Erschrecken vor Gott

Predigt zu Hiob 23 – und zum Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkrieges vor 80 Jahren

Wir sind am Ende eines schönen sonnigen Sommers angekommen. Allmählich haben wir uns wieder in den Arbeits- und Schulalltag eingelebt. Zuvor haben uns die Ferientage wieder auf Reisen geführt – durch Deutschland, Europa, vielleicht sogar darüber hinaus. Der eine oder andere wird den Urlaub womöglich auch in Polen verbracht haben. Unser Nachbarland ist ein zunehmend beliebtes Reiseziel, zumal für Deutsche. Und gerade die nördlichen Regionen an der Ostsee sind – vor allem im Spätsommer und frühen Herbst – besonders reizvoll. Jahr für Jahr lockt der Dominikanermarkt – eines der größten Volksfeste der Region – im August tausende von Gästen nach Danzig; und in den Ostseebädern warten Ablenkung und Entspannung.

Mitten durch die hügelige und seenreiche Landschaft der Kaschubei fließt zwischen Danzig und der Ostsee die Piasnitz, ein kleiner Küstenfluss, der auch dem Dorf Groß Piasnitz seinen Namen gegeben hat. Fährt man heute mit dem Auto auf den Landstraßen durch die Wälder im Umland von Groß Piasnitz, fallen die vielen Hinweisschilder am Straßenrand ins Auge. Sie zeigen zwei Kreuze und eine Flamme und weisen in den Wald hinein. Dort befinden sich, verstreut zwischen den Bäumen, kleine und große Denkmäler, eine Kapelle und unzählige Kreuze. Dieser Ort steht im schroffen Kontrast zu all den Sehenswürdigkeiten und Schönheiten, die dieser Landstrich zu bieten hat – und gehört doch ebenso zu dieser Gegend.

Hier wurden zwischen September und Dezember 1939 weit über 10.000 Menschen durch Angehörige der SS und des sogenannten „Volksdeutschen Selbstschutzes“ ermordet und im Wald verscharrt: polnische und kaschubische Intelligenz, Geisteskranke, die den Nationalsozialisten als lebensunwertes Leben galten, und eine große Zahl deportierter Häftlinge aus dem Deutschen Reich.

Gedenkstätte Piasnitz

Orte wie Piasnitz lassen uns noch heute erschrecken – und ihrer gibt es viele, wo in den Jahren nach dem 1. September 1939 Krieg geführt wurde. Wir stehen da und können nicht begreifen, wie Menschen einander antun konnten, was hier geschah; können nicht begreifen, wie ein gnädiger und gerechter Gott, dies zulassen konnte. Wirklich nachempfinden zu wollen, was die Opfer von einst nach der Besetzung ihrer Heimat durch die Wehrmacht erlebten und erlitten, wäre vermessen. Was sich uns jedoch an Orten wie dem Totenwald von Piasnitz in Bruchstücken vermittelt, ist das Gefühl des absoluten Ausgeliefertseins, der totalen Hilflosigkeit, ja der so empfundenen Abwesenheit Gottes. Der Predigttext für den heutigen Sonntag, gibt uns für diese Empfindung Worte. Denn auch Hiob sucht angesichts erlittener Qualen nach Gott: „Siehe, gehe ich nach vorn, so ist er nicht da, nach hinten, so bemerke ich ihn nicht, nach links, sein Tun schaue ich nicht, biege ich ab nach rechts, so sehe ich ihn nicht.“

Hiob, dem von Gott auf die Probe gestellten, leidenden Gerechten, ist alles genommen worden: Vieh und Vermögen, seine Kinder und die eigene Gesundheit. Nun sitzt er da, verarmt, von Geschwüren gezeichnet und hat bereits tagelang mit seinen Freunden Elifas, Bildad und Zofar diskutiert. Sie haben versucht, ihn zu besänftigen, sein Leiden zu erklären und zu rechtfertigen – doch vergebens: „Auch heute ist Widerspruch mein Anliegen. Gottes Hand lastet schwer auf meinem Seufzen.“ Hiob ist ein strenggläubiger Jude, hat ein moralisch vorbildliches Leben geführt und darf sich von dieser Seite her im Recht wissen: Was er erleidet, hat er nicht verdient. Wie gerne würde er sich daher dem offenen Rechtsstreit mit Gott stellen – und wäre sich dessen Ausgang gewiss: „Ob er in der Fülle seiner Kraft wohl den Rechtsstreit mit mir führen würde? Nein, gerade er wird auf mich achten.“ Wenn er doch nur mit Gott verhandeln könnte, dann würde dieser ihn nicht richten. Mehr noch: Er würde sich ihm in Fürsorge zuwenden. Doch Gott entzieht sich Hiob und lässt nicht mit sich verhandeln, ob das, was Hiob widerfährt, gerecht ist. Gott lässt sich nicht ein auf einen Rechtsstreit über die Frage, ob das, was einem Menschen widerfährt, ‚angemessen‘ ist.

