„In dieser Welt bleibt nur der Heuchler sauber“

Der evangelische Militärpfarrer Klaus Beckmann widmet sich in einer bedenkenswerten Streitschrift der theologischen Perspektive auf den Soldatenberuf in Zeiten der sicherheitspolitischen Neuorientierung

Von Tilman Asmus Fischer

Als „Erinnerungs- und Streitschrift“ markiert der evangelische Theologe Klaus Beckmann – 2011 bis 2020 Militärseelsorger, zuletzt persönlicher Referent von Militärbischof Sigurd Rink – sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch. Inhaltlich freilich liegt der Akzent eher auf dem streitbaren Debattenbeitrag als auf anekdotischen Berichten – und dies gereicht „Dienstweg – kein Durchgang?“ nur zum Vorteil. Denn was der Autor bietet, ist – bei aller Sättigung durch die Praxiserfahrung eines Militärpfarrers – eine friedensethische wie pastoraltheologische bzw. kirchentheoretische Standortbestimmung auf höchstem Reflexionsniveau.

Unter einer friedensethischen Perspektive liest sich Beckmanns Buch als einer der profundesten Beiträge zur die sogenannte „Zeitenwende“ begleitenden theologischen Debatte, die sich zwischen einem Aufbegehren fundamentalpazifistischer Positionen und Spekulationen über eine Wiederkehr der Lehre vom „gerechten Krieg“ bewegt. „In dieser Welt bleibt nur der Heuchler sauber“, kann der Autor am Schluss konstatieren – und diese Einsicht verdichtet wie in einem Brennglas seine Argumentation, die sich gegen unaufrichtige Positionen eines Radikalpazifismus wendet, den Beckmann in seiner deutschen Spielart wiederholt als Wiedergänger eines Nationalpazifismus mit Wurzeln in den dunkelten Kapiteln der Geschichte unseres Landes identifiziert. Für eine aufrichtige Perspektive tritt Beckmann demgegenüber ein, indem er vom Faktum der unerlösten Welt ausgehend zu einer verantwortungsethischen Herleitung der Notwendigkeit der Institution Militär gelangt.

Dabei betont Beckmann den hohen Wert, welcher der Gestalt des Militärischen zukommt, wie sie sich in der Bundeswehr mit den Prinzipien der „Inneren Führung“ bzw. des „Staatsbürgers in Uniform“ herausgebildet hat. Gewiss stellt der Autor mit dem Bild des gebildeten, verantwortungsbewussten und kritischen Subjekts hohe Ansprüche an den Beruf des Soldaten. Jedoch bilden ebendiese Ansprüche das logische Korrelat zur inhaltlichen Begründung der Existenz von Streitkräften, wie Beckmann sie vornimmt: zur Sicherung von Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit sowie zur Wahrnehmung internationaler Verantwortung unter dem Vorzeichen der Idee des „gerechten Friedens“.

Nicht minder bedenkenswert sind Beckmanns Ausführungen, liest man sie in einer postoraltheologischen bzw. kirchentheoretischen Blickrichtung: Ebenso klar, wie der Autor eine ethische Würdigung des Soldatenberufs vornimmt, tritt er für die Unabhängigkeit der Seelsorger wie der Institution Kirche im System Bundeswehr ein. Denn – eine grundsätzliche Problematik, die auch aus anderen Bereichsseelsorgen prinzipiell bekannt ist, sich aber im Falle der Militärseelsorge in besonderer Weise zeigt – das Bezugssystem, in dem die Militärpfarrer wirken, hat eine deutliche Tendenz dazu, die Geistlichen zu vereinnahmen. Dem stellt der Autor die Erwartungen der Soldaten an Militärseelsorger gegenüber – und hier mag eine implizite Kritik an einzelnen Amtsbrüdern anklingen:

„Nach meiner Erfahrung verfügen Soldaten über ein hohes Maß an kritischer Sensibilität gegenüber Anbiederungsversuchen. Sie wünschen sich durchaus nicht, dass ein Seelsorger in ‚Grünzeug‘ durch die Kaserne marschiert; militärisches Grüßen wird beim Militärpfarrer als unstatthaft empfunden – nicht allein, weil dieser nun eben einen zivilen Status hat, sondern auch und gerade, weil den meisten Soldaten bewusst ist, welchen Schatz der Seelsorger in seiner Sonderstellung für sie darstellt. Gleitet er in das militärische ‚grüne‘ Milieu ab, geht ein Stück Freiheit im militärischen Alltag verloren.“

Dieses „Stück Freiheit“ beginnt beim von den Seelsorgern als Raum freier Aussprache gestalteten Lebenskundlichen Unterricht und reicht über ihre Unabhängigkeit von der militärischen Hierarchie bis hin zum Beicht- und Seelsorgegeheimnis, das Militärseelsorger von Truppenpsychologen unterscheidet und einen Raum des geschützten Gesprächs selbst in Extremsituationen garantiert. Zur Absicherung ebendieser Freiheit und Unabhängigkeit mahnt der Autor wiederholt Strukturreformen innerhalb der evangelischen Militärseelsorge an: „Ein Verbesserungsansatz für die Militärseelsorge kann in verfassten Basisvertretungen liegen, die es dem Seelsorger ermöglichen, sich in Entscheidungen und Äußerungen abzustimmen und abzusichern. Handlungen der Militärseelsorge würden so nach außen nicht vom Pfarrer allein, sondern durch ein legitimiertes Gremium vertreten.“

Dabei greift der Verfasser interessanterweise auf die katholische Organisationsstruktur als Vorbild zurück: „Beachtenswert finde ich die Tatsache, dass die katholische Militärseelsorge bislang in der Beteiligung der Basis mehr zu bieten hat als die evangelische Seite. Dort existieren bei den Standortpfarrämtern verfasste“ – wenn auch, wie Beckmann einschränkt, vom Pfarrer berufene und nicht gewählte – „Mitarbeiterkreise und Pfarrgemeinderäte; über mehrere Ebenen hinweg sind die katholischen Soldatinnen und Soldaten bis ins Zentralkomitee der deutschen Katholiken repräsentiert.“

Diese Bezugnahme ist nur einer von zahlreichen Aspekten, die „Dienstweg – kein Durchgang?“ für eine ökumenische Leserschaft und nicht nur für den kleinen Kreis der an Fragen der evangelischen Militärseelsorge Interessierten äußerst lesenswert macht. Mithin in Monaten, da sich die gesamte Gesellschaft neu über Grundkoordinaten von Sicherheitspolitik und Friedensethik orientieren muss, stellen diese Reflexionen, die an Erfahrungen als „Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr“ anknüpfen, unangenehme Fragen und bieten Thesen, die in einer aufrichtigen öffentlichen Debatte nicht ausgeklammert werden sollten. Dass Deutschland diese Debatte vor dem Hintergrund seiner historischen Verantwortung ebenso wie gegenüber seinen heutigen Uniformträgern schuldig ist, macht Beckmann eindrücklich klar.

Klaus Beckmann: Dienstweg – kein Durchgang? Als Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr. Eine Erinnerungs- und Streitschrift. Miles-Verlag, Berlin 2022, 264 Seiten, ISBN 978-3967760439, EUR 19,80.

