen wir trotzdem Wege suchen, einen Waffenstillstand zu erreichen, um dann alles weitere zu verhandeln. Es hat seit März letzten Jahres in der internationalen Politik eine Fülle von Vorschlägen für einen Waffenstillstand gegeben. Ich werde mich vor Schuldzuschreibungen hüten, aber die Themen „Waffenstillstand“ und „Friedensverhandlungen“ wurden in der Öffentlichkeit diskreditiert zugunsten der dominanten Frage nach militärischer Aufrüstung der Ukraine mit dem Ziel, Russland zurückzudrängen und zu schwächen.

Wenn ich Sie recht verstehe, diagnostizieren Sie quasi „blinde Flecken“ im deutschen Diskurs über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Durchaus. Mein Blick ist auf diejenigen Facetten dieses Krieges, in denen etwas wahrnehmbar wird, das gestärkt werden muss, und nicht erschlagen werden darf durch den Focus auf die militärischen Optionen. Ein Beispiel: Bereits im Sommer 2022 gab es eine Studie zu aktiver Gewaltfreiheit in der Ukraine, die über 200 Beispiele zivilen Widerstands seitens Ukrainerinnen und Ukrainern dokumentiert. Oder auch: Die Wohnung des Generalsekretärs der ukrainischen pazifistischen Bewegung, Dr. Yurii Sheliazhenko, der Kriegsdienstverweigerer unterstützt, wurde unlängst durchsucht. Er ist angeklagt, die russische Aggression zu rechtfertigen, die er jedoch konsequent anprangert. Das Friedensnetzwerk der  Quäker hat in einem offenen Brief an Präsident Selenskyj die Hoffnung ausgedrückt, dass die Anklage fallengelassen wird und die ukrainische Friedensbewegung ungehindert ihr legitimes Eintreten für Gewaltlosigkeit fortsetzen kann.

Im Windschatten der militärischen und politischen Ereignisse hat sich auch die kirchliche Debatte weiterentwickelt. Wie haben Sie die Diskussion wahrgenommen?

Im vergangenen Jahr wurde hart diskutiert, das heißt auch, dass die seit 2007 formulierte Friedensethik der EKD als naiv desavouiert wurde. Etwas feinsinniger hat Militärdekan Roger Mielke einer „pazifistischen Pflichtethik“ eine „realistische Güterethik“ gegenübergestellt und davor gewarnt, die Balance zwischen beiden aufzulösen. In dieser Debatte ist auch Landesbischof Friedrich Kramer sehr attackiert worden, der sehr glaubwürdig geblieben ist – sowohl mit Blick auf seine Biographie als Kriegsdienstverweigerer und damit Bausoldat in der DDR als auch in seiner Position als EKD-Friedensbeauftragter. Nachdem alles viele Male gesagt worden ist, warten nun alle darauf, was in der vom Friedensbeauftragten einberufenen Friedenswerkstatt geschehen wird.

Welche Erwartungen verknüpfen Sie hiermit?

Die zentrale Herausforderung ist es, der Komplexität im Blick auf die unterschiedlichen Einschätzungen der Ursachen als auch der gegenwärtigen Situation gerecht zu werden. Zugespitzt stellt sich die Frage: Heißt „Anschlussfähigkeit der Friedensethik“, politische Codes zu übernehmen und theologisch zu legitimieren? Oder heißt es, im Wissen um die Brisanz der Situation zu fragen, was die Aufgabe der Kirche auf dem Hintergrund des biblischen Zeugnisses ist?

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 37/2023.

Zwischen Transzendenz und Konkretion

Intellektuelle verschiedener Disziplinen denken in einem Sammelband über Solidarität als Koordinate Europas nach

Von Tilman Asmus Fischer

Ob mit Blick auf die Folgen der Corona-Pandemie, die Unterstützung der Ukraine im Kampf um ihre Freiheit, die Aufnahme von Flüchtlingen von dort oder anderswo – und nicht zuletzt im Ringen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der gegenwärtigen Energie- und Wirtschaftskrise: der Ruf nach Solidarität ist in aller Munde – mal mehr, mal weniger reflektiert gewendet. So trifft es sich, dass Martin W. Ramb und Holger Zaborowski 2022 ihre neue Buchreihe „Koordinaten Europas“ mit einem Band zu „Solidarität und Verantwortung“ eröffnet haben. Mit Beiträgern aus Theologie und Philosophie, Orientalistik und Skandinavistik, Gesellschafts- und Naturwissenschaften, Politik und Kirche bildet der Sammelband ein breites Spektrum an Perspektiven ab. Dabei werden die Beiträge in ihrer Vielfalt durch eine Reihe gemeinsamer Fragehinsichten und Problemstellungen zusammengehalten. Ihr Zentrum haben sie in der Reflexion auf das ethisch-philosophische Fundament solidarischen Handelns.

Das gilt zum einen für die enge Verknüpfung des Europa-Gedankens mit demjenigen der Solidarität. Immer wieder lassen einzelne Beiträge das latente Risiko einer doppelten Engführung erkennen: der Überfrachtung Europas durch ein universalistisches Solidaritätsideal und einer Vereinnahmung der Solidarität als Identitätsmarker Europas. In diese Gemengelage hinein ruft Holger Zaborowski in Erinnerung, dass mit der Forderung, „dass Europa ein Kontinent der Solidarität sein sollte, […] zunächst einmal nicht zum Ausdruck gebracht [wird], dass andere Länder und Kontinente weniger solidarisch seien oder sein könnten“. Demgegenüber schlägt der Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt vor, Europa als Mittlerin zu verstehen, die den Europäern einen Zugang zum universellen Wert der Solidarität erschließt. So seien wir, „nicht nur Kosmopoliten, Bürgerinnen und Bürger der weiten Welt, sondern gehören immer auch zu konkreten partikularen Gemeinschaften, innerhalb derer wir in besonderer Weise Verantwortung tragen“. Daher sei es „naiv und gefährlich, die Zwischenbereiche zwischen dem konkreten Ich und der ‚weiten Welt‘ auszublenden, die vielfältigen Bezüge und Vernetzungen, die Verstrickungen in verschiedene Gemeinschaften und Herkünfte […]. Denn gerade das könnte dazu führen, dass Solidarität zu allgemein oder zu abstrakt verstanden würde und unser Handeln dann in Lethargie oder Apathie erstarrte.“

Zum anderen verweist das Buch darauf, dass Solidarität nicht nur politische bzw. kulturelle, sondern zuletzt auch weltanschauliche Voraussetzungen hat und auf einen Transzendenzbezug angewiesen ist. Barbara Zehnpfennig erkennt in Gott „das Tertium Comparationis im Verhältnis des Menschen zum anderen“. Der Gottesbezug löse, so die Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau, „den Menschen aus seiner Selbstbefangenheit, aus der Fixierung auf sich selbst, die ihn auch den anderen nur nach Maßgabe seiner Selbsterfahrung wahrnehmen lässt“. Beachtlich ist Zehnpfennigs Bezugnahme auf die Enzyklika Pacem in Terris (1963), von der ausgehend sie die Verknüpfung des christlichen Solidaritätsdiskurses mit dem Konzept der Schöpfungsordnung bedenkt. Im Vergleich mit liberalen Anthropologien arbeitet sie die Bedeutung der hierinliegenden geistigen Dimension der Solidarität heraus: „Die Ausrichtung des Lebens ist […] zuerst geistig, dann erst materiell; die Gemeinschaft mit den anderen besteht von Natur aus und ist nicht bloß Ergebnis eines Willensakts; die Rechte, die sich aus der Menschenwürde ergeben, begründen Pflichten, und diese Pflichten hat man vor allem sich selbst bzw. dem gegenüber, was man mit Augustinus den ‚inneren Menschen‘ nennen kann.“ Zehnpfennigs Reflexionen laden dazu ein, weiter über die vielleicht doch nicht unzeitgemäße Bedeutung naturrechtlicher Begründungsmuster von Solidarität nachzudenken.