Es gehört dies zur Tragik des Gedenkens an die Opfer von Gewaltherrschaft, Vernichtungskrieg und Rassenwahn: Zwar können wir rein historisch erklären, welche Ideologien und Weltanschauungen die Täter trieben, warum Befehlshaber unter welchen Bedingungen Massaker und Erschießungen anordnen. Und wenn wir einen Blick in die Untiefen des menschlichen Wesens wagen, können wir versuchen, nachzuvollziehen, wieso und unter welchen Umständen Menschen in der Lage sind, einander Gewalt – bis hin zu tödlicher Gewalt – anzutun. Jörg Baberowski, der hier in Berlin Zeitgeschichte lehrt, hat dies über Jahre getan, um am Ende in der Einleitung seines Buchs über „Gewalträume“ zu schreiben: „Der Autor wird zum Pessimisten, und er muss sich vor dem Bösen schützen, das er überall sieht und spürt. Eines Tages muss er aufhören, sich mit der Gewalt zu beschäftigen, weil sie sein Leben vergiftet und seine Stimmung verdüstert.“

Jeder Mensch kann, so Baberowski, unter bestimmten Bedingungen zum Gewalttäter und Mörder werden, vor allem wenn er straffrei handeln kann – so wie die SS im Hinterland der Kriegsfront. Der fatale Umkehrschluss lautet daher jedoch auch: dass wiederum jeder Mensch auch willkürlich Opfer der Gewalt werden kann. Dass sich ab dem 1. September 1939 in Osteuropa Räume der Gewalt öffneten, in denen Menschen andere Menschen ungestraft quälen und abschlachten konnten, lässt sich im Sinne geschichtlicher Zusammenhänge und Verläufe erklären – und die Verantwortung hierfür lastet noch heute schwer auf unseren Schultern. Warum aber gerade der eine oder die andere diesem Wüten zum Opfer fallen musste, bleibt letztlich unerklärlich, ist nicht zu rechtfertigen – erst recht nicht aus dem Lebenswandel und der Person des einzelnen heraus. Welchem einzelnen Opfer der Nationalsozialisten hätte man es absprechen können, mit Hiobs Worten gegen Gott aufzubegehren: „Ach dass ich wüsste, wie ich ihn finden und zu seiner Stätte kommen könnte! So würde ich ihm das Recht darlegen und meinen Mund mit Beweisen füllen und erfahren die Reden, die er mir antworten, und vernehmen, was er mir sagen würde.“

Diese Frage bleibt – und diese Spannung bleibt, dass sich Gott unserer Erwägung und Berechnung gänzlich entzieht, wie auch Hiob erkennen muss: „Doch er, der Eine – wer kann ihm wehren? –, er tut, was seine Seele begehrt. Ja, er wird vollenden, was für mich bestimmt ist; und dergleichen hat er vieles noch im Sinn.“ Wie kann Gott solches Unrecht zulassen? Diese Spannung beschönigen oder wegdeuten zu wollen, wäre billig – billig gegenüber dem Text und billig gegenüber den Opfern, derer wir heute gedenken. Bestürzung, Beben und Verzagen können auch Teil der Beziehung von Menschen zu Gott sein. Dies ist die Einsicht dieses Predigttextes an diesem Gedenktag – und gewiss keine leichte. Aber sie ist eine notwendige Irritation für uns, die wir doch immer wieder dazu neigen, von Gott zu erwarten, dass er unseren Vorstellungen zu entsprechen habe.

Jedoch – und auch dies gehört zur Botschaft des Hiob-Buchs: Ebenso können Klage und Widerspruch zur Gottesbeziehung gehören angesichts von Unrecht und Leid, das der Volksmund dann ja auch ganz zu Recht als „himmelschreiend“ bezeichnet. Im Klagen und Anklagen gegen Gott wenden wir uns nicht von ihm ab, sondern zu ihm hin. Nicht ohne Grund schilt Gott im Hiobbuch am Ende auch nicht seinen Ankläger Hiob, sondern dessen Freunde, die diesen in seiner Anklage zum Verstummen bringen wollten: „… da sprach der HERR zu Elifas von Teman: Mein Zorn ist entbrannt gegen dich und gegen deine beiden Freunde: Denn ihr habt über mich nicht Wahres geredet wie mein Knecht Hiob.“ (Hiob 42,7)