Erschienen am 20. April 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Gefährdete Unabhängigkeit

Welche Leitlogik prägt die Militärseelsorge? Ein ökumenisches Gespräch offenbart theologische Leerstellen

Von Tilman Asmus Fischer

Als die beiden evangelischen Theologen Isolde Karle und Niklas Peuckmann 2020 ihren Sammelband „Seelsorge in der Bundeswehr. Perspektiven aus Theorie und Praxis“ herausgaben, betonten sie in ihrer Einleitung in besonderer Weise die Herausforderung, „die stets gefährdete Unabhängigkeit der Militärseelsorge zu erhalten und zu fördern“: „Jede ‚Bereichsseelsorge‘, mithin jede Seelsorge, die in einer nicht-religiösen Institution angesiedelt ist, steht in der Gefahr, von der Leitlogik der gastgebenden Institution absorbiert zu werden. Das Soziale ist in aller Regel stärker als das Bewusstsein, deshalb lassen sich Seelsorgerinnen und Seelsorger leicht in den Sog der Systemlogik ziehen, die in einer Institution vorherrschend ist, – ob das die Schule, das Krankenhaus oder die Bundeswehr ist. In der Bundeswehr scheint diese Dynamik besonders ausgeprägt zu sein.“

Anschauungsmaterial dieser ‚Dynamik‘ bot am 7. Februar ein vom „Berlin Center for Intellectual Diaspora“ an der Katholischen Akademie veranstaltetes Hintergrundgespräch unter dem Titel: „Seele und Moral der Truppe – was tut und was soll Militärseelsorge heute?“ Eingeladen hatte das Center, dessen Leiterin Dr. Gesine Palmer den Abend moderierte, drei ‚Strausberger‘: die Leiter des Evangelischen bzw. Katholischen Militärpfarramts Strausberg, die Militärdekane Otto Adomat und Siegfried Weber, sowie den im Kommando Heer mit Sitz in Strausberg für Fragen der Inneren Führung zuständigen Oberst York Buchholtz.

Auf dem Podium
Auf dem Podium (v.l.n.r.): Militärdekan Siegfried Weber, Dr. Gesine Palmer, Militärdekan Otto Adomat, Oberst York Buchholtz (Foto: Ting-Chia Wu).

Gewiss, alle drei betonten dezidiert den hohen Wert der rechtlich verbrieften Unabhängigkeit der Militärseelsorge in der Bundeswehr: Die Bindung der Geistlichen an das Beicht- bzw. Seelsorgegeheimnis, ihre Stellung jenseits der militärischen Hierarchie und den damit gewährten Schutz vor einer Indienstnahme der Seelsorge durch die militärische Führung. Dennoch stimmten die Kurzvorträge sowie die Diskussion nachdenklich mit Blick auf das zur Sprache gebrachte pastorale Selbstverständnis bzw. theologische Hintergrundannahmen, bei denen sich wiederholt die Frage aufdrängte, welche ‚Leitlogik‘ für sie ausschlaggebend ist: eine militärische oder eine kirchliche bzw. theologische.

Am deutlichsten war die Prägung durch eine kirchliche ‚Leitlogik‘ beim katholischen Militärdekan Weber zu erkennen, der das Aufgabenprofil eines Militärgeistlichen prinzipiell als demjenigen des Priesters in einer Zivilgemeinde gleichgestaltet beschrieb. Weber sprach als bodenständiger Praktiker, als zugewandter Seelsorger, der – Grundvoraussetzung seines Dienstes – „Menschen mag“ und „Soldaten mag“. Durch ihn – wie durch die anderen Podiumsteilnehmern – wurde jedoch kaum die Ebene einer kritischen Hinterfragung des militärseelsorgerlichen Wirkens im von Karle und Peuckmann skizzierten Sinne erreicht. Die Diskussion verblieb weitestgehend in einer positivistischen Darstellung des selbsterlebten Ist-Zustandes der Pastoral unter Soldaten.

Hellhörig konnte man freilich werden, als Weber seinen evangelischen Amtskollegen als „Kamerad Adomat“ titulierte. Dass Militärgeistliche – zumal im Kontext und vor dem Hintergrund gemeinsam erlebter Einsatzerfahrungen – für die ihnen anbefohlenen Soldaten die Bezeichnung des Kameraden verwenden, ist nachvollziehbar und mag womöglich auch unter poimenischen Gesichtspunkten legitim sein. Was aber sagt es über die hinter dem eigenen Dienst als Pfarrer stehenden Überzeugungen aus, wenn man im Miteinander unter Amtsbrüdern – und eben nicht im Austausch mit der ‚gastgebenden Institution‘ – eine Selbstbezeichnung verwendet, die sich gerade nicht aus dem gemeinsamen kirchlichen Dienst, sondern aus der ‚Systemlogik‘ des Militärischen speist?

Diese Anrede mag aber vielleicht auch dadurch getriggert worden sein, dass „Kamerad Adomat“ sich selbst recht rustikal in Szene setzte. So klar er sein Wirken auch durch konsequenten Bezug auf Seelsorge und Verkündigung als ein geistliches profilierte, erstaunt doch, dass er in seinem Eingangsstatement als persönliche Motivation zum Dienst als Militärseelsorger den Wunsch fokussierte, „meinem Land – der Bundesrepublik – etwas zurückzugeben“. Dies entspricht dem legitimen soldatischen Selbstverständnis „Wir dienen Deutschland“ – fraglich ist hingegen, ob diese Akzentsetzung dem Proprium entspricht, welches der Wahlspruch der Evangelischen Militärseelsorge insinuiert: „domini sumus“. Werden Militärseelsorger in der theologischen Fachliteratur gerne als „outstanding insiders“ bezeichnet, so konnte man bei Adomat eher den ‚insider‘ als das ‚outstanding‘ betont sehen. So wird er gewiss mit der Beobachtung recht haben, dass die Einsatzwirklichkeit mit erlebter Auftragserfüllung, Kameradschaft und der Begegnung mit Soldaten befreundeter Armeen über geistige Ressourcen für den soldatischen Dienst verfügt. Seine Stilisierung der religiösen Dimension von Kriegserfahrungen ließ jedoch eine kritische Haltung gegenüber der Lebenswirklichkeit der ihm anvertrauten Soldaten vermissen. Dabei täte man dem evangelischen Militärdekan unrecht, ihn als Militaristen misszuverstehen – konnte er doch andererseits etwa die Bedeutung der Versöhnungsliturgie von Coventry im Militärgesangbuch und damit Versöhnung als Zielperspektive auch soldatischen Handelns hervorheben.

Karle und Peuckmann sehen den Trend zur ‚Absorbierung‘ von Militärgeistlichen durch das System Bundeswehr nicht zuletzt darin begründet es sich hierbei um eine Institution handelt, „die ausgeprägter als andere Institutionen, in denen Seelsorgerinnen und Seelsorger tätig sind, durch hierarchische Strukturen bestimmt ist und zugleich dazu tendiert, Seelsorgerinnen und Seelsorger als fest integrierte Bestandteile des Systems zu begreifen.“ Diese Tendenz klang auch bei Oberst Buchholtz an, der in seinem Eingangsstatement von der Militärseelsorge auch als „Führungsinstrument“ sprechen konnte, zu dessen Nutzung er jeden militärischen Führer nur ermuntern könne. Bereits zuvor hatte er betont, dass viele der Angehörigen von Kampfverbänden zwar keine Christen seien, aber der mit Einsatzrealität konfrontierte Soldat dennoch eine Person brauche, die ihm sagt: „Du kämpfst für das richtige.“ Diese Engführung der Seelsorge auf die moralische Legitimierung des kriegsvölkerrechtlich Legalen mag der Systemlogik einer Armee entsprechen – und die Offenheit, in der sich Oberst Buchholtz zu dieser Haltung bekannte, verdient Anerkennung. Bemerkenswert ist jedoch, dass keiner der anwesenden Militärseelsorger sie theologisch begründet hinterfragte.