In eine ähnliche Richtung weist Nils Markwardts Aktualisierung des Böckenförde-Diktums angesichts gegenwärtiger Konflikte um die Zugehörigkeit „zum gesellschaftlichen ‚Ganzen‘“, innerhalb derer „Liberale die entscheidende Gemeinsamkeit aller Bürgerinnen und Bürger vor allem in ihrem Status als freie Marktsubjekte sehen, Konservative hingegen die Bedeutung gewachsener Traditionen betonen, Linke schließlich den Anspruch auf soziale Rechte akzentuieren“. Vor diesem Hintergrund erinnert der Literatur- und Sozialwissenschaftler an die Feststellung des Verfassungsrichters und katholischen Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde aus dem Jahre 1964, dass der freiheitliche-säkularisierte Staat „von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“, sondern er vielmehr nur bestehen könne, „wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert“. Auf den aktuellen Solidaritätskonflikt angewendet, bedeutet dies für Marquardt, dass sich dieser „nicht – allein – durch einen rechtspositivistischen Purismus lösen [lässt], da die Demokratie eben auch von jenen De-facto-Voraussetzungen lebt, die im sozialen Alltag allein durch Recht und Verfassung nicht garantiert werden können“. Dies bedeutet für ihn vor allem jene „solidarische[] Anteilnahme für den Anderen, die nicht restlos erzwungen werden kann, sondern einem kollektiven Verantwortungsgefühl entspringt“.

Die Strittigkeit von Solidarität hebt der Sammelband keinesfalls auf – das ist auch nicht sein Anspruch. Aber er bietet Orientierung in einer sich stetig neuformierenden Auseinandersetzung. Nicht zuletzt macht er dabei immer wieder Traditionen christlicher Theologie und Philosophie für ebendiese Debatte fruchtbar.

Martin W. Ramb, Holger Zaborowski (Hg.): Solidarität und Verantwortung. Oder: Was Europa zusammenhält. Wallenstein Verlag, Göttingen 2022, Hardcover, 378 Seiten, EUR 22,-

Erschienen am 10. August 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

„Postheroische Ehrlichkeit“ erwünscht

Seelische Einsatzfolgen stellen eine Herausforderung dar – sowohl für das Selbstverständnis unserer Gesellschaf als auch für die seelsorgerliche Praxis

Von Tilman Asmus Fischer

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat infolge der sicherheitspolitischen „Zeitenwende“ zu nachhaltigen Erschütterungen und Reorientierungen im friedensethischen Diskurs hierzulande geführt. Jenseits der breiten Debatten um schlagzeilenträchtiger Waffentypen und Friedensforderungen illustrer Provenienz vollziehen sich weitere Aufmerksamkeitsverschiebungen – oder werden zumindest Aufmerksamkeitsdefizite markiert. Dies gilt etwa für den Schnittbereich von Militär, Ethik, Medizin und Seelsorge. Hier zeigt sich eine wachsende und sich wandelnde Sensibilität für seelische Einsatzfolgen.

Diese fordert auch der evangelische Praktische Theologe Dr. Niklas Peuckmann von der Ruhr-Universität Bochum verbunden mit seinem Eintreten für eine „postheroische Ehrlichkeit“ – so auch der Titel seines programmatischen Aufsatzes in der Zeitschrift „Evangelische Theologie“ (6/2022): Dabei geht er von der Beschreibung Deutschlands als einer „postheroischen Gesellschaft“ aus, die „sich nicht (mehr) über heroische Taten konstituiert und ihre Gemeinschaftsidentität auch nicht aus heroischen Erzählungen über zurückliegende Kriege herleitet“, jedoch „auf ein Residuum des Heldenhaften angewiesen zu bleiben“ scheint: „So sind für das Militär und die Polizei heroische Taten und Narrative nach wie vor bedeutsam, vor allem für die eigene Identitätsbildung.“ Für Peuckmann stellt die sicherheits- und damit auch rüstungspolitische Zeitenwende den postheroischen Charakter der deutschen Gesellschaft nicht infrage, macht jedoch in besonderer Weise deutlich, in welchem Maße ebendiese Gesellschaft auf institutionalisierte Formen des „Heldenhaften“ – konkret auf die Armee – angewiesen ist. Von daher sieht er die Gesellschaft in der Verantwortung, „mitauszusprechen, dass eine neue Sicherheitsarchitektur im erheblichen Ausmaß auf Kosten der Personen geht, die diese repräsentieren und zu tragen haben.“ Das „Sichtbarmachen der Einsatzfolgen und der ‚unsichtbaren Veteranen‘“ ist diesem Sinne ist für Peuckmann das  „ein Beitrag zu einer Kultur einer postheroischen Ehrlichkeit, die bislang sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern einer (militärisch) wehrhaften Demokratie ausgeklammert wird“.

Dabei geht es bei weitem nicht mehr nur – wie in den frühen 2000er Jahren um Posttraumatische Belastungsstörungen. Vielmehr wird – was in besonderer Weise von moraltheologischer und poimenischer Bedeutung ist – zunehmend die Relevanz von moralischen Verletzungen, moral injury, erkannt.

Diese definiert der promovierte katholische Theologe wie Mediziner Dirk Fischer als „eine tiefgreifende moralische Erschütterung im Rahmen psychisch traumatisierender Ereignisse, bei der eigenes oder fremdes Handeln resp. Nichthandeln im Widerspruch zum Werte- und Normenbewusstsein der Betroffenen steht und mit demselben nicht mehr zur Deckung gebracht werden kann.“ Obwohl es moralische Verletzungem „der Sache nach schon immer gab, werden sie heute infolge der interdisziplinären Moral-Injury-Forschung vermehrt wahrgenommen“, erläutert der Leiter des neu gegründeten Instituts für Wehrmedizinische Ethik in München in der aktuellen Ausgabe der im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegebenen „Zeitschrift für medizinische Ethik“. Eine große Herausforderung stellten moralische Verletzungen für die Betroffenen wie für ihre Therapeuten dar, „wenn es darum geht, moralische Konflikte ins Wort zu fassen und zu thematisieren; ethische Kompetenz erweist sich hier in mehrfacher Hinsicht als klinisch relevant“.

Viele der Betroffenen – aktive und ehemalige Soldaten, aber auch Angehörige bzw. Hinterbliebene von Soldaten oder etwa Mitglieder des Psychosozialen Netzwerks der Bundeswehr (PSN) – finden seit über zehn Jahren den Weg zu Angeboten des „Arbeitsfeld Seelsorge für unter Einsatz- und Dienstfolgen leidende Menschen“, kurz ASEM, im Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr. 2012 als befristetes fünfjähriges Projekt ins Leben gerufen, etablierte Militärbischof Sigurd Rink 2017 das ASEM als dauerhaften Aufgabenbereich seiner Behörde. Die stets von Militärgeistlichen geleiteten Maßnahmen reichen von Betroffenenseminaren über Angebote für Partner und Familien oder tiergestützte Formate bis hin zu stabilisierender Einzelfallhilfe in Notsituationen. In den einzelnen Projekten arbeiten die Geistlichen mit interdisziplinären Teams zusammen, in denen sowohl Zivilisten als auch Bundeswehrangehörige und Kompetenzen aus Sozialarbeit, Psychologie, und Medizin sowie unterschiedliche therapeutische Ansätze vertreten.