Und so ist Hiobs Klage keine stille Klage – und sie schließt mit einem Satz, der auch uns zur Klage ermutigt, einer Klage im Ringen mit Gott: „Doch werde ich nicht zum Schweigen gebracht vor Finsternis, noch von mir selbst, den Dunkelheit bedeckt.“ Wenn wir in diesem Sinne heute die Opfer von einst beklagen, dann tritt neben unsere Klage zugleich jedoch auch die Zusage: Gott mag uns in seinem unergründlichen Ratschluss fremd und entzogen sein. Jedoch ist er immer auch der Zugewandte, der Mitleidende, ist gerade in den Opfern, die uns so unerklärlich sind, gegenwärtig. Einer, dem diese Präsenz Gottes gerade im Angesicht des Leids bewusstwurde, war Elie Wiesel. In seinem autobiografischen Auschwitz-Buch „Die Nacht“ schildert er die Hinrichtung eines Jungen, der zusammen mit zwei anderen Häftlingen wegen Sabotage zum Tode verurteilt worden war:

„‚Wo ist Gott, wo ist er?“ fragte jemand hinter mir. Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter. ‚Mützen ab!‘ brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten. ‚Mützen auf!‘ Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr… Aber der dritte Strick hing nicht leblos, der leichte Knabe lebte noch … Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. […] Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: ‚Wo ist Gott?‘ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: ‚Wo er ist? Dort – dort hängt er, am Galgen…‘“

Elie Wiesel konnte Gott im Jungen am Galgen erkennen. Wurde Gott in solcher Weise auch für Menschen im Wald von Piasnitz erfahrbar? Wir wissen es nicht – und es zu behaupten, hieße, die Schrecken des Jahres 1939 in einer Weise zu bemänteln, die gerade uns nicht zusteht. Wir dürfen es jedoch hoffen. Und dies ist eine Hoffnung, die unseren Blick am Ende von den Verwerfungen der Vergangenheit in die Zukunft richten lässt. Denn wo Gott ist, da ist immer auch ein Neubeginn möglich: Kein Schlussstrich, aber eine Klage über die Opfer, aus der ein Eingestehen von Schuld und eine innere Umkehr folgen. Dies hebt die Unfassbarkeit des Leids und die Notwendigkeit der Klage nicht auf, aber aus der Klage können neue Begegnungen entstehen und Beziehungen wachsen. Das nennen wir dann Verständigung und Versöhnung. Schritte dieser Entwicklung dürfen wir bereits seit Jahrzehnten zwischen Polen und Deutschen erleben – Gott sei Dank! Und ganz in diesem Sinne dürfen wir festhalten an dem Widerspruch des Hiob, der letztlich ein Festhalten ist an der Hoffnung auf Gott und Gottes Gerechtigkeit: „Doch werde ich nicht zum Schweigen gebracht vor Finsternis, noch von mir selbst, den Dunkelheit bedeckt.“

Predigt im Gottesdienst zur Erinnerung an 80 Jahre Beginn des 2. Weltkrieges am 11. Sonntag nach Trinitatis, 1. September 2019, in der Ev. Patmos-Gemeinde Berlin-Steglitz.

Der da ist und der da war und der da kommt

Andacht zu 2. Mose 3,1-15

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Wie oft haben wir diesen Kanzelgruß schon gehört – „von dem, der da ist und der da war und der da kommt“, wie es im ersten Kapitel der Johannesoffenbarung heißt. Für viele von uns wird er zur Gewohnheit geworden sein. Doch diese Worte sind mehr als eine Förmlichkeit. Diese Worte sollen uns vielmehr an etwas erinnern: daran, warum die frohe Botschaft, die Sonntag für Sonntag gepredigt wird, uns wirklich trägt; daran, von wem die Predigt spricht; daran, warum es gerade dieser ist, der uns aus den Zwängen und Verstrickungen des Alltags herausrufen und befreien kann. Neben den Dreiklang „Vater – Sohn – Heiliger Geist“ tritt ein zweiter: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Dies ist keine Konstruktion aus dem Glasturm akademischer Dogmatik. Von dem Dreiklang „Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft“ erzählt bereits das zweite Buch Mose im dritten Kapitel.

Philipp Schumacher: Moses vor dem brennenden Dornbusch, 1930
(Katholisches Religionsbüchlein für das Bistum Speyer, 1951)

Gegenwart

Auf dem Berg Horeb offenbart sich Gott Mose in einer Situation größter Bedrängnis: Sein Volk lebt versklavt unter ägyptischer Herrschaft, er selbst – der Unterdrückung entflohen – als Hirte im Wüstenexil. Da bricht Gott in seine und seines Volkes Gegenwart hinein – wird präsent: als mitfühlender und handelnder Gott. Er sieht das Elend und erkennt das Leiden. Schon dies ist eine heilsame Zusage: Die Mächte dieser Welt haben nicht das letzte Wort. Mögen die Israeliten auch geknechtet und in Unrecht gehalten werden – der Blick ihrer Unterdrücker auf sie ist bereits relativiert; es gibt eine Instanz, die um Elend und Leid weiß und es beim Namen nennt. Aber mehr als das: Gott weiß nicht nur um Elend und Leid, er will es auch wehren und die Israeliten in die Freiheit führen. Und hierzu bedient er sich des Mose: „ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst“.