In anderer Form erschienen am 16. Februar 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Was die Sprache enthüllt

Ein aktueller Band vereint zeitkritische Essays über Identität, Politik und Religion

Von Tilman Asmus Fischer

Seit 2015 eröffnet die Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden (StGO) mit ihrer Schriftenreihe „Georgiana“ – so der Untertitel – „neue theologische Perspektiven“. Zunächst herausgegeben vom Gründer der Bruderschaft, Ulrich Schacht, und ihrem heutigem Großkomtur, Thomas A. Seidel, wird sie nach Schachts Tod von Seidel gemeinsam mit dem Publizisten Sebastian Kleinschmidt fortgeführt. Mit Sprache im Spannungsfeld von Politik und Religion nimmt sich der heuer erschienene siebente Band eines tatsächlich äußerst brisanten Themas an. Die in den meisten Beiträgen dominierende Kritik an gegenwärtigen identitätspolitisch motivierten Versuchen von ‚Sprachreformen‘ ist zwar in der großen Linie ebenso berechtigt wie genau besehen nicht neu. Jedoch ergeben sich tatsächlich neue Perspektiven, indem durch die Gesamtheit der Aufsätze der virulente Streit um die Sprache in einen größeren Zusammenhang eingeordnet wird. Grundlage des Buches sind die Vorträge des LIX. Konvents der StGO im Oktober 2020 im Erfurter Augustinerkloster.

Es trägt durchaus zum Gehalt des Bandes bei, dass er dem Aufsatz von Annette Weidhas, Programm- und Verlagsleiterin der Evangelischen Verlagsanstalt, fast ein Drittel des Umfangs einräumt. Denn ihre Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Identitätspolitiken ist differenzierter als es der polemische Titel („Das Virus der Identitätspolitik“) erwarten lässt – aber gerade deshalb besonders prägnant. Aus gesellschaftswissenschaftlicher, philosophischer und vor allem auch theologischer Perspektive gelingt es ihr, die „Gendersprache“ als „Signum eines neuen Irrationalismus“ auszuweisen.

Leider erreichen nicht alle der weiteren Beiträge das argumentative Niveau von Weidhas. Dies hat seinen Grund auch an teils ambivalenten Zungenschlägen, derer sich einzelne Autoren befleißigen. So wird etwa nicht abschließend ersichtlich, weshalb sich der Schriftsteller Klaus-Rüdiger Mai in seiner Abhandlung über „Sprache der Gewalt – Gewalt der Sprache“ zu einer expliziten Apologie der AfD genötigt sieht, wenn er festhält: „Das Problem entsteht nicht da, wo eine Opposition die Regierung ‚jagen‘ will, wie oft wurde das in der Geschichte des Parlamentarismus bereits angedroht, sondern dort, wo bestimmte politische Gruppen so etwas äußern dürfen und andere nicht.“

Angesichts versprengter Indizien einer gewissen Kulturkampfmentalität in der Auseinandersetzung mit identitätspolitischen Trends mag man aus vollem Herzen Harald Seubert, Professor für Philosophie und Fachbereichsleitung für Missions und Religionswissenschaft an der Staatsunabhängigen Theologische Hochschule Basel, zustimmen. Dieser mahnt in seinen Erwägungen zum „Logos Europas“ auch „ein Wort gegen die Verhärtungen derjenigen“ an, „die die Political Correctnesses und Sprechverbote mit einem gewissen Recht anklagen, aber selbst das Logon didonai: das kluge wechselseitige Rechenschaft-Geben, versagen und sich in Ideologien verhärten.

Ganz in diesem Sinne ist es zu begrüßen, dass sich das Buch letztlich nicht in der populären wie leicht skandalisierbaren Frage der Gendersprache ‚verbeißt‘. Vielmehr bedenken einige der Beiträge tiefergehend den Logos-Begriff, wie er unter Aufgriff des Johannesevangeliums auch den Titel des Bandes regiert, andere bieten Zugänge zu relevanten Fragen und Aspekten von Sprache in gegenwartskulturellen, ethischen und nicht zuletzt kirchlichen Hinsichten. Einen Sonderstatus nimmt dabei der Essay „Denn ich bin Schrift, und du bist Wunde. Die Sprachen kreuzen sich“ des gebürtig aus Sri Lanka stammenden Berliner Schriftstellers Senthuran Varatharajah ein, der sich in ergreifender Weise mit der Bedeutung von Sprache im Kontext seiner – mit der Integration in Deutschland einhergehenden – Begegnung mit dem Christentum und der biblischen Offenbarung auseinandersetzt.

Neben dem bereits erwähnten Beitrag Seuberts ist es vor allem der japanisch-deutsche katholische Theologe und frühere Jesuit Michael Daishiro Nakajima, der sich mit dem Logos-Begriff auseinandersetzt, indem er „Wort und Liebe“ als „Grundoffenbarungen des göttlichen Seins“ thematisiert. Von besonderer Relevanz für sozialethische Zusammenhänge ist der Beitrag „Cur homo sapiens non deus“ von Jobst Landgrebe, der gewissermaßen an den „Georgiana“-Vorgängerband anknüpft (Coram Deo versus Homo Deus. Christliche Humanität statt Selbstvergottung, 2022). Überzeugend arbeitet der selbständige Unternehmer für Künstliche Intelligenz heraus, warum Maschinen im Sinne menschlicher Sprache „niemals sprechen werden“; damit bietet er wesentliche Argumentationen gegen Gehalt und Begründung trans- und posthumanistischer Zukunftsszenarien.

Wie steht es zuletzt um die Kirchen – bzw. konkret die evangelischen Kirchen – und ihre Sprachfähigkeit in der Gegenwart? René Nehring, engagierter protestantischer Laie und Chefredakteur der Preußischen Allgemeinen Zeitung, bietet mit „Verkümmerte Botschaft. Anmerkungen zur Krise der evangelischen Kirche und ihrer Sprache“ ein (nicht wirklich überraschendes, aber durchaus bedenkenswertes) Zeugnis des Unbehagens heutiger konservativer Protestanden mit ihrer Kirche.

Leider vermag Christoph Meyns, Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig, in seinen Ausführungen nicht wirklich weiterführende Perspektiven aufzuzeigen („Im Anfang war das Wort. Das Wort Gottes in der Spannung zwischen dem Auftrag der Kirche und der Dynamik des öffentlichen Raumes“). Nach feinsinnigen Reflexionen über seine eigene religiöse Sozialisation und Erfahrungen mit außereuropäischen Frömmigkeitskulturen bietet sein Vortrag leider vor allem Allgemeinplätze über aktuelle Lage und Herausforderungen kirchlicher Publizistik.

Thomas A. Seidel u. Sebastian Kleinschmidt (Hrsgg.): Im Anfang war das Wort. Sprache, Politik, Religion (Georgiana. Neue theologische Perspektiven, Bd. 7). Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2022, EUR 25,–

Tilman Asmus Fischer

Erschienen am 8. Dezember 2022 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Zwischen Kunst und politischem Aktivismus

Die „Berlin Biennale“ regt zu Debatten über globale Krisen, den Kunstbetrieb und die Erlösung an

Von Tilman Asmus Fischer

Im Aufmerksamkeitsschatten 15. Kasseler „Documenta“ zeigt auch die 12. „Berlin Biennale“ gegenwärtig zeitgenössische Kunst mit einem deutlichen postkolonialen Fokus. Kurator der unter dem Motto „Still Present!“ laufenden Ausstellung ist der 1970 als Sohn algerischer Einwanderer in einem Pariser Banlieue geborene Installationskünstler Kader Attia. Dieser vermag sich – aufgrund der eigenen Biografie wie Jahrzehntelanger künstlerischer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Herausforderungen des globalen Südens – in Überzeugender Weise mit den im Zentrum der Ausstellung stehenden „Hinterlassenschaften der Moderne und dem daraus resultierenden planetaren Notstand“ auseinanderzusetzen. Dabei bringt er ein Fingerspitzengefühl mit, dessen Fehlen im Falle des – die „Documenta“ kuratierenden – Künstlerkollektivs „ruangrupa“ schwerwiegende Antisemitismusvorwürfe nach sich zog. Unbeeinträchtigt von derartigen Verwerfungen gelingt es der „Berlin Biennale“, vielfältige künstlerische Positionen zu gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen der Postmoderne zur Geltung kommen zu lassen. Dabei ergeben sich spannende Zugänge, die – teils mir religiösen Bezügen – auf ethische Problemzusammenhänge verweisen. Damit lädt die Biennale den Besucher auf unterschiedliche Weisen zu Reflexion, Kritik und Fragen ein.