Dabei bedeutet die Kooperation zwischen Therapie und Seelsorge aus Perspektive der Seelsorgetheorie immer auch ein Wagnis – dies gilt bereits etwa in der Institution Krankenhaus, zugespitzt aber nochmals im Kontext der Bundeswehr, wo die Militärseelsorge innerhalb des PSN mit dem Sozialdienst, dem Sanitätsdienst und dem Psychologischen Dienst der Bundeswehr kooperiert. Das PSN ist, so nochmals Peuckmann, „latent von einem klinischen Imperativ geprägt, der einer medizinischen Codierung (gesund/krank) folgt“: hier kommt der Mensch, anders als in der Seelsorge, als ein zu therapierender – und im militärischen Kontext oftmals wieder einsatzfähig zu machender – Patient in den Blick. „Das ASEM-Projekt“, urteilt Peuckmann jedoch, „scheint insgesamt reflektiert und konstruktiv zugleich mit dem latenten Sog des klinischen Imperativs umzugehen. Soldatinnen, Soldaten und ihre Familien werden nicht funktional in den Blick genommen. Es geht nicht darum, Soldatinnen und Soldaten wieder einsatztauglich und damit ‚fit for fight‘ zu machen.“

Dies bekräftigt ASEM-Leiter Militärdekan Karsten Wächter gegenüber der Tagespost: „Bei uns müssen die Menschen keine Ziele erreichen. Das ist sehr entlastend.“ Aufgabe der Seelsorge sei es vielmehr, Räume „geteilter Lebenszeit“ zu eröffnen und mit den Soldaten „gemeinsam auf dem Weg zu sein“. Im besten Fall, so Wächter haben die Soldaten in den Seminaren „Erlebnisse von Leichtigkeit“ – heilsame Erfahrungen, die sie in ihren bisher von Trauma und permanenter Anspannung geprägten Alltag mitnehmen können. Religiöse Elemente sind in den Seminaren präsent, wobei es sich zunächst um niederschwellige Angebote handelt: Dies sind insbesondere Morgen- und Abendrunden mit liturgischen Elementen.

Wächter selbst bietet als Seelsorger den Soldaten Segens- und Beichtgespräche an. Insbesondere letzte, unterstreicht der evangelische Theologe, erfahren dabei eine besondere Nachfrage: „Ich habe gelernt, statt von Schuld von ‚moralischer Verletzung‘ zu sprechen. Sie kann nicht nur durch eigenes Verhalten oder Fehler entstehen, sondern auch durch das, was einem zugefügt wird. Oder wenn man tatenlos mit ansehen muss, wie anderen Unrecht oder Gewalt angetan wird. Dieser Themenkomplex hindert am Leben. Da kann das Ritual der Beichte sehr helfen, das Erlebte auszusprechen und an eine höhere Macht, Gott, abzugeben.“

Indem die Militärseelsorge in diesem Sinne Veteranen wahrnimmt und begleiten leistet sie nicht nur einen wichtigen Dienst an den Betroffenen. Zumindest ist – im Anschluss an Peuckmann – zu hoffen, dass sie als Teil der Kirche mit ihrem Tun auch in die „postheroische Gesellschaft“ hineinwirkt und exemplarisch zu zeigen vermag, wie eine „postheroische Ehrlichkeit“ gelebt werden kann.

Erschienen am 22. Juni 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Der vergessene Liberale

Friedrich Wilhelm Graf setzt mit Ernst Troeltsch einen facettenreichen Theologen des 20. Jahrhunderts ins Licht

Von Tilman Asmus Fischer

Jahres- und Gedenktage haben sich als Seismograph für die Relevanz historischer Persönlichkeiten im Gedächtnis einzelner Erinnerungsgemeinschaften bewährt. Und so erweist sich auch die relative Zurückhaltung, mit welcher der deutschsprachige Protestantismus – und allgemeiner die deutschsprachige Theologie – heuer den 100. Todestag Ernst Troeltschs begeht, als markantes Indiz für den Erinnerungsschatten, in dem der liberale Dogmatiker und Religionsphilosoph gegenwärtig steht. Umso erfreulicher ist es, dass es der evangelische Theologe und emeritierte Münchner Ordinarius für Systematische Theologie und Ethik Friedrich Wilhelm Graf unternommen hat, Troeltsch mit einer umfangreichen Biographie ins Licht zu setzen. Dies gelingt ihm über einen vierfachen Zugang zur historischen Person, die Graf nicht umsonst zu dem von diesem geprägten Begriff des „Vielspältigen“ in Beziehung setzt.

Zum einen zeichnet Graf die „Geschichte eines sehr widersprüchlichen gottgläubigen, auf ganz eigene Weise frommen Mystikers, der sich in harten Seelenkämpfen an den kognitiven Dissonanzen zwischen überkommenem Glauben und moderner Wissenschaft abarbeitete“. Dies führte ihn zu einem theologischen Programm, in dessen Zentrum der Begriff der „‚Zusammenbestehbarkeit‘ von Christentum und moderner szientifischer Rationalität“ steht und mit dem er nachhaltigen Einfluss auf die liberale Theologie des 20. Jahrhunderts ausübte: „Troeltsch“, so Graf, „will, dass man auch als ein moderner skeptischer, autoritätskritischer, freiheitsliebender Mensch ein frommer Christ sein kann. Das geht aber nur, wenn das Christliche mehr und anderes als das überkommene, dogmatisch zwanghafte, in vielem unverständlich und fremd gewordene autoritäre Kirchenchristentum ist.“

Zum anderen porträtiert das Buch einen „faszinierend produktiven Gelehrten, der die engen disziplinären Grenzen der Theologie vielfältig überschritt und in ganz unterschiedlichen Diskursen präsent war“. Dabei lag, wie bei der Lektüre von Grafs Buch deutlich wird, die interdisziplinäre Verortung Troeltschs wohl primär, jedoch nicht ausschließlich in der Weite seines Geistes und seiner Rezeptionsfreudigkeit begründet. Sie ging zumindest auch einher mit der Parierstellung Troeltschs in Teilen der Universitätstheologie, die sein theologisches Programm mit dessen Forderung nach einer „Umdenkung des ganzen religiösen Bestandes“ und dem unorthodoxen Bemühen, den christlichen „Glaubenssymbolen durch ‚Umschmelzung‘ neue Plausibilität [zu] verschaffen“, ablehnten: Als Troeltsch – nach 23 Jahren als Professor für Systematische Theologie in Heidelberg – 1915 nach Berlin berufen wurde, war die Ablehnung in der Theologischen Fakultät derart ausgeprägt, dass er auf eine Professur für Religions-‚ Sozial- und Geschichts-Philosophie an der Philosophischen Fakultät ausweichen musste.

Zum dritten entwirft der Autor die „Geschichte eines Gelehrtenpolitikers und politischen Intellektuellen, der im Alter von fünf Jahren die Begeisterung seines Vaters für die Gründung des deutschen Kaiserreichs miterlebte und nach dessen Ende 1918 ein sozialmoralisches Fundament für die von links wie rechts bedrohte Republik zu legen versuchte“. Dabei erscheint Troeltsch sowohl als politischer Gestalter wie als Kind seiner Zeit – mit allen dazugehörigen Ambivalenzen: diese betreffen nicht zuletzt seine Teilhabe an Hintergrundannahmen zeitgenössischer Welt- und Kolonialpolitik. Als überzeugter Anhänger der konstitutionellen Monarchie tritt Troeltsch bis 1914 als Abgeordneter in der Ersten Kammer der Badischen Ständeversammlung in Erscheinung – als dezidierter Republikaner der DDP-Politiker Troeltsch in der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung und in seiner Funktion als Unterstaatssekretär im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, in der er unmittelbar an der preußischen Religionspolitik der Weimarer Republik beteiligt war. Ausgesprochen differenziert verfolgt Graf die Wandlungen Troeltschs in den dazwischenliegenden Kriegsjahren nach, in denen der Kriegsredner und Anhänger der „Ideen von 1914“ zu Vorstellungen einer gemäßigten deutschen Interessenpolitik vorstößt. Die Erfahrungen und Reflexionen ebendieser Jahre stellen das Bindeglied zwischen dem politischen Troeltsch des Kaiserreichs und desjenigen der Republik dar.