Die Befreiungsgeschichte, die diesem Fanal folgt, kennen wir: Den Exodus. Die sagenhafte Erzählung einer solchen Befreiung müssen wir nicht versuchen, eins zu eins mit Bemühungen um historische Genauigkeit in das Hier und Jetzt zu übertragen. Ihr tieferer Sinn bewahrheitet sich uns jedoch dort, wo wir erleben, dass das Vertrauen auf Gott innerlich befreit und zu befreiendem Handeln befähigt, wie einst Mose: Er kann die Israeliten in die Freiheit führen, da er weiß, dass Gott das Leid der Israeliten sieht. Der konkreten Befreiung muss vorausgehen, dass die Perspektive der Unterdrücker relativiert wird: Das hebt Unrecht und Unterdrückung nicht auf, aber das Wissen der Unterdrückten, von Gott angesehen zu sein, nimmt den Unterdrückern das letzte Wort und eröffnet neue Perspektiven. Solche neuen Perspektiven können dazu führen, sich konkret zu befreien. Dass erleben wir im Kleinen, wenn wir uns frei machen von bedrängenden Normen und Urteilen unserer Mitmenschen. Das erleben wir aber auch im Großen, wo Menschen sich dazu befreien lassen, gesellschaftliche und politische Verhältnisse neu zu denken und für einen Wandel einzutreten.

So wird Gott auch dem Mose gegenwärtig. Doch in diesem befreienden Sinne bedeutsam und wirksam wird diese Gegenwart Gottes für ihn erst dadurch, dass sie zwischen der Vergangenheit und der Zukunft Gottes steht.

Vergangenheit

Der junge Israelit sieht das Wunder – einen brennenden, jedoch nicht verbrennenden Dornbusch –, barfuß steht er schließlich auf dem heiligen Land. Doch das Ereignis erschließt sich ihm erst, als sich sein Gegenüber in der gemeinsamen Vergangenheit mit seinem Volk zu erkennen gibt: „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.“ Er ist der Gott, der Abraham zum ‚Vater der Völker‘ machte, ihm im hohen Alter seinen Sohn Isaak schenkte und mit Jakob am Jabbok rang. So hat sich Gott in der Vergangenheit erwiesen – und im Wissen um diese Vergangenheit wird er nun von Mose erkannt, der vor ihm sein Angesicht verhüllt: „denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen“.

Diese Gottesfurch ist keine Furcht, die in Passivität drängt – Mose wird nicht starr vor Angst. Sie ist vielmehr das ehrfürchtige Vertrauen auf Macht und Größe Gottes, wie sie sich in der Geschichte gezeigt haben. Dieses Vertrauen eröffnet neue Perspektiven und Handlungsoptionen. Mose fragt: „Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und führe die Israeliten aus Ägypten?“ Und Gott antwortet: „Ich will mit dir sein.“ Gott will an seiner Seite gehen, wie er bereits an der Seite seiner Väter gegangen war. Hierauf darf Mose vertrauen und in diesem – historisch gewachsenen – Vertrauen kann Mose zu den Israeliten gehen. Und wenn er zu ihnen spricht, kann er wiederum an ebendieses Vertrauen appellieren: „Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt!“

Der Glaube bedarf der historischen Vergewisserung, des vorausliegenden Glaubenszeugnisses. Das ist bei uns nicht anders als bei den Israeliten vor tausenden von Jahren. Solche Zeugnisse finden wir in der Bibel, jedoch auch in der Geschichte unserer Kirche: Martin Luthers „Hier stehe ich“ ist ein solches Freiheitszeugnis. Neben dieses treten im 20. Jahrhundert etwa die Zeugnisse bekennender Christen unter totalitärer Herrschaft in Europa. Nicht umsonst prägten gerade Christen die Bürgerrechtsbewegung der Wendejahre im Ostblock, deren 30. Wiederkehr wir dieser Tage gedenken.

Auch heute gibt es Menschen, die sich in Europa – vor allem im östlichen Europa – aus einem befreienden Glauben heraus für politischen und gesellschaftlichen Wandel einsetzen. Im vergangenen Herbst erzählte mir der griechisch-katholische Weihbischof von Kiew, Bohdan Dzyurakh, wie sich seine Kirche im Dezember 2013 an die Seite der proeuropäischen Demokratiebewegung stellte und er selbst mit anderen Geistlichen unter Scharfschützenfeuer den Menschen auf dem Maidan beistand. Auf die letzten Jahre zurückblickend, entwarf er das Bild einer Kirche, die sich durch die Botschaft ihrer Verkündung befreit sieht und aus diesem Bewusstsein heraus politisch und gesellschaftlich tätig wird:

„Kirche wird immer ‚mater et magistra‘ genannt, und wenn die Kirche nicht nur Lehrerin, sondern auch Mutter sein möchte, dann kann sie sich nicht vom Leid der Menschen zurückziehen, wo sie in ihrer Würde erniedrigt, verfolgt und ihrer Rechte beraubt werden. […] Wir betrachten uns nicht als diejenigen, die den Machthabern dienen, sondern wir wollen dem Volk, den Menschen dienen – und genauso sehen wir die Berufung der Politiker. Wenn die Politiker aber von dieser Berufung abweichen, wenn sie versuchen, die Leute zu unterdrücken und auszubeuten, dann muss die Kirche die Stimme der Unterdrückten werden.“

Solche Worte regen an, zu fragen, wo der Glaube uns selbst innerlich befreit und zum Handeln drängt – oder wir uns vielmehr von ihm befreien lassen und uns nicht dieser Befreiung versperren sollten.

Zukunft

Doch das Wissen um die Geschichtsmächtigkeit Gottes allein wird uns nicht genügen, um uns von Gott befreien zu lassen, so wie es auch Mose und den Israeliten nicht genügt hat. Hierauf zielt Moses Frage, was er denn den Israeliten sagen solle, wenn diese fragten: „Wie ist sein Name?“ – „Mose erwartet vom Volk die Frage nach Sinn und Wesen eines von den Vätern her bekannten Namens.“ So hat es Martin Buber formuliert. Seine Frage zielt also auf eine Eigenschaft Gottes, die diesen gegenüber seinem Volk ausweist und Vertrauen stiftet.

Dies ist eine große Frage, auf die der Gefragte eine erstaunlich kurze Antwort gibt: „Ich werde sein“. Was soll dies nun über Gott sagen? Fehlt doch gerade jegliches Prädikat für Gott: Was wird er sein? Liebevoll, zornig, mächtig, allwissend, richtend, rechtend? Jedoch: Diese kürzeste aller denkbaren Antworten ist zugleich die eigentlich größte und umfassendste Antwort: Gott lässt sich nicht auf eine Eigenschaft festlegen. Aber mehr noch: Die Antwort hätte ja auch lauten können: „Ich bin.“ Indem Gott jedoch antwortet „Ich werde sein“, greift er über Vergangenheit und Gegenwart hinaus: Er erweist seine Hoheit über die Zukunft.

Eben hierin unterscheidet er sich von jedem Geschöpf und jeder irdischen Macht: Denn es mag mehr oder weniger einfach sein, eine Aussage über sich selbst zu treffen vor dem Hintergrund der eigenen Vergangenheit und Gegenwart. Doch spätestens, wenn ich versuche, eine Aussage über mich in der Zukunft zu treffen, werde ich meiner Bedingtheit durch Umstände und Entwicklungen gewahr, die nicht in meiner Hand liegen. Frühere Generationen haben diese Erfahrung, dass die eigene Zukunft letztlich unberechenbar ist, in die Worte gefasst: „So Gott will und wir leben“. Eben, so Gott will – und nicht wir. „Ich werde sein“ – dies heißt für die Israeliten zugleich: ‚Ich werde für Euch da sein.‘ – Was auch immer passiert. Dieser Zusage bedarf es, um auf Gott zu vertrauen. Dass Gott war und an ihrer Seite war, wussten die Israeliten aus ihrer Geschichte.

Dass Gott sein wird und an ihrer Seite sein wird, dessen können sie sich nicht selbst versichern. Aber Gott spricht es ihnen zu, so wie er es auch uns heute zuspricht. Und so, wie die Israeliten diesen Zuspruch bejahen konnten, sind auch wir eingeladen, ihn zu bejahen – im Vertrauen auf den, „der da ist und der da war und der da kommt“.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Morgenandacht am 2. Sonntag nach Trinitatis, 30. Juni 2019, in Marienbad im Rahmen der Marienbader Gespräche des Sudetendeutschen Rates.

Versöhnung mit Gott – Ursprung und Kern christlicher Identität

Andacht zu 2 Kor 5,14-21

Was ist ‚das Christliche’? Und was bedeutet es, christlich zu sein? – In den vergangenen Monaten wird wieder mit Vehemenz diskutiert: über „christliche Identität“, „christliche Kultur“ und nicht zuletzt über „christliche Werte“. Über diese Debatte droht der Begriff ‚des Christlichen‘ zu Bruch zu gehen. Denn hier reklamieren zwei konkurrierende Positionen für sich, im Namen des Christlichen zu sprechen, – sie erheben am Ende jeweils einen Alleinvertretungsanspruch auf ‚das Christentum‘.