Der – zumal durch die aktuelle „Documenta“ für die möglichen Wahlverwandtschaften zwischen Antisemitismus und Israelkritik sensibilisierte – Museumsbesucher wird natürlich wahrnehmen, dass unter den sich auf den Nahost-Konflikt beziehenden Kunstwerken der palästinensisch-arabischen Perspektive das eindeutige Primat zukommt. Dabei erheben die Künstlerinnen und Künstler jedoch konkrete Vorwürfe: Simone Fattals etwa nennt an Palästinensern verübte Massaker; die Videoinstallation von Basel Abbas und Ruanne Abou-Rahme befasst sich mit der Erschießung eines 14-jährigen Palästinensers am 19. März 2014. Indem die einzelnen Künstler derart transparent die Referenzen ihrer Werke benennen, eröffnen sie zugleich Raum zur Überprüfung bzw. Diskussion und flüchten sich nicht in diffuse Verschwörungstheorien. Freilich kann gefragt werden, welches Gesamtbild seitens des Kurators und seiner Kooperationspartner erzeugt wird, wenn einzelne solcher Kunstwerke zusammengetragen und ausgestellt werden, ohne dass der größere Kontext bzw. komplementäre Perspektiven sichtbar werden. Ein Gedankenexperiment: Lawrence Abu Hamdan hat für seinen mehrere Meter langen Farbtintenstrahldruck „Air Conditioning“ statistische Daten über die Verletzung des libanesischen Luftraums durch die israelische Luftwaffe im Verlauf von 15 Jahren von einem Algorithmus in das Bild eines Wolkenhimmels übersetzen lassen: Je höher die Frequenz der Luftraumverletzungen, desto stärker die Bewölkung. Welchen Perspektiven und Fragen ergäben sich, würde man parallel hierzu ein Werk zeigen, das den im selben Zeitverlauf erfolgten, terroristischen Raketenbeschuss auf Israel zum Thema hätte?

Fragen anderer Art wirft eines der vielleicht markantesten Werke der Ausstellung auf – vielmehr sind es gleich 14 Gemälde, mit denen Tammy Nguyen die goldenen Skulpturen eines Kreuzwegs interpretiert, den vietnamesische Flüchtlinge auf der indonesischen Insel Pulau Galang errichteten. Nguyens Gemälde brechen in faszinierender Weise mit den von westlicher Sakralkunst geprägten ästhetischen Gewohnheiten und übersetzen das biblische Geschehen in eine Bildsprache, die vom Reichtum tropischer Natur ebenso zeugt wie von den politischen wie sozialen Verheerungen infolge von Kolonialismus und Kapitalismus. Die Tropen, so die Interpretation des Künstlers „verschlingen […] das Christentum und stellen die Welt mit einer anderen Logik von Figur und Vordergrund neu dar“. Die Deutung der Gemälde als postkoloniale Aneignung des Christentums ist durchaus plausibel – zumal angesichts jener Paradoxie, auf die Nguyen verweist und die darin besteht, dass die Flüchtlinge, die auf Galang den Kreuzweg errichteten, „in ihrem Streben nach Freiheit und Demokratie im Westen durch jene Schrift ermutigt wurden, die mehrere Kolonialkampagnen westlichen Ursprungs begleitet hat“.

Doch drängt sich dem Betrachter die Frage auf, ob das Bild neben der kritischen Deutung der biblischen Geschichte nicht auch – gewollt oder ungewollt – ein Weiteres leistet: die Aktualisierung einer inkarnatorischen Christologie. Für diese gilt, so Gerhard Kardinal Müller: „In der Lehre und im Handeln Jesu gibt es die Einheit zwischen der transzendenten Dimension und der immanenten Dimension des Heils. Auch sein Tod am Kreuz kann in keiner Weise als eine von der Welt losgelöste Frömmigkeit betrachtet werden, die die Schöpfung von der Erlösung trennt. Jesus ist vielmehr am Kreuz gestorben, um die befreiende Liebe Gottes zu zeigen, die die Welt verwandelt.“ Mögen in Nquyens Gemälden die Tropen das Christentum ‚verschlingen‘ – zugleich erweist sein ‚Kreuzweg‘ doch auch Leben, Tod und Auferstehung Jesu als ein nicht fernes, fremdes, sondern im Lebenskotext vietnamesischer Flüchtlinge aktuelles und wirksames Geschehen. Denn – nochmals Müller: „Der Tod Jesu am Kreuz hat die Welt und die Geschichte zu einem Ort gemacht, an dem die Neue Schöpfung erfolgt, beginnend im Hier und Jetzt.“ Was dies konkret bedeuten kann, ist – insbesondere von Vertretern einer Theologie der Befreiung – immer wieder ausbuchstabiert worden. Nguyen sieht die Kreuzigung Christi in seinen Gemälden „verschleiert, so dass die betrachtenden Augen in Bewegung bleiben und in der vertrauten Geschichte zwar einen Sinn suchen, aber weder Trost noch Ruhe finden“. Gewiss, zu Kontemplation und weltentsagender Mystik ruft sein ‚Kreuzweg‘ nicht auf, im Gegenteil – dies aber weniger aufgrund einer Verschleierung der Kreuzigung als vielmehr durch deren überzeugende Aktualisierung.

Fragen nach Weltverantwortung und politischer wie gesellschaftlicher Veränderung provoziert mithin die Mehrheit der in der Biennale versammelten Werke. Auf einer grundsätzlicheren Ebene wird dabei freilich die Wechselbeziehung bzw. Unterscheidbarkeit von Kunst und (weiteren) Formen des politischen Aktivismus thematisch. Einzelne Werke entsprechen in überzeugender Weise künstlerischen und darüberhinausgehenden (etwa politischen) Ansprüchen. Hierzu zählt z. B. Imani Jacqueline Browns Installation „What remains at the ends of the earth?“, die in beklemmender Nüchternheit die Dramatik der industriellen Umweltzerstörung an der Küste Louisianas greifbar macht. Susana Pilar hingegen gibt im Begleittext zur Videodokumentation ihrer Performance „Warming up“ gleich den Anspruch auf, als Künstlerin verstanden werden zu wollen: „Susana Pilar ist keine Künstlerin. Sie ist eine Frau – Schwarz, kubanisch, nicht perfekt und sterblich.“ Kunst erscheint nur noch als ein „Vorwand, eine gut ausgearbeitete Verführungsstrategie“, die es der Künstlerin erlaubt, „sich zu tarnen, um Paradoxien und Widersprüche aufzulösen und sich geschickt von einem Extrem ins andere zu bewegen“. Hier wird das Verständnis von Kunst selbst – und damit auch dasjenige einer Biennale für zeitgenössische Kunst – fraglich.

Die 12. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst ist bis zum 18. September in der Akademie der Künste, dem Museum Hamburger Bahnhof sowie an weiteren Standorten in Berlin zu sehen. Weitere Informationen: https://12.berlinbiennale.de/

Erschienen am 18. August 2022 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Letzte Gelegenheit für Verhandlungen?