Zuletzt begegnet Troeltsch als ein Mensch, „der wohl mehr und intensiver, jedenfalls reflektierter als andere unter seiner elementaren Widersprüchlichkeit litt“. Nicht zuletzt hier wird die – sich zu wissenschaftlicher Akribie gesellende – narrativen Stärke des Verfassers deutlich, durch die es ihm gelingt, Troeltsch seinen Lesern als lebendigen Denker und Menschen vor Augen malen. Augenfällig ist neben dieser Fähigkeit Grafs Begeisterung für prosopographische Exkurse, mittels derer er die sozialen und vor allem intellektuellen Kontexte erhellt, in denen Troeltsch stand, die ihn beeinflussten und auf die er wiederum einwirkte. Würde man sich an mancher Stelle auch wünschen, anstelle hinterer Winkel im Netzwerk des Theologen noch etwas tiefer in diejenigen der Gedankenwelt seiner Texte einzutauchen, so gelingt es Graf doch zweifellos, das Porträt Troeltschs mit einem solchen der universitären Theologie, Philosophie und Soziologie seiner Zeit zu verknüpfen.

Ein – auch in diesem Zusammenhang immer wieder zur Sprache kommender – spannender Nebenschauplatz von Troeltschs Theologischem Liberalismus war seine unvoreingenommene Haltung zum Katholizismus und gegenüber katholischen Denkern.

Wenn Graf „beim jungen Troeltsch auch kulturkämpferische Töne“ zu identifizieren vermag, ist dies doch derselbe in seiner Heimatstadt Augsburg Wehrdienstleistende, der jenseits des Dienstes am von Benediktinern unterhaltenen Königlichen Lyceum Vorlesungen hört. Dabei, so Graf, lernte der Student eine „Wissenskultur“ kennen, „die durch philosophische Propädeutik in dezidiert katholisch-konfessioneller, neuthomistischer Perspektive starke Gewissheit in dramatisch schnell sich wandelnden Zeiten zu vermitteln suchte“. Jahrzehnte später sollte eine Hörerin seiner Symbolik-Vorlesungen zum Katholizismus – „versucht zu meinen, er stelle seine eigenen und nicht fremde Gedanken dar“ –fragen: „‚Herr Professor, wollen Sie uns eigentlich überreden, katholisch zu werden?‘ worauf er lachend erwiderte: ‚Das wäre doch nicht das Schlimmste.‘“

Diese Hörerin, die Graf zu Wort kommen lässt, war niemand anderes als Gertrud von le Fort, die drei Jahre nach Troeltschs Tod 1926 selbst zum Katholizismus konvertierte. „Das Schlimmste“ sei, so die Schriftstellerin, für Troeltsch vielmehr „der Gedanke an das Erlöschen der christlich gebundenen Seele, ja der religiösen Seele überhaupt“ gewesen.

Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont, C. H. Beck, München 2022, 638 Seiten, ISBN 978-3-406-79014-0, EUR 38, –

Erschienen am 15. Juni 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

„In dieser Welt bleibt nur der Heuchler sauber“

Der evangelische Militärpfarrer Klaus Beckmann widmet sich in einer bedenkenswerten Streitschrift der theologischen Perspektive auf den Soldatenberuf in Zeiten der sicherheitspolitischen Neuorientierung

Von Tilman Asmus Fischer

Als „Erinnerungs- und Streitschrift“ markiert der evangelische Theologe Klaus Beckmann – 2011 bis 2020 Militärseelsorger, zuletzt persönlicher Referent von Militärbischof Sigurd Rink – sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch. Inhaltlich freilich liegt der Akzent eher auf dem streitbaren Debattenbeitrag als auf anekdotischen Berichten – und dies gereicht „Dienstweg – kein Durchgang?“ nur zum Vorteil. Denn was der Autor bietet, ist – bei aller Sättigung durch die Praxiserfahrung eines Militärpfarrers – eine friedensethische wie pastoraltheologische bzw. kirchentheoretische Standortbestimmung auf höchstem Reflexionsniveau.

Unter einer friedensethischen Perspektive liest sich Beckmanns Buch als einer der profundesten Beiträge zur die sogenannte „Zeitenwende“ begleitenden theologischen Debatte, die sich zwischen einem Aufbegehren fundamentalpazifistischer Positionen und Spekulationen über eine Wiederkehr der Lehre vom „gerechten Krieg“ bewegt. „In dieser Welt bleibt nur der Heuchler sauber“, kann der Autor am Schluss konstatieren – und diese Einsicht verdichtet wie in einem Brennglas seine Argumentation, die sich gegen unaufrichtige Positionen eines Radikalpazifismus wendet, den Beckmann in seiner deutschen Spielart wiederholt als Wiedergänger eines Nationalpazifismus mit Wurzeln in den dunkelten Kapiteln der Geschichte unseres Landes identifiziert. Für eine aufrichtige Perspektive tritt Beckmann demgegenüber ein, indem er vom Faktum der unerlösten Welt ausgehend zu einer verantwortungsethischen Herleitung der Notwendigkeit der Institution Militär gelangt.

Dabei betont Beckmann den hohen Wert, welcher der Gestalt des Militärischen zukommt, wie sie sich in der Bundeswehr mit den Prinzipien der „Inneren Führung“ bzw. des „Staatsbürgers in Uniform“ herausgebildet hat. Gewiss stellt der Autor mit dem Bild des gebildeten, verantwortungsbewussten und kritischen Subjekts hohe Ansprüche an den Beruf des Soldaten. Jedoch bilden ebendiese Ansprüche das logische Korrelat zur inhaltlichen Begründung der Existenz von Streitkräften, wie Beckmann sie vornimmt: zur Sicherung von Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit sowie zur Wahrnehmung internationaler Verantwortung unter dem Vorzeichen der Idee des „gerechten Friedens“.

Nicht minder bedenkenswert sind Beckmanns Ausführungen, liest man sie in einer postoraltheologischen bzw. kirchentheoretischen Blickrichtung: Ebenso klar, wie der Autor eine ethische Würdigung des Soldatenberufs vornimmt, tritt er für die Unabhängigkeit der Seelsorger wie der Institution Kirche im System Bundeswehr ein. Denn – eine grundsätzliche Problematik, die auch aus anderen Bereichsseelsorgen prinzipiell bekannt ist, sich aber im Falle der Militärseelsorge in besonderer Weise zeigt – das Bezugssystem, in dem die Militärpfarrer wirken, hat eine deutliche Tendenz dazu, die Geistlichen zu vereinnahmen. Dem stellt der Autor die Erwartungen der Soldaten an Militärseelsorger gegenüber – und hier mag eine implizite Kritik an einzelnen Amtsbrüdern anklingen:

„Nach meiner Erfahrung verfügen Soldaten über ein hohes Maß an kritischer Sensibilität gegenüber Anbiederungsversuchen. Sie wünschen sich durchaus nicht, dass ein Seelsorger in ‚Grünzeug‘ durch die Kaserne marschiert; militärisches Grüßen wird beim Militärpfarrer als unstatthaft empfunden – nicht allein, weil dieser nun eben einen zivilen Status hat, sondern auch und gerade, weil den meisten Soldaten bewusst ist, welchen Schatz der Seelsorger in seiner Sonderstellung für sie darstellt. Gleitet er in das militärische ‚grüne‘ Milieu ab, geht ein Stück Freiheit im militärischen Alltag verloren.“

Dieses „Stück Freiheit“ beginnt beim von den Seelsorgern als Raum freier Aussprache gestalteten Lebenskundlichen Unterricht und reicht über ihre Unabhängigkeit von der militärischen Hierarchie bis hin zum Beicht- und Seelsorgegeheimnis, das Militärseelsorger von Truppenpsychologen unterscheidet und einen Raum des geschützten Gesprächs selbst in Extremsituationen garantiert. Zur Absicherung ebendieser Freiheit und Unabhängigkeit mahnt der Autor wiederholt Strukturreformen innerhalb der evangelischen Militärseelsorge an: „Ein Verbesserungsansatz für die Militärseelsorge kann in verfassten Basisvertretungen liegen, die es dem Seelsorger ermöglichen, sich in Entscheidungen und Äußerungen abzustimmen und abzusichern. Handlungen der Militärseelsorge würden so nach außen nicht vom Pfarrer allein, sondern durch ein legitimiertes Gremium vertreten.“