Auf der einen Seite stehen jene, die das Christentum auf ein kulturelles Artefakt reduzieren, das prägend für eine mehr oder weniger eng gefasste Gruppenidentität ist: Dann ist von Deutschland als einem christlichen Land, vom christlichen Europa, vom christlichen Abendland oder dem christlichen Westen die Rede. Auf der anderen Seite stehen jene, die das Christentum auf eine Ethik reduzieren und hieraus moralische Forderungen ableiten: Dann besteht die Gefahr, sich zum Richter aufzuschwingen und von der Realisierung „christlicher Werte“ abhängig zu machen, wem das Prädikat „christlich“ zusteht.

Holzschnitt von Julius Schnorr von Carolsfeld aus „Die Bibel in Bildern“, 1860.

Beide Positionen nehmen letztlich für sich in Anspruch, zu definieren, was christliche Identität ist. Dabei soll hier weder in Frage gestellt werden, dass das Evangelium selbstredend prägend auf die Kultur wirkt, in die hinein es verkündigt wird. Noch soll in Abrede gestellt werden, dass aus dem Glauben an Jesus Christus eine spezifische ethische Haltung gegenüber der Mitschöpfung erwächst. Am wenigsten jedoch soll bestritten werden, dass es an sich eine christliche Identität gibt. Vielmehr ist gerade der christliche Glaube identitätsstiftend. Denn dem Christen wird durch das erlösende Handeln Gottes in Jesus Christus eine neue Identität geschenkt: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“

Ebendiese Neubestimmung der Identität, die jedem Christen geschenkt wird, liegt immer schon einer christlichen Kultur oder einer christlichen Ethik voraus. Wo dies umgekehrt wird, ist der Begriff des Christlichen entleert. Er läuft Gefahr, instrumentalisiert und missbraucht zu werden. Umso mehr tut es Not, dass wir uns auf das besinnen, was christliche Identität, was das Zentrum unseres Glauben ausmacht. Hierzu hören wir darauf, was im Zentrum der Verkündigung der ersten Christen steht: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“.

Versöhnung mit Gott – dies ist der Ursprung und Kern christlicher Identität. Geschehen ist sie durch das heilsgeschichtliche Handeln Gottes in Kreuz und Auferstehung. Wir eignen sie uns jedoch nicht durch ein reines Lippenbekenntnis zu diesem geschichtlichen Ereignis vor 2000 Jahren an. Vielmehr sind die Vergebung der Sünden und die Versöhnung mit Gott ein sich immer wieder aufs Neue ereignendes Geschehen, das uns in existenzieller Weise betrifft. Denn die Situation des unerlösten, sündhaften Menschen prägt als Urerfahrung jeden Menschen zu allen Zeiten. Martin Luther hat diesen Zustand trefflich als den des in sich verkrümmten Menschen beschrieben: „Unsere Natur ist durch die Schuld der ersten Sünde so tief auf sich selbst hin verkrümmt, daß sie nicht nur die besten Gaben Gottes an sich reißt und genießt, ja auch Gott selbst dazu gebraucht, jene Gaben zu erlangen, sondern das auch nicht einmal merkt, daß sie gottwidrig, verkrümmt und verkehrt alles […] nur um ihrer selbst willen sucht.“ (Nach: WA 56, S. 304)

Das Aufbegehren gegen den Willen Gottes – der krampfhafte Drang zur Selbstbehauptung des Menschen gegenüber Gott – ist uns heute ebenso vertraut wie vor 2000 Jahren oder zu Lebzeiten Luthers. Wir begegnen ihm, wo am Anfang und Ende des menschlichen Lebens Mediziner versucht sind, Herr über Leben und Tod zu spielen, wo unmoralisches Gewinnstreben den Blick verstellt auf die natürlichen Bedürfnisse von Mitmensch und Umwelt, wo wir im egozentrischen Streben nach Selbstverwirklichung einem grenzenlosen Konsumismus oder gesellschaftspolitischen Ideologien huldigen. Aus dieser Verkrümmung auf uns selbst hin befreit uns Gott, indem er uns die Hand zur Versöhnung reicht. Er eröffnet uns den Weg durch die Buße zur Vergebung der Sünden und ermöglicht uns eine neue Lebensführung, die sich auf Jesus Christus und nicht mehr auf unser Ich hin ausrichtet: Denn „er ist darum für alle gestorben, damit, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist und auferweckt wurde“.