„Waffenstillstand jetzt! Verhandlungen so schnell wie möglich“ forderten verschiedene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in einem Ende Juni in der Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlichten Appell. Einer der Mitverfasser ist Erich Vad, Brigadegeneral im Ruhestand. Er war von 2006 bis 2013 Militärischer Berater der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im Interview spricht er über Friedensperspektiven für die Ukraine sowie über Impulse des gleichfalls Ende Juni erschienenen „Friedensgutachtens 2022“ der führenden deutschen Friedensforschungsinstitute.

Von Tilman A. Fischer

Herr Vad, die Konstellation ist nicht frei von Ironie: Ein Ex-General fordert von einer linksliberalen Bundesregierung militärpolitische Mäßigung. Was treibt Sie gegenwärtig um?

Bereits als 16jähriger bekam zufälligerweise ein Buch des israelischen Historikers Jehuda Wallach – der ein paar Jahre später mein Doktorvater werden sollte – in die Hand: „Das Dogma der Vernichtungsschlacht“. Darin schildert er das deutsche militärische Denken nach Clausewitz, das sich von dessen „Primat der Politik“ immer weiter entfernte und dann schließlich militärischen Erwägungen den Vorrang vor politischen Erwägungen einräumte. Das führte bereits im Ersten Weltkrieg zur Katastrophe, weil die Politik gänzlich militärischen Interessen untergeordnet wurde. Es hat bei mir einen Nerv getroffen, dass heute deutsche Politiker wieder von „ultimativen militärischen Lösungen“ reden, auf nichts anderes als militärischen Sieg setzen – und auf Waffenlieferungen ohne Wenn und Aber. Das gehört dazu, greift aber für sich zu kurz und führt allein nicht zur Lösung.

Worauf zielt in dieser Situation Ihr Appell ab?

Im Grunde geht es darum, aus dieser militärischen, waffenbezogenen Eskalationslogik herauszukommen. Ein Sieg über die Nuklearmacht Russland ist nicht möglich, ein auch nur regionaler Sieg der Ukraine äußerst unwahrscheinlich, weil die Russen halt die militärische Dominanz im Operationsraum haben, die Eskalationsdominanz, die Luftherrschaft – und vor allem die logistische Basis im unmittelbaren Hinterland. Die Ukrainer hingegen haben eigentlich nur die Perspektive, den Krieg in einen lang andauernden militärischen Konflikt zu überführen – guerillaartig mit Hit-and-Run-Einsätzen und begrenzten lokalen Offensiven. Damit könnten Sie am Ende sogar ‚siegreich‘ sein, aber sie hätten ihr Land verwüstet und wären weiterhin einer massiven Konfrontation mit Russland ausgesetzt. Dies kann nur durch Verhandlungen verhindert werden.

Diese fordert Ihr Appell „so schnell wie möglich“. Über welches Zeitfenster sprechen wir?

Momentan besteht vielleicht die letzte Gelegenheit für Verhandlungen. Die Russen werden Donezk sicherlich in Bälde auch militärisch kontrollieren und besetzen. Dann werden sie Zeit brauchen zur Umgruppierung ihrer Kräfte. Ich schließe nicht aus, dass sie anschließend bis zum Dnepr weitermarschieren und die gesamte Schwarzmeerküste einschließlich Odessas besetzen. Wenn man dem zuvorkommt und jetzt diplomatische bzw. politische Initiativen startet, kommt man vielleicht doch noch in Verhandlungen und findet zu vernünftigen Lösungen. Hingegen würde das Weiterfahren auf rein militärischen Lösungswegen dazu führen, dass sich Russland am Ende die ganze Ostukraine einverleibt.

Dem Risiko einer zumal nuklearen Eskalation begegnen die Verfasser des „Friedensgutachtens 2022“ mit der Forderung, die NATO möge offiziell auf die Möglichkeit eines atomaren Erstschlages verzichten. Halten Sie auch dies als einen diplomatischen Vorstoß für sinnvoll?

Nein, davon halte ich nichts. NATO-Europa ist zwar insgesamt betrachtet durch das hohe amerikanische Engagement konventionell überlegen. Aber die Russen können regional – vor allem im Ostseeraum – sehr schnell eine gewaltige militärische Überlegenheit erzeugen, der etwa die baltischen Staaten unterlegen wären. In dieser Situation offiziell auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen zu verzichten, erhöht die russische Bereitschaft zu einer militärischen Aggression mit konventionellen Mitteln, da sie nicht mehr das unbestimmte Risiko eines westlichen Nuklearwaffeneinsatzes einkalkulieren müssen. Andere Empfehlungen des Gutachtens sind da zielführender.

Welche zum Beispiel?

Richtig finde ich den Ansatz: Waffenlieferungen in einem Ausmaß, das sicherstellt, dass die Ukraine bei künftigen Verhandlungen nicht aus der Position des Verlierers verhandeln muss. Mit dieser Zielsetzung haben die Waffenlieferungen für mich einen Nutzen. Und dementsprechend halte ich auch die gegenwärtigen besonnen dosierten Lieferungen der Bundesrepublik für richtig. Es ist allerdings inkonsequent, auf Waffenlieferungen in die Ukraine zu setzen, aber die Frage der eigenen Wehrfähigkeit auszuklammern.

Inwiefern?

Zentral ist für mich der Abschreckungsgedanke: dass man sich so aufstellt, dass man durch militärische Stärke Kriege verhindern kann. Das muss die NATO jetzt machen – und vor allem Deutschland, da wir eine nicht einsatzbereite Armee haben. Wir bekommen jetzt als Teil der Zeitenwende die Kurve, aber wir werden Jahre brauchen, um wieder verteidigungsfähig zu sein.

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 29/2022.

Klimakrise – Kulturkrise. Die Bedeutung von Umweltethik und Schöpfungstheologie

Aus der Gesprächsreihe: BRÜCKEN STATT BRÜCHE. Kultur und Nachhaltigkeit (Staffel 3)

Mit Johann Hinrich Claussen und Konrad Ott. Moderation und Konzeption: Lydia Bauer und Tilman Asmus Fischer

Aufgezeichnet am 11. Juli 2022 in der Guardini Galerie, Berlin

„Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewusst seines Daseins erfreut?“, schrieb Goethe in seinem Werk über Winckelmann.

Es sind nicht zuletzt ‚Kulturleistungen‘, die uns vor eine nie dagewesene Herausforderung stellen: Industrialisierung, Mobilität, moderne Landwirtschaft – die Entwicklungen der letzten zwei Jahrhunderte sind menschengemacht, sie sind Kultur, nicht Natur. Dabei hat sich in den vergangenen Jahren der Klimawandel zum Kristallisationspunkt von Debatten um ‚Nachhaltigkeit‘ entwickelt. Wie können wir dafür sorgen, dass unser Planet auch in einigen Jahrhunderten noch bewohnbar sein wird? Warum ist die Natur für uns wichtig? Und inwiefern können die Künste, die Wissenschaften und die Religionen unseren Blick für die Natur wieder öffnen und zur Bewahrung unserer Umwelt beitragen? Inwiefern ist das Naturerlebnis für uns ein existenzielles? Wie und in welcher Form bereichert die Natur unser Leben? Theologisch gewendet: In welchem Sinne könnten Umweltethik und Schöpfungstheologie für die Übergänge in eine nachhaltige Kultur bedeutsam werden?

Das Projekt „Brücken statt Brüche. Kultur und Nachhaltigkeit“ der Guardini Stiftung e.V. wird gefördert durch die Beauftragte der Bunderegierung für Kultur und Medien.