Dabei greift der Verfasser interessanterweise auf die katholische Organisationsstruktur als Vorbild zurück: „Beachtenswert finde ich die Tatsache, dass die katholische Militärseelsorge bislang in der Beteiligung der Basis mehr zu bieten hat als die evangelische Seite. Dort existieren bei den Standortpfarrämtern verfasste“ – wenn auch, wie Beckmann einschränkt, vom Pfarrer berufene und nicht gewählte – „Mitarbeiterkreise und Pfarrgemeinderäte; über mehrere Ebenen hinweg sind die katholischen Soldatinnen und Soldaten bis ins Zentralkomitee der deutschen Katholiken repräsentiert.“

Diese Bezugnahme ist nur einer von zahlreichen Aspekten, die „Dienstweg – kein Durchgang?“ für eine ökumenische Leserschaft und nicht nur für den kleinen Kreis der an Fragen der evangelischen Militärseelsorge Interessierten äußerst lesenswert macht. Mithin in Monaten, da sich die gesamte Gesellschaft neu über Grundkoordinaten von Sicherheitspolitik und Friedensethik orientieren muss, stellen diese Reflexionen, die an Erfahrungen als „Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr“ anknüpfen, unangenehme Fragen und bieten Thesen, die in einer aufrichtigen öffentlichen Debatte nicht ausgeklammert werden sollten. Dass Deutschland diese Debatte vor dem Hintergrund seiner historischen Verantwortung ebenso wie gegenüber seinen heutigen Uniformträgern schuldig ist, macht Beckmann eindrücklich klar.

Klaus Beckmann: Dienstweg – kein Durchgang? Als Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr. Eine Erinnerungs- und Streitschrift. Miles-Verlag, Berlin 2022, 264 Seiten, ISBN 978-3967760439, EUR 19,80.

Erschienen am 20. April 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Gefährdete Unabhängigkeit

Welche Leitlogik prägt die Militärseelsorge? Ein ökumenisches Gespräch offenbart theologische Leerstellen

Von Tilman Asmus Fischer

Als die beiden evangelischen Theologen Isolde Karle und Niklas Peuckmann 2020 ihren Sammelband „Seelsorge in der Bundeswehr. Perspektiven aus Theorie und Praxis“ herausgaben, betonten sie in ihrer Einleitung in besonderer Weise die Herausforderung, „die stets gefährdete Unabhängigkeit der Militärseelsorge zu erhalten und zu fördern“: „Jede ‚Bereichsseelsorge‘, mithin jede Seelsorge, die in einer nicht-religiösen Institution angesiedelt ist, steht in der Gefahr, von der Leitlogik der gastgebenden Institution absorbiert zu werden. Das Soziale ist in aller Regel stärker als das Bewusstsein, deshalb lassen sich Seelsorgerinnen und Seelsorger leicht in den Sog der Systemlogik ziehen, die in einer Institution vorherrschend ist, – ob das die Schule, das Krankenhaus oder die Bundeswehr ist. In der Bundeswehr scheint diese Dynamik besonders ausgeprägt zu sein.“

Anschauungsmaterial dieser ‚Dynamik‘ bot am 7. Februar ein vom „Berlin Center for Intellectual Diaspora“ an der Katholischen Akademie veranstaltetes Hintergrundgespräch unter dem Titel: „Seele und Moral der Truppe – was tut und was soll Militärseelsorge heute?“ Eingeladen hatte das Center, dessen Leiterin Dr. Gesine Palmer den Abend moderierte, drei ‚Strausberger‘: die Leiter des Evangelischen bzw. Katholischen Militärpfarramts Strausberg, die Militärdekane Otto Adomat und Siegfried Weber, sowie den im Kommando Heer mit Sitz in Strausberg für Fragen der Inneren Führung zuständigen Oberst York Buchholtz.

Auf dem Podium
Auf dem Podium (v.l.n.r.): Militärdekan Siegfried Weber, Dr. Gesine Palmer, Militärdekan Otto Adomat, Oberst York Buchholtz (Foto: Ting-Chia Wu).

Gewiss, alle drei betonten dezidiert den hohen Wert der rechtlich verbrieften Unabhängigkeit der Militärseelsorge in der Bundeswehr: Die Bindung der Geistlichen an das Beicht- bzw. Seelsorgegeheimnis, ihre Stellung jenseits der militärischen Hierarchie und den damit gewährten Schutz vor einer Indienstnahme der Seelsorge durch die militärische Führung. Dennoch stimmten die Kurzvorträge sowie die Diskussion nachdenklich mit Blick auf das zur Sprache gebrachte pastorale Selbstverständnis bzw. theologische Hintergrundannahmen, bei denen sich wiederholt die Frage aufdrängte, welche ‚Leitlogik‘ für sie ausschlaggebend ist: eine militärische oder eine kirchliche bzw. theologische.

Am deutlichsten war die Prägung durch eine kirchliche ‚Leitlogik‘ beim katholischen Militärdekan Weber zu erkennen, der das Aufgabenprofil eines Militärgeistlichen prinzipiell als demjenigen des Priesters in einer Zivilgemeinde gleichgestaltet beschrieb. Weber sprach als bodenständiger Praktiker, als zugewandter Seelsorger, der – Grundvoraussetzung seines Dienstes – „Menschen mag“ und „Soldaten mag“. Durch ihn – wie durch die anderen Podiumsteilnehmern – wurde jedoch kaum die Ebene einer kritischen Hinterfragung des militärseelsorgerlichen Wirkens im von Karle und Peuckmann skizzierten Sinne erreicht. Die Diskussion verblieb weitestgehend in einer positivistischen Darstellung des selbsterlebten Ist-Zustandes der Pastoral unter Soldaten.

Hellhörig konnte man freilich werden, als Weber seinen evangelischen Amtskollegen als „Kamerad Adomat“ titulierte. Dass Militärgeistliche – zumal im Kontext und vor dem Hintergrund gemeinsam erlebter Einsatzerfahrungen – für die ihnen anbefohlenen Soldaten die Bezeichnung des Kameraden verwenden, ist nachvollziehbar und mag womöglich auch unter poimenischen Gesichtspunkten legitim sein. Was aber sagt es über die hinter dem eigenen Dienst als Pfarrer stehenden Überzeugungen aus, wenn man im Miteinander unter Amtsbrüdern – und eben nicht im Austausch mit der ‚gastgebenden Institution‘ – eine Selbstbezeichnung verwendet, die sich gerade nicht aus dem gemeinsamen kirchlichen Dienst, sondern aus der ‚Systemlogik‘ des Militärischen speist?