Nicht nur, dass die Erfahrung der Versöhnungsbedürftigkeit eine Grunderfahrung des Menschen zu jeder Zeit ist. Vielmehr ist sie auch jedem zum Glauben gekommenen, getauften Menschen nicht fremd. Er ist, wie Luther es später formulierte, immer zugleich Gerechtfertigter und Sünder. Dies weiß auch der Apostel Paulus, wenn er an die Römer schreibt (Röm 7,22-25): „Denn ich habe Freude an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Verstand und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn! So diene ich nun mit dem Verstand dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde.“

Das heißt, dass die Bitte „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ gerade auch an denjenigen gerichtet ist, der sich bereits ‚in Christus‘ weiß. Und an ebensolche schreibt Paulus ja auch, wenn er sich an die Gemeinde in Korinth wendet. „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ – Das ist eine mahnende Erinnerung daran, dass sich auch der Gläubige anhaltend in einer Situation der Anfechtung befindet und der von Gott geschenkten Versöhnung bedürftig ist. Wenn wir aber Versöhnung in diesem Sinne als Kern christlicher Identität verstehen, dann kann diese in keiner Weise statisch verstanden werden. Sie ist nicht Ausdruck eines Besitzes, sondern beschreibt vielmehr ein Auf-dem-Weg-Sein, der bleibenden Bitte folgend: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“

Damit aber liegt eine christliche Identität nicht nur einfach ‚christlicher Kultur‘ oder ‚christlicher Ethik‘ voraus. Vielmehr erhebt eine solche im Prozess begriffene Identität Einspruch dagegen, sich selbstgenügsam auf derlei Errungenschaften zu verlassen: Sie kann und will sich nicht mit dem Erreichten zufrieden geben. Denn sowohl kulturelle als auch moralische „Werte“ bergen die Gefahr in sich, zum Besitzstand zu werden; diesen würde es nur noch zu hegen und zu pflegen gelten.

Wenn wir uns mit einem solchen Besitzstand begnügen, verleiht er uns zwar womöglich ein gehobenes Gefühl. Zugleich verstellt er uns jedoch den Blick auf die Brüchigkeit unserer Existenz, unsere Unvollständigkeit, unsere bleibende Versöhnungsbedürftigkeit. An die Stelle des Auf-dem-Weg-Seins tritt dann das Verharren und Beharren. Und irgendwann drohen wir, wieder uns selbst zu leben, und nicht mehr dem, der für uns gestorben ist und auferweckt wurde. Christliche Identität hingegen hegt und pflegt keinen Besitzstand. Sie fordert vielmehr, das Erreichte immer wieder aufs Neue zu hinterfragen. Erst wenn wir uns des eigenen fehlerbehafteten Lebens in dieser unerlösten Welt bewusst werden, können wir uns neuerlich sowohl unserer Versöhnungsbedürftigkeit als auch der von Gott geschenkten Versöhnung vergewissern.

Hierzu müssen wir nicht aufhören, von „christlicher Kultur“ und „christlicher Ethik“ zu sprechen. Wer jedoch für erstes eintritt muss sich immer wieder fragen lassen, ob er nicht in der Pflege des kulturellen Erbes verharrt, ob er noch auf dem Weg ist im Zeichen des Wortes von der Versöhnung. Und wer zweites einfordert muss sich fragen lassen, ob er bei aller ethischen Belehrung noch das uns gegebene Amt erfüllt, nämlich dasjenige „das die Versöhnung predigt“. Denn wir sind „nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!“

Morgenandacht am 23. Juni 2018 in Paderborn, im Rahmen der 44. Paneuropa-Tage der Paneuropa-Union Deutschland.

Zachäus ansprechen!

Andacht zu Lk 19,1-10

In den Evangelien steht dem Leser eine große Zahl ganz unterschiedlicher Personen gegenüber: Fischer, Soldaten, Obdachlose – Männer, Frauen, Kinder – Fromme, Eiferer und Zweifler. Ihre Geschichten erzählen von Begegnungen mit dem Sohn Gottes. Sie nehmen uns mit hinein in den Glauben an Jesus Christus, mit hinein in die Nachfolge. Und sie geben uns Beispiele, von denen wir heute lernen können. Dabei tut dies nicht jede Gestalt in gleicher Weise. Vielmehr sind uns aus dem jeweiligen Kontext heraus, in dem wir stehen, bestimmte biblische Personen besonders nahe – ist es der eine Mann oder die eine Frau der Heiligen Schrift, die uns Beispiel und Vorbild sind, uns mit ihrem Zeugnis bewegen. In humanitären Notlagen vielleicht der barmherzige Samariter, in großer Bedrängnis aus Glaubensgründen der Erzmärtyrer Stephanus.