Podcast zum Download

Differenzierte Auseinandersetzung

Martin W. Ramb, Holger Zaborowski (Hg.): Solidarität und Verantwortung.Oder: Was Europa zusammenhält.Wallenstein Verlag, Göttingen 2022. 378 S. 22,00 € (D)

Nachdem der Theologe Martin Ramb und der Philosoph Holger Zaborowski sich 2019 bereits mit einem Sammelband auf die Spurensuche nach der „Heimat Europa“ begeben hatten, unternehmen sie nun mit einer in diesem Jahr begonnenen Buchreihe den Versuch, die geistige Identität unseres Kontinents zu vermessen und auf ihre aktuelle Bedeutung hin zu befragen. Dabei kommen Solidarität und Verantwortung als erste der „Koordinaten Europas“ in den Blick – eine Themensetzung, die durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine an Brisanz gewonnen hat, sind diese beiden Schlagworte seither doch mit einem robusten Zungenschlag im politischen Diskurs präsent. Dies freilich war zur Zeit der Fertigstellung des Buches noch nicht abzusehen und so ist Solidarität, wo sie als politisches Phänomen fokussiert wird, vornehmlich in ihrer sozialen Dimension akzentuiert.

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Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Herder-Korrespondenz 7/2022, S. 53.

Aktive Gewaltfreiheit

Wie lässt sich angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine eine Haltung des radikalen Gewaltverzichts begründen? Und was bedeutet die sicherheitspolitische „Zeitenwende“ für die evangelische Friedensethik? Hierüber spricht die Vorsitzende von „Church and Peace“, Antje Heider-Rottwilm, Pfarrerin im Ruhestand, im Interview mit Tilman A. Fischer. Das ökumenische Netzwerk verbindet Friedenskirchen, christliche Gemeinschaften, Kirchengemeinden, Einzelmitglieder sowie Friedensprojekte aus ganz Europa. Die frühere Leiterin der Europa-Abteilung der EKD gehört dem Laurentiuskonvent an und war Mitglied im Zentralausschuss der Konferenz Europäischer Kirchen.

Frau Heider-Rottwilm, seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist von einer sicherheitspolitischen „Zeitenwende“ die Rede. Bedeutet diese auch eine „Zeitenwende“ für die Friedenskirchen?

Sie bedeutet insofern eine „Zeitenwende“, als wir alle heftig herausgefordert sind, noch viel klarer die Ursachen und Folgen eines Krieges zu analysieren, Konsequenzen zu ziehen und Alternativen deutlich zu machen.

Welche wären das?

Zunächst: Der brutale russische Überfall ist durch nichts zu rechtfertigen! Und es wäre erbarmungslos und zynisch, den Menschen in der Ukraine vorzuschreiben, wie sie sich zu verteidigen haben. Aber es geht um eine tiefgreifende und selbstkritische Analyse der Ursachen des Konfliktes. Auch dieser Krieg macht deutlich, dass die global so viele Menschenleben kostende Verkettung von Machtinteressen, Ausbeutung, Bedrohungsszenarien, Gewalteskalation etc. analysiert werden muss. „Zeitenwende“ bedeutet für mich, endlich ernst zu nehmen, dass wir an den Ursachen arbeiten müssen, dass es um globale Gerechtigkeit und Menschenrechte geht. Es geht darum, Rüstungskontrollvereinbarungen zu stärken und endlich konsequent alle anderen Instrumentarien auszubauen statt Aufrüstung und militärische Kompetenz.

Was bedeutet das konkret?

Die Gefahr gewaltförmiger Konflikte ist mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern, heiße Konfliktsituationen sind zu deeskalieren, Menschen zum Widerstand zu befähigen, sowohl gegen den Krieg wie auch in einer Niederlage im Widerstand gegen eine Besatzung. Und nach einem Krieg geht es um Traumabearbeitung, Heilung von Erinnerungen, Wahrheitsfindung, weiteren gewaltfreien Einsatz für Gerechtigkeit und Freiheit als Voraussetzung zur Versöhnung. All das muss gelernt werden, darauf müssen wir vorbereitet werden. Dafür muss mehr denn je in Menschen und Kompetenzen investiert werden, mindestens so viel wie bisher in Waffen! Das erfordert ein radikales Umdenken statt eine weiter eskalierende Rüstungsspirale.

Wie haben sie vor diesem Hintergrund die kirchlichen Reaktionen auf den Kriegsausbruch wahrgenommen?

Die Äußerungen von Kirchenvertreter*innen nach dem 24. Februar fand ich in dem, was sie an Kontexten beschrieben und an Warnungen ausgesprochen haben, zumeist überzeugend. Und trotzdem frage ich mich angesichts der vorherrschenden Argumentation, „wir können niemandem das Recht auf Selbstverteidigung absprechen, deshalb unterstützen wir Waffenlieferungen“: Warum müssen Kirchen die friedensethische Legitimation für das liefern, was die Politik macht? Mir sind die Kirchen da weitgehend zu konform mit dem, was gerade offizielle Politik ist.

Aber lässt sich die kirchliche Befürwortung von Waffenlieferungen an die Ukraine nur politisch als Ausdruck von Konformität erklären oder nicht auch theologisch herleiten? Bewegt sich die Unterstützung der Ukraine bei der Wahrnehmung ihres Selbstverteidigungsrechts nicht im Bereich der „Ethik rechtserhaltender Gewalt“, wie sie die EKD-Friedensdenkschrift von 2007 beschreibt?

Sie haben recht und wir landen dann natürlich bei der Frage: Welchen Stellenwert hat die Kundgebung der EKD-Synode 2019? Ist sie eine Neuauflage dessen, was in der Friedensdenkschrift von 2007 steht oder ist sie eine Weiterentwicklung? Nach den intensiven Debatten von 2007 bis 2019 haben wir als Friedenengagierte die Kundgebung so verstanden, dass der Vorrang für Gewaltfreiheit das ist, wofür wir als Kirchen stehen: Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen (Mt 5,9). Oder: Leistet dem Bösen nicht mit gleichen Mitteln Widerstand. Vielmehr, wenn Dich jemand auf die rechte Backe schlägt, halte ihm auch die andere Backe hin (Mt 5,38.39). Deshalb ist es uns als Kirchen vom Evangelium her geboten, alles zu tun, damit der Vorrang für Gewaltfreiheit auch politisch umgesetzt wird. Und damit sind wir eine Zumutung für politisch Verantwortliche!

Würde dies aber letztlich nicht eine Revision des Konzeptes des „gerechten Friedens“ bedeuten?

Es geht nicht um eine Revision. Es muss aber weiterdiskutiert werden. Wir brauchen einen ernstzunehmenden Diskurs um die theologische Begründung und um die ethische Relevanz der Gewaltfreiheit. Der friedensethische Diskurs ist immer nur bis zu einer bestimmten Stelle geführt worden, nämlich bis zu dem Recht auf militärische Verteidigung bzw. der Responsibility to Protect, also der Rechtfertigung eines militärischen Eingreifens im Falle von Menschenrechtsverletzungen. Aber es geht doch um die Alternativen! Seit 2018 etwa wird das innerhalb der Badischen Landeskirche erarbeitete Szenario „Sicherheit neu denken“ diskutiert und weiterentwickelt. Es beschreibt konkrete Handlungsmöglichkeiten auf dem Weg von einer militärischen zu einer zivilen Sicherheitspolitik. Von hier aus können Visionen für die Zukunft entwickelt werden. Demgegenüber gibt es aber immer noch eine zu große Zurückhaltung.

Sehen Sie für eine solche Weiterentwicklung Anknüpfungspunkte in der gegenwärtigen friedensethischen Debatte?

Es gibt ja Kriterien – auch im ökumenischen Konzept des „gerechten Friedens“ und selbst in dem des „gerechten Krieges“ – die einschränken, wann eine militärische Reaktion oder Aktion überhaupt sinnvoll und verantwortbar ist, etwa angesichts der Opfer, die ein Einsatz fordert. Man muss sich doch der Frage stellen, was wirklich Solidarität bedeutet in einem Krieg wie diesem und ob Solidarität nicht auch bedeuten kann, an bestimmten Punkten andere Aspekte und eine andere – an Gewaltfreiheit orientierte – Kompetenz ins Spiel zu bringen.