Diese Anrede mag aber vielleicht auch dadurch getriggert worden sein, dass „Kamerad Adomat“ sich selbst recht rustikal in Szene setzte. So klar er sein Wirken auch durch konsequenten Bezug auf Seelsorge und Verkündigung als ein geistliches profilierte, erstaunt doch, dass er in seinem Eingangsstatement als persönliche Motivation zum Dienst als Militärseelsorger den Wunsch fokussierte, „meinem Land – der Bundesrepublik – etwas zurückzugeben“. Dies entspricht dem legitimen soldatischen Selbstverständnis „Wir dienen Deutschland“ – fraglich ist hingegen, ob diese Akzentsetzung dem Proprium entspricht, welches der Wahlspruch der Evangelischen Militärseelsorge insinuiert: „domini sumus“. Werden Militärseelsorger in der theologischen Fachliteratur gerne als „outstanding insiders“ bezeichnet, so konnte man bei Adomat eher den ‚insider‘ als das ‚outstanding‘ betont sehen. So wird er gewiss mit der Beobachtung recht haben, dass die Einsatzwirklichkeit mit erlebter Auftragserfüllung, Kameradschaft und der Begegnung mit Soldaten befreundeter Armeen über geistige Ressourcen für den soldatischen Dienst verfügt. Seine Stilisierung der religiösen Dimension von Kriegserfahrungen ließ jedoch eine kritische Haltung gegenüber der Lebenswirklichkeit der ihm anvertrauten Soldaten vermissen. Dabei täte man dem evangelischen Militärdekan unrecht, ihn als Militaristen misszuverstehen – konnte er doch andererseits etwa die Bedeutung der Versöhnungsliturgie von Coventry im Militärgesangbuch und damit Versöhnung als Zielperspektive auch soldatischen Handelns hervorheben.

Karle und Peuckmann sehen den Trend zur ‚Absorbierung‘ von Militärgeistlichen durch das System Bundeswehr nicht zuletzt darin begründet es sich hierbei um eine Institution handelt, „die ausgeprägter als andere Institutionen, in denen Seelsorgerinnen und Seelsorger tätig sind, durch hierarchische Strukturen bestimmt ist und zugleich dazu tendiert, Seelsorgerinnen und Seelsorger als fest integrierte Bestandteile des Systems zu begreifen.“ Diese Tendenz klang auch bei Oberst Buchholtz an, der in seinem Eingangsstatement von der Militärseelsorge auch als „Führungsinstrument“ sprechen konnte, zu dessen Nutzung er jeden militärischen Führer nur ermuntern könne. Bereits zuvor hatte er betont, dass viele der Angehörigen von Kampfverbänden zwar keine Christen seien, aber der mit Einsatzrealität konfrontierte Soldat dennoch eine Person brauche, die ihm sagt: „Du kämpfst für das richtige.“ Diese Engführung der Seelsorge auf die moralische Legitimierung des kriegsvölkerrechtlich Legalen mag der Systemlogik einer Armee entsprechen – und die Offenheit, in der sich Oberst Buchholtz zu dieser Haltung bekannte, verdient Anerkennung. Bemerkenswert ist jedoch, dass keiner der anwesenden Militärseelsorger sie theologisch begründet hinterfragte.

In anderer Form erschienen am 16. Februar 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Was die Sprache enthüllt

Ein aktueller Band vereint zeitkritische Essays über Identität, Politik und Religion

Von Tilman Asmus Fischer

Seit 2015 eröffnet die Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden (StGO) mit ihrer Schriftenreihe „Georgiana“ – so der Untertitel – „neue theologische Perspektiven“. Zunächst herausgegeben vom Gründer der Bruderschaft, Ulrich Schacht, und ihrem heutigem Großkomtur, Thomas A. Seidel, wird sie nach Schachts Tod von Seidel gemeinsam mit dem Publizisten Sebastian Kleinschmidt fortgeführt. Mit Sprache im Spannungsfeld von Politik und Religion nimmt sich der heuer erschienene siebente Band eines tatsächlich äußerst brisanten Themas an. Die in den meisten Beiträgen dominierende Kritik an gegenwärtigen identitätspolitisch motivierten Versuchen von ‚Sprachreformen‘ ist zwar in der großen Linie ebenso berechtigt wie genau besehen nicht neu. Jedoch ergeben sich tatsächlich neue Perspektiven, indem durch die Gesamtheit der Aufsätze der virulente Streit um die Sprache in einen größeren Zusammenhang eingeordnet wird. Grundlage des Buches sind die Vorträge des LIX. Konvents der StGO im Oktober 2020 im Erfurter Augustinerkloster.

Es trägt durchaus zum Gehalt des Bandes bei, dass er dem Aufsatz von Annette Weidhas, Programm- und Verlagsleiterin der Evangelischen Verlagsanstalt, fast ein Drittel des Umfangs einräumt. Denn ihre Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Identitätspolitiken ist differenzierter als es der polemische Titel („Das Virus der Identitätspolitik“) erwarten lässt – aber gerade deshalb besonders prägnant. Aus gesellschaftswissenschaftlicher, philosophischer und vor allem auch theologischer Perspektive gelingt es ihr, die „Gendersprache“ als „Signum eines neuen Irrationalismus“ auszuweisen.

Leider erreichen nicht alle der weiteren Beiträge das argumentative Niveau von Weidhas. Dies hat seinen Grund auch an teils ambivalenten Zungenschlägen, derer sich einzelne Autoren befleißigen. So wird etwa nicht abschließend ersichtlich, weshalb sich der Schriftsteller Klaus-Rüdiger Mai in seiner Abhandlung über „Sprache der Gewalt – Gewalt der Sprache“ zu einer expliziten Apologie der AfD genötigt sieht, wenn er festhält: „Das Problem entsteht nicht da, wo eine Opposition die Regierung ‚jagen‘ will, wie oft wurde das in der Geschichte des Parlamentarismus bereits angedroht, sondern dort, wo bestimmte politische Gruppen so etwas äußern dürfen und andere nicht.“

Angesichts versprengter Indizien einer gewissen Kulturkampfmentalität in der Auseinandersetzung mit identitätspolitischen Trends mag man aus vollem Herzen Harald Seubert, Professor für Philosophie und Fachbereichsleitung für Missions und Religionswissenschaft an der Staatsunabhängigen Theologische Hochschule Basel, zustimmen. Dieser mahnt in seinen Erwägungen zum „Logos Europas“ auch „ein Wort gegen die Verhärtungen derjenigen“ an, „die die Political Correctnesses und Sprechverbote mit einem gewissen Recht anklagen, aber selbst das Logon didonai: das kluge wechselseitige Rechenschaft-Geben, versagen und sich in Ideologien verhärten.

Ganz in diesem Sinne ist es zu begrüßen, dass sich das Buch letztlich nicht in der populären wie leicht skandalisierbaren Frage der Gendersprache ‚verbeißt‘. Vielmehr bedenken einige der Beiträge tiefergehend den Logos-Begriff, wie er unter Aufgriff des Johannesevangeliums auch den Titel des Bandes regiert, andere bieten Zugänge zu relevanten Fragen und Aspekten von Sprache in gegenwartskulturellen, ethischen und nicht zuletzt kirchlichen Hinsichten. Einen Sonderstatus nimmt dabei der Essay „Denn ich bin Schrift, und du bist Wunde. Die Sprachen kreuzen sich“ des gebürtig aus Sri Lanka stammenden Berliner Schriftstellers Senthuran Varatharajah ein, der sich in ergreifender Weise mit der Bedeutung von Sprache im Kontext seiner – mit der Integration in Deutschland einhergehenden – Begegnung mit dem Christentum und der biblischen Offenbarung auseinandersetzt.

Neben dem bereits erwähnten Beitrag Seuberts ist es vor allem der japanisch-deutsche katholische Theologe und frühere Jesuit Michael Daishiro Nakajima, der sich mit dem Logos-Begriff auseinandersetzt, indem er „Wort und Liebe“ als „Grundoffenbarungen des göttlichen Seins“ thematisiert. Von besonderer Relevanz für sozialethische Zusammenhänge ist der Beitrag „Cur homo sapiens non deus“ von Jobst Landgrebe, der gewissermaßen an den „Georgiana“-Vorgängerband anknüpft (Coram Deo versus Homo Deus. Christliche Humanität statt Selbstvergottung, 2022). Überzeugend arbeitet der selbständige Unternehmer für Künstliche Intelligenz heraus, warum Maschinen im Sinne menschlicher Sprache „niemals sprechen werden“; damit bietet er wesentliche Argumentationen gegen Gehalt und Begründung trans- und posthumanistischer Zukunftsszenarien.

Wie steht es zuletzt um die Kirchen – bzw. konkret die evangelischen Kirchen – und ihre Sprachfähigkeit in der Gegenwart? René Nehring, engagierter protestantischer Laie und Chefredakteur der Preußischen Allgemeinen Zeitung, bietet mit „Verkümmerte Botschaft. Anmerkungen zur Krise der evangelischen Kirche und ihrer Sprache“ ein (nicht wirklich überraschendes, aber durchaus bedenkenswertes) Zeugnis des Unbehagens heutiger konservativer Protestanden mit ihrer Kirche.

Leider vermag Christoph Meyns, Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig, in seinen Ausführungen nicht wirklich weiterführende Perspektiven aufzuzeigen („Im Anfang war das Wort. Das Wort Gottes in der Spannung zwischen dem Auftrag der Kirche und der Dynamik des öffentlichen Raumes“). Nach feinsinnigen Reflexionen über seine eigene religiöse Sozialisation und Erfahrungen mit außereuropäischen Frömmigkeitskulturen bietet sein Vortrag leider vor allem Allgemeinplätze über aktuelle Lage und Herausforderungen kirchlicher Publizistik.

Thomas A. Seidel u. Sebastian Kleinschmidt (Hrsgg.): Im Anfang war das Wort. Sprache, Politik, Religion (Georgiana. Neue theologische Perspektiven, Bd. 7). Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2022, EUR 25,–

Tilman Asmus Fischer

Erschienen am 8. Dezember 2022 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Zwischen Kunst und politischem Aktivismus

Die „Berlin Biennale“ regt zu Debatten über globale Krisen, den Kunstbetrieb und die Erlösung an

Von Tilman Asmus Fischer

Im Aufmerksamkeitsschatten 15. Kasseler „Documenta“ zeigt auch die 12. „Berlin Biennale“ gegenwärtig zeitgenössische Kunst mit einem deutlichen postkolonialen Fokus. Kurator der unter dem Motto „Still Present!“ laufenden Ausstellung ist der 1970 als Sohn algerischer Einwanderer in einem Pariser Banlieue geborene Installationskünstler Kader Attia. Dieser vermag sich – aufgrund der eigenen Biografie wie Jahrzehntelanger künstlerischer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Herausforderungen des globalen Südens – in Überzeugender Weise mit den im Zentrum der Ausstellung stehenden „Hinterlassenschaften der Moderne und dem daraus resultierenden planetaren Notstand“ auseinanderzusetzen. Dabei bringt er ein Fingerspitzengefühl mit, dessen Fehlen im Falle des – die „Documenta“ kuratierenden – Künstlerkollektivs „ruangrupa“ schwerwiegende Antisemitismusvorwürfe nach sich zog. Unbeeinträchtigt von derartigen Verwerfungen gelingt es der „Berlin Biennale“, vielfältige künstlerische Positionen zu gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen der Postmoderne zur Geltung kommen zu lassen. Dabei ergeben sich spannende Zugänge, die – teils mir religiösen Bezügen – auf ethische Problemzusammenhänge verweisen. Damit lädt die Biennale den Besucher auf unterschiedliche Weisen zu Reflexion, Kritik und Fragen ein.

Der – zumal durch die aktuelle „Documenta“ für die möglichen Wahlverwandtschaften zwischen Antisemitismus und Israelkritik sensibilisierte – Museumsbesucher wird natürlich wahrnehmen, dass unter den sich auf den Nahost-Konflikt beziehenden Kunstwerken der palästinensisch-arabischen Perspektive das eindeutige Primat zukommt. Dabei erheben die Künstlerinnen und Künstler jedoch konkrete Vorwürfe: Simone Fattals etwa nennt an Palästinensern verübte Massaker; die Videoinstallation von Basel Abbas und Ruanne Abou-Rahme befasst sich mit der Erschießung eines 14-jährigen Palästinensers am 19. März 2014. Indem die einzelnen Künstler derart transparent die Referenzen ihrer Werke benennen, eröffnen sie zugleich Raum zur Überprüfung bzw. Diskussion und flüchten sich nicht in diffuse Verschwörungstheorien. Freilich kann gefragt werden, welches Gesamtbild seitens des Kurators und seiner Kooperationspartner erzeugt wird, wenn einzelne solcher Kunstwerke zusammengetragen und ausgestellt werden, ohne dass der größere Kontext bzw. komplementäre Perspektiven sichtbar werden. Ein Gedankenexperiment: Lawrence Abu Hamdan hat für seinen mehrere Meter langen Farbtintenstrahldruck „Air Conditioning“ statistische Daten über die Verletzung des libanesischen Luftraums durch die israelische Luftwaffe im Verlauf von 15 Jahren von einem Algorithmus in das Bild eines Wolkenhimmels übersetzen lassen: Je höher die Frequenz der Luftraumverletzungen, desto stärker die Bewölkung. Welchen Perspektiven und Fragen ergäben sich, würde man parallel hierzu ein Werk zeigen, das den im selben Zeitverlauf erfolgten, terroristischen Raketenbeschuss auf Israel zum Thema hätte?

Fragen anderer Art wirft eines der vielleicht markantesten Werke der Ausstellung auf – vielmehr sind es gleich 14 Gemälde, mit denen Tammy Nguyen die goldenen Skulpturen eines Kreuzwegs interpretiert, den vietnamesische Flüchtlinge auf der indonesischen Insel Pulau Galang errichteten. Nguyens Gemälde brechen in faszinierender Weise mit den von westlicher Sakralkunst geprägten ästhetischen Gewohnheiten und übersetzen das biblische Geschehen in eine Bildsprache, die vom Reichtum tropischer Natur ebenso zeugt wie von den politischen wie sozialen Verheerungen infolge von Kolonialismus und Kapitalismus. Die Tropen, so die Interpretation des Künstlers „verschlingen […] das Christentum und stellen die Welt mit einer anderen Logik von Figur und Vordergrund neu dar“. Die Deutung der Gemälde als postkoloniale Aneignung des Christentums ist durchaus plausibel – zumal angesichts jener Paradoxie, auf die Nguyen verweist und die darin besteht, dass die Flüchtlinge, die auf Galang den Kreuzweg errichteten, „in ihrem Streben nach Freiheit und Demokratie im Westen durch jene Schrift ermutigt wurden, die mehrere Kolonialkampagnen westlichen Ursprungs begleitet hat“.

Doch drängt sich dem Betrachter die Frage auf, ob das Bild neben der kritischen Deutung der biblischen Geschichte nicht auch – gewollt oder ungewollt – ein Weiteres leistet: die Aktualisierung einer inkarnatorischen Christologie. Für diese gilt, so Gerhard Kardinal Müller: „In der Lehre und im Handeln Jesu gibt es die Einheit zwischen der transzendenten Dimension und der immanenten Dimension des Heils. Auch sein Tod am Kreuz kann in keiner Weise als eine von der Welt losgelöste Frömmigkeit betrachtet werden, die die Schöpfung von der Erlösung trennt. Jesus ist vielmehr am Kreuz gestorben, um die befreiende Liebe Gottes zu zeigen, die die Welt verwandelt.“ Mögen in Nquyens Gemälden die Tropen das Christentum ‚verschlingen‘ – zugleich erweist sein ‚Kreuzweg‘ doch auch Leben, Tod und Auferstehung Jesu als ein nicht fernes, fremdes, sondern im Lebenskotext vietnamesischer Flüchtlinge aktuelles und wirksames Geschehen. Denn – nochmals Müller: „Der Tod Jesu am Kreuz hat die Welt und die Geschichte zu einem Ort gemacht, an dem die Neue Schöpfung erfolgt, beginnend im Hier und Jetzt.“ Was dies konkret bedeuten kann, ist – insbesondere von Vertretern einer Theologie der Befreiung – immer wieder ausbuchstabiert worden. Nguyen sieht die Kreuzigung Christi in seinen Gemälden „verschleiert, so dass die betrachtenden Augen in Bewegung bleiben und in der vertrauten Geschichte zwar einen Sinn suchen, aber weder Trost noch Ruhe finden“. Gewiss, zu Kontemplation und weltentsagender Mystik ruft sein ‚Kreuzweg‘ nicht auf, im Gegenteil – dies aber weniger aufgrund einer Verschleierung der Kreuzigung als vielmehr durch deren überzeugende Aktualisierung.