Welche Argumente kann die christliche Friedensbewegung hierfür ins Spiel bringen?

Die unleugbar klare Einladung Jesu auf den Weg der aktiven Gewaltfreiheit – und die Erfahrungen, die Menschen immer wieder in Situationen des Krieges und der Besatzung gemacht haben. Wo mit Methoden wie gewaltfreiem Widerstand und zivilem Ungehorsam auf die angreifende Gewalt geantwortet wurde, führte die Hälfte zu nachhaltigem Frieden, doppelt so oft wie bei militärischer Verteidigung, so ein Ergebnis der Friedensforschung.

Was bedeutet Nachhaltigkeit in diesem Kontext?

Militärische Aktionen oder Reaktionen finden auf einem hohen Aggressionslevel statt, weil sie massiv zerstörerisch sind – auch Verteidigung ist zerstörerisch. Sie finden auf einem hohen Kompetenzniveau statt, weil sie eine technisch hochversierte Kriegsmaschinerie erfordern. Und sie liegen auf einem finanziell irrsinnig hohen Niveau. Demgegenüber beziehen gewaltfreie Formen des Widerstandes oder der Intervention alle Menschen ein – natürlich auch Spezialist*innen, aber jeder Mensch hat eine wichtige Rolle. Und wenn Menschen sich als würdig und kompetent erlebt haben, die Deeskalation oder das Ende eines Konfliktes mit bewirkt zu haben, haben sie die Kraft, eine Veränderung auch langfristig mitzutragen. Zudem verbrennen gewaltfreie Aktionen weniger Geld als Waffen – Geld, das dringend sinnvoller gebraucht wird. Es steht uns Kirchen gut an, diese Perspektive offen zu halten und alles dafür Mögliche zu tun!

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 24/2022.

Sünde oder einfach Liebe?

Theologinnen und Theologen der großen Weltreligionen beleuchteten die unterschiedlichen Sichtweisen von Homosexualität bei einem Religionsgespräch in der Berliner Akademie der Wissenschaften

Von Tilman Asmus Fischer

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde vom Oberhaupt der Russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, nicht zuletzt als eine „Verteidigung“ gegen Gay- Prides legitimiert. Auch die Begründung der militärischen „Spezialoperation“ durch den russischen Präsidenten steht in einem größeren ideologischen Zusammenhang, in dem sich Russland von einem liberalistischen „Gayropa“ bedroht sieht. Hieran erinnerte Thomas Sparr vom Verlag der Weltreligionen in seinem Schlusswort zu einer gemeinsam mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) am 26. April in Berlin ausgerichteten Podiumsdiskussion. Damit aktualisierte Sparr zugleich die für sich genommen nicht neue Thematik – „Homosexualität: Grundproblem der Weltreligionen“.

Theologiegeschichtliches Erbe nüchtern bilanzieren

In seiner Einleitung nahm der evangelische Kirchenhistoriker und BBAW-Präsident Christoph Markschies sowohl die Spekulationen über die sexuelle Orientierung Dietrich Bonhoeffers als auch dessen eigene ethischen Reflexionen zur Sexualität in den Blick. Bonhoeffer thematisierte Homosexualität zwar nur selten, erblickte in ihr jedoch eine „Schädigung der Gemeinschaft“. Anhand dieses Beispiels verdeutlichte Markschies die Notwendigkeit einer nüchternen Bilanzierung des theologiegeschichtlichen Erbes im Blick auf den Umgang mit Homosexualität.

Einen „kritischen Umgang mit der Tradition“ forderte mit Isolde Karle auch eine weitere evangelische Theologin im Rahmen der von Harald Asel, Redakteur des rbb24 Inforadio, moderierten Diskussion. Die Professorin für Praktische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum sprach sich für eine „differenzierte Auseinandersetzung mit biblischen Aussagen“ aus. Diese müsse in Sachen Homosexualität auf dem heutigen und „nicht auf dem Wissensstand der Antike“ erfolgen. In einem solchen „Gespräch mit der Tradition“ sei die evangelische Ethik zum Konsens gelangt, dass Homosexualität keine Sünde sei.

Als Beispiel für Entwicklungen innerhalb der offiziellen Bibelauslegung durch das katholische Lehramt verwies Michael Brinkschröder, Theologe und Soziologe sowie Sprecher des Katholischen LSBT+ Komitees, auf das Anthropologie-Dokument „Was ist der Mensch“ der Päpstlichen Bibelkommission von 2019. Dessen Kapitel zur Homosexualität deutet die Sodom-Episode in Genesis 19 ausschließlich als Erzählung über gebrochene Gastfreundschaft. Damit vollzieht die Kommission eine Kehrtwende. Denn bisher war der Text als Verbot homosexueller Handlungen gelesen worden.

Von den Entwicklungen in der evangelischen und katholischen Theologie stach das globale Stimmungsbild, das Mouhanad Khorchide, Professor für Islamische Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, zeichnete, erkennbar ab: „Die Mehrheit der Muslime lehnt Homosexualität ohne Wenn und Aber ab.“ Dennoch sei er mit Blick auf die Entwicklungen in Deutschland optimistisch. Sorgen bereite ihm die „identitätspolitische Aufladung innerislamischer Debatten“ wie etwa um Homosexualität. Für diese seien zunehmend weniger theologische Motive als die Bewahrung der eigenen Identität gegenüber der westlichen Welt entscheidend.

Eine vergleichbare Dynamik benannte Alexander Grodensky, liberaler Landesrabbiner des Großherzogtums Luxemburg und Oberrabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Slowenien, für das Judentum. Für ihn stand dennoch fest: „Die Mehrheit der Juden sieht Homosexualität nicht als Sünde an.“ Zudem identifizierte er auch innerhalb des orthodoxen Judentums Aufbrüche, wenn etwa von der Halacha her argumentiert werde, dass man durchaus „ohne bestimmte Praktiken zusammenleben und sich lieben“ könne.

Fundierter interreligiöser Dialog ist wichtig

Zusammengenommen verdeutlichten die Diskussionsbeiträge, inwieweit bei den Haltungen zur Homosexualität sowohl zwischen als auch innerhalb der Monotheismen eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen herrscht. Umso wichtiger ist gerade in solchen Konstellationen der wissenschaftlich fundierte interreligiöse Dialog, wie ihn sich die „Berliner Religionsgespräche“ auf die Fahne geschrieben haben, Teil derer die Diskussion war.

Voraussichtlich am 4. Oktober werden „Orthodoxien“ Gegenstand des nächsten Religionsgesprächs sein, das BBAW und der Verlag der Weltreligionen gemeinsam mit rbb24 Inforadio sowie der Udo Keller Stiftung Forum Humanum verantworten. Die politische wie gesellschaftliche Aktualität dieses Themas dürfte – in Anknüpfung an Sparr – bereits durch die Brisanz der Diskussion über Homosexualität erwiesen sein.

Die Debatte wird am 22. Mai um 11 Uhr im „Forum“ von rbb24 Inforadio ausgestrahlt. Video-Mitschnitt: https://youtu.be/yftkaTsUzQ8

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 18/2022.

Auswege aus der Individualisierung

Frank Vogelsang fragt nach Perspektiven des gesellschaftlichen Zusammenhalts

Von Tilman Asmus Fischer

Die gegenwärtige Krise des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist bereits seit Jahren eines der prägenden Themen in der öffentlichen Debatte. Auf sie reagierte 2017 das Sachbuch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ des Kultursoziologe Prof. Dr. Andreas Reckwitz und ihre politischen Auswirkungen bildeten 2019 den Hintergrund für das Gemeinsame Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Vertrauen in die Demokratie stärken“.