Fragen nach Weltverantwortung und politischer wie gesellschaftlicher Veränderung provoziert mithin die Mehrheit der in der Biennale versammelten Werke. Auf einer grundsätzlicheren Ebene wird dabei freilich die Wechselbeziehung bzw. Unterscheidbarkeit von Kunst und (weiteren) Formen des politischen Aktivismus thematisch. Einzelne Werke entsprechen in überzeugender Weise künstlerischen und darüberhinausgehenden (etwa politischen) Ansprüchen. Hierzu zählt z. B. Imani Jacqueline Browns Installation „What remains at the ends of the earth?“, die in beklemmender Nüchternheit die Dramatik der industriellen Umweltzerstörung an der Küste Louisianas greifbar macht. Susana Pilar hingegen gibt im Begleittext zur Videodokumentation ihrer Performance „Warming up“ gleich den Anspruch auf, als Künstlerin verstanden werden zu wollen: „Susana Pilar ist keine Künstlerin. Sie ist eine Frau – Schwarz, kubanisch, nicht perfekt und sterblich.“ Kunst erscheint nur noch als ein „Vorwand, eine gut ausgearbeitete Verführungsstrategie“, die es der Künstlerin erlaubt, „sich zu tarnen, um Paradoxien und Widersprüche aufzulösen und sich geschickt von einem Extrem ins andere zu bewegen“. Hier wird das Verständnis von Kunst selbst – und damit auch dasjenige einer Biennale für zeitgenössische Kunst – fraglich.

Die 12. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst ist bis zum 18. September in der Akademie der Künste, dem Museum Hamburger Bahnhof sowie an weiteren Standorten in Berlin zu sehen. Weitere Informationen: https://12.berlinbiennale.de/

Erschienen am 18. August 2022 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Letzte Gelegenheit für Verhandlungen?

„Waffenstillstand jetzt! Verhandlungen so schnell wie möglich“ forderten verschiedene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in einem Ende Juni in der Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlichten Appell. Einer der Mitverfasser ist Erich Vad, Brigadegeneral im Ruhestand. Er war von 2006 bis 2013 Militärischer Berater der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im Interview spricht er über Friedensperspektiven für die Ukraine sowie über Impulse des gleichfalls Ende Juni erschienenen „Friedensgutachtens 2022“ der führenden deutschen Friedensforschungsinstitute.

Von Tilman A. Fischer

Herr Vad, die Konstellation ist nicht frei von Ironie: Ein Ex-General fordert von einer linksliberalen Bundesregierung militärpolitische Mäßigung. Was treibt Sie gegenwärtig um?

Bereits als 16jähriger bekam zufälligerweise ein Buch des israelischen Historikers Jehuda Wallach – der ein paar Jahre später mein Doktorvater werden sollte – in die Hand: „Das Dogma der Vernichtungsschlacht“. Darin schildert er das deutsche militärische Denken nach Clausewitz, das sich von dessen „Primat der Politik“ immer weiter entfernte und dann schließlich militärischen Erwägungen den Vorrang vor politischen Erwägungen einräumte. Das führte bereits im Ersten Weltkrieg zur Katastrophe, weil die Politik gänzlich militärischen Interessen untergeordnet wurde. Es hat bei mir einen Nerv getroffen, dass heute deutsche Politiker wieder von „ultimativen militärischen Lösungen“ reden, auf nichts anderes als militärischen Sieg setzen – und auf Waffenlieferungen ohne Wenn und Aber. Das gehört dazu, greift aber für sich zu kurz und führt allein nicht zur Lösung.

Worauf zielt in dieser Situation Ihr Appell ab?

Im Grunde geht es darum, aus dieser militärischen, waffenbezogenen Eskalationslogik herauszukommen. Ein Sieg über die Nuklearmacht Russland ist nicht möglich, ein auch nur regionaler Sieg der Ukraine äußerst unwahrscheinlich, weil die Russen halt die militärische Dominanz im Operationsraum haben, die Eskalationsdominanz, die Luftherrschaft – und vor allem die logistische Basis im unmittelbaren Hinterland. Die Ukrainer hingegen haben eigentlich nur die Perspektive, den Krieg in einen lang andauernden militärischen Konflikt zu überführen – guerillaartig mit Hit-and-Run-Einsätzen und begrenzten lokalen Offensiven. Damit könnten Sie am Ende sogar ‚siegreich‘ sein, aber sie hätten ihr Land verwüstet und wären weiterhin einer massiven Konfrontation mit Russland ausgesetzt. Dies kann nur durch Verhandlungen verhindert werden.

Diese fordert Ihr Appell „so schnell wie möglich“. Über welches Zeitfenster sprechen wir?

Momentan besteht vielleicht die letzte Gelegenheit für Verhandlungen. Die Russen werden Donezk sicherlich in Bälde auch militärisch kontrollieren und besetzen. Dann werden sie Zeit brauchen zur Umgruppierung ihrer Kräfte. Ich schließe nicht aus, dass sie anschließend bis zum Dnepr weitermarschieren und die gesamte Schwarzmeerküste einschließlich Odessas besetzen. Wenn man dem zuvorkommt und jetzt diplomatische bzw. politische Initiativen startet, kommt man vielleicht doch noch in Verhandlungen und findet zu vernünftigen Lösungen. Hingegen würde das Weiterfahren auf rein militärischen Lösungswegen dazu führen, dass sich Russland am Ende die ganze Ostukraine einverleibt.

Dem Risiko einer zumal nuklearen Eskalation begegnen die Verfasser des „Friedensgutachtens 2022“ mit der Forderung, die NATO möge offiziell auf die Möglichkeit eines atomaren Erstschlages verzichten. Halten Sie auch dies als einen diplomatischen Vorstoß für sinnvoll?

Nein, davon halte ich nichts. NATO-Europa ist zwar insgesamt betrachtet durch das hohe amerikanische Engagement konventionell überlegen. Aber die Russen können regional – vor allem im Ostseeraum – sehr schnell eine gewaltige militärische Überlegenheit erzeugen, der etwa die baltischen Staaten unterlegen wären. In dieser Situation offiziell auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen zu verzichten, erhöht die russische Bereitschaft zu einer militärischen Aggression mit konventionellen Mitteln, da sie nicht mehr das unbestimmte Risiko eines westlichen Nuklearwaffeneinsatzes einkalkulieren müssen. Andere Empfehlungen des Gutachtens sind da zielführender.

Welche zum Beispiel?

Richtig finde ich den Ansatz: Waffenlieferungen in einem Ausmaß, das sicherstellt, dass die Ukraine bei künftigen Verhandlungen nicht aus der Position des Verlierers verhandeln muss. Mit dieser Zielsetzung haben die Waffenlieferungen für mich einen Nutzen. Und dementsprechend halte ich auch die gegenwärtigen besonnen dosierten Lieferungen der Bundesrepublik für richtig. Es ist allerdings inkonsequent, auf Waffenlieferungen in die Ukraine zu setzen, aber die Frage der eigenen Wehrfähigkeit auszuklammern.

Inwiefern?

Zentral ist für mich der Abschreckungsgedanke: dass man sich so aufstellt, dass man durch militärische Stärke Kriege verhindern kann. Das muss die NATO jetzt machen – und vor allem Deutschland, da wir eine nicht einsatzbereite Armee haben. Wir bekommen jetzt als Teil der Zeitenwende die Kurve, aber wir werden Jahre brauchen, um wieder verteidigungsfähig zu sein.

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 29/2022.