Einen der neuesten und zugleich klarsichtigsten Beiträge zu dieser Debatte aus philosophisch-theologischer Perspektive hat Dr. Frank Vogelsang – Diplomingenieur, evangelischer Theologe und Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland – mit seiner im vorvergangenen Jahr erschienenen Studie „Soziale Verbundenheit. Das Ringen um Gemeinschaft und Solidarität in der Spätmoderne“ geleistet. Besonders zweierlei zeichnet dieses Buch aus: Zum einen die unvoreingenommene kritisch-analytische Haltung des Autors gegenüber dem „hegemonialen Diskurs der Spätmoderne“, dem der erste Teil des Buchs gewidmet ist. Zum anderen gelingt es dem Verfasser, in inspirierender Weise leibphilosophische Überlegungen im Anschluss an Maurice Merleau-Ponty für seinen eigenen Gegenentwurf fruchtbar zu machen und im Anschluss hieran nach möglichen Formen der Verbundenheit zu fragen.

Bereits einleitend begnügt sich Vogelsang nicht mit dem Hinweis auf die Schwächung überkommener gesellschaftlicher Strukturen in der Spätmoderne, sondern zeichnet die Grundlinien seiner Analyse und Kritik des – diesen langfristigen Entwicklungen zugrundeliegenden – Diskurses vor, dem er den Begriff der Verbundenheit gegenüberstellt: „Wenn die grundlegende Verbundenheit der Menschen untereinander und zu ihrer Umwelt keinen angemessenen gesellschaftlichen Ausdruck findet, wenn die Formen der Verbundenheit durch den hegemonialen Diskurs nachhaltig geschwächt werden, sind auf längere Sicht auch die Errungenschaften [ebendieses Diskurses; TAF] wie Autonomie und Universalismus gefährdet. Denn der hegemoniale Diskurs schwächt in erheblichem Maße die Strukturen moderner Gesellschaften und beschädigt so die Grundlage, auf der die Werte sich entfalten können.“

Was hat es aber nun mit diesem „hegemonialen Diskurs der Spätmoderne“ auf sich? – Dies klären die drei ersten Kapitel zu seiner Beschaffenheit, seiner historischen Genese sowie einer seiner vielleicht problematischsten Folgeerscheinungen: der Entwicklung von der Freiheit zur Vereinzelung. Die Entstehung des hegemonialen Diskurses vollzieht Vogelsang ausgehend von geistesgeschichtlichen Motiven der Neuzeit über die wesentlichen Umbrüche des vergangenen Jahrhunderts nach – die „neoliberale“ wie „linksliberale Wende“ und den durch die Digitalisierung ausgelösten Entwicklungsschub. Den sich in diesem Zuge herausgebildeten und heute beherrschenden Diskurs sieht der Verfasser „vor allem durch zwei Grundüberzeugungen charakterisiert: durch den Individualismus, also die Vorstellung, ein Mensch sei vor allem und zuerst als Individuum zu beschreiben, und durch die Annahme, es komme in politischen Analysen und Handlungen vor allem darauf an, gesellschaftliche Herausforderungen als Probleme gegenwärtiger Zustände darzustellen und sie einerseits mit rationalen, systemadäquaten Methoden und andererseits mit einer Orientierung an moralischen Werten zu lösen“.

Gegen die als scheinbar alternativlos propagierte Individualisierung bzw. Vereinzelung der Spätmoderne bringt Vogelsang im Folgenden die Leibphilosophie von Maurice Merleau-Ponty (bzw. Bernhard Waldenfels) in Anschlag, für den entgegen des Geist-Körper-Dualismus Descartes der Leib „gerade dafür [steht], dass die beiden von Descartes unterschiedenen Substanzen nie unverbunden existieren, dass beide Seiten Abstraktionen aus einem ursprünglichen Geschehen sind“. Damit erscheint es dann jedoch fraglich, den Menschen als primär geistig-rationales, im Körper gefangenes, isoliertes Individuum zu fassen. Vielmehr erscheint er gerade durch seiner Leiblichkeit in einer „existenzielle Verbundenheit“ (zu diesem Begriff gelangt Vogelsang im Anschluss an Merleau-Ponty, der diesen Begriff noch nicht verwendet) mit anderen Menschen als leiblichen Wesen, die er passiv – quasi geburtlich –erfährt.

„Formen der Verbundenheit“ assoziieren sich mit und unterscheiden sich zugleich von „existenzieller Verbundenheit“ dadurch, dass sie als aktives Element eine Antwort des Menschen auf diese passive existenzielle Erfahrung darstellen. Bei diesen Formen handelt es sich, wie Vogelsang bereits zuvor definierte, um „soziale Konfigurationen, die durch eine zeitliche Dauer bestimmt sind und immer wieder Erfahrungen der Verbundenheit ermöglichen. Gesellschaften weisen sehr unterschiedliche Formen der Verbundenheit auf, hierzu gehören familiale Strukturen, Verbände, Institutionen, Organisationen und Assoziationen unterschiedlichster Art, die eine dauerhafte Verbundenheit zwischen Menschen zum Ausdruck bringen.“

Nachdem er ebendiese Formen in zwei Kapitel im Laufe ihrer sozialgeschichtlichen Entwicklung aufgezeigt und ihren Veränderungen durch Phasen gesellschaftlicher Transformationen nachgegangen ist, wendet er sich der Fraga nach dem Potenzial konservativer, progressiver und christlicher Gegenentwürfe zu. Hierzu stellt er ein jeweils prototypisches Textzeugnis in das Zentrum seiner Untersuchung: Ferdinand Tönnies „Gemeinschaft und Gesellschaft“, „Das Kommunistische Manifest“ von Karl Marx und Friedrich Engels, sowie Dietrich Bonhoeffers Dissertationsschrift „Sanctorum Communio“. Dabei gelingt es ihm, die „christliche Form der Verbundenheit“ als theologisch begründete Alternative neben die rechten und linken Identitätsangebote zu stellen: Schließlich leitet sie „sich nicht von einem gemeinsamen Herkommen ab, wie im konservativen Diskurs, sie leitet sich auch nicht von einer gemeinsamen Zukunftsvorstellung ab, für die Konflikte gemeinsam bewältigt werden müssen, wie im progressiven Diskurs. Sie leitet sich vielmehr von Gott ab, der die Gemeinschaft gestiftet hat und der in und durch die Geschichte begleitet, der an die Verheißungen erinnert und mit den Verheißungen die Zukunft eröffnet. Die Gemeinschaft mit Gott ermöglicht die christliche Gemeinschaft. Die gründende Beziehung zu Gott wirkt sich dann unmittelbar auf die sozialen Beziehungen aus.“ Kirche wird darin für Bonhoeffer – und Vogelsang – als „Christus als Gemeinde existierend“ sichtbar. Die beiden abschließenden Kapitel laden mit Blick auf Netzwerke als „zukünftige Formen der Verbundenheit“ im Zeitalter der Digitalisierung und mit einer Perspektivweitung auf Möglichkeiten universalistischer Politik angesichts des spätmodernen Diskurses zum Weiterdenken an. Eben ein solches „Weiterdenken“ beim Leser anzuregen – und damit den Diskurs der Gegenwart nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu verändern –, ist mithin dem gesamten Buch zu wünschen.

Frank Vogelsang: Soziale Verbundenheit. Das Ringen um Gemeinschaft und Solidarität in der Spätmoderne. Alber Verlag, Freiburg i.Br. / München 2020, 240 Seiten, EUR 32,–

In ähnlicher Form erschienen am 24. Februar 2022 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).