Welche Gestalt kann uns als Christen in Mitteleuropa in besonderer Weise ansprechen? Wir befinden uns weder in einer humanitären Notlage, noch werden wir bedrängt, wie etwa unsere Geschwister im Machtbereich des sogenannten „Islamischen Staates“. Was hingegen prägt unsere Lebenszusammenhänge, aus denen heraus wir auf Gottes Wort hören? Sicher relativer Wohlstand; dann aber auch der zunehmende Verlust an Glaubensgewissheiten in unserer Gesellschaft; in einer Gesellschaft, die mehr und mehr ihren Zusammenhalt verliert. In welcher biblischen Figur können wir in dieser Situation einen Weggefährten und Zeitgenossen finden? – Hier denke ich an Zachäus, den Oberzöllner von Jericho, von dem der Evangelist Lukas im 19. Kapitel erzählt (V. 1-10):

1 Dann kam er nach Jericho und ging durch die Stadt. 2 Dort wohnte ein Mann namens Zachäus; er war der oberste Zollpächter und war sehr reich. 3 Er wollte gern sehen, wer dieser Jesus sei, doch die Menschenmenge versperrte ihm die Sicht; denn er war klein. 4 Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste. 5 Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein. 6 Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf. 7 Als die Leute das sahen, empörten sie sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt. 8 Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück. 9 Da sagte Jesus zu ihm: Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist. 10 Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.

Der Prager Theologe Tomáš Halík hat vor einigen Jahren in seinem Buch „Geduld mit Gott“ die „Geschichte von Zachäus heute“ erzählt. Er erinnerte sich an eine Andacht, die er Anfang der 1990er Jahre zum Christfest vor tschechischen Parlamentariern gehalten hatte. Er verglich aus diesem Anlass das Evangelium von Zachäus mit der Lage im eigenen Land:

James Tissot: Zacchaeus in the Sycamore Awaiting the Passage of Jesus
(Brooklyn Museum)

„Als nach langer Zeit die Jünger Christi nach dem Sturz des Kommunismus frei vor die Öffentlichkeit getreten waren, fanden sie überall eine große Zahl Applaudierender um sich versammelt, allerdings auch einige wenige feindlich Gesinnte immer noch mit drohend geballten Fäusten. Wahrgenommen wurde jedoch nicht der Umstand, dass die umher stehenden Bäume voll mit Zachäusgestalten besetzt waren, mit jenen also, die sich nicht unter die alten oder die ganz neuen Gläubigen mischen wollten oder konnten, ohne dabei gleichgültig oder feindselig zu sein. Sie waren auf der Suche und voller Neugier, zugleich wollten sie aber Abstand und ihre Sicht der Dinge bewahren; diese seltsam gemischte Gemütsverfassung bestehend aus Fragen und Erwartungen, Interesse und Schüchternheit, manchmal vielleicht auch aus Schuldgefühl und gewisser ‚Ungehörigkeit‘, ließ sie versteckt im Dickicht der Feigenblätter verharren.“ (Tomáš Halík, Geduld mit Gott. Die Geschichte von Zachäus heute, Freiburg i. Br. 72014, S. 21f.)

Ist die Situation im Jahr 2018 so viel anders als im Prag der 1990er Jahre? Sowohl in Tschechien als auch in Deutschland leben wir Christen in einer mehr und mehr säkularen Gesellschaft. Gewiss, immer noch erleben die Großkirchen „eine große Zahl Applaudierender um sich versammelt“ – ob vergangenes Jahr zum Reformationsjubiläum oder heuer beim Katholikentag in Münster. Und auch „feindlich Gesinnte immer noch mit drohend geballten Fäusten“ sind uns erhalten geblieben; man denke nur an radikale Gegendemonstranten, die aufmarschieren, wenn christliche Lebensschützer zu einer Kundgebung aufrufen. Und sind nicht noch heute „die umher stehenden Bäume voll mit Zachäusgestalten besetzt“? – Gewiss! Aber nehmen wir sie zu genüge wahr? Haben wir die Chance, die uns das Ende des Kommunismus in Europa eröffnet hat, die Chance, uns den Säkularen, den Zweiflern, den Suchenden ernsthaft zuzuwenden, wirklich genutzt? – Ich fürchte, nicht. Wir haben nicht oft genug in die Maulbeerbäume aufgeschaut – zu den stillen Menschen am Rande –, sondern sind mit Blicken und Sinnen bei den Massen auf der Straße geblieben – uns und unsere Glaubensgeschwister in unserem Glauben bestärkend, verhaftet in der Auseinandersetzung mit Radikallaizisten und Antiklerikalen.

Jesus begegnet dem Mann auf dem Maulbeerbaum in anderer Weise: „Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.“ – Er spricht Zachäus bei seinem Namen an. Und das heißt: Er kennt Zachäus, er weiß um seine „gemischte Gemütsverfassung bestehend aus Fragen und Erwartungen, Interesse und Schüchternheit, manchmal vielleicht auch aus Schuldgefühl und gewisser ‚Ungehörigkeit‘“. Derart Zachäus ansprechen, „kann nur jemand, der ‚seinen Namen kennt‘ – von dessen Geheimnis weiß“ (a.a.O., S. 25). Hierzu müssen wir eine gewisse Selbstgenügsamkeit überwinden, zu der wir Christen neigen und die Halík mit einer Anekdote beschreibt:

„Einmal sah ich an der Wand einer Station der Prager U-Bahn die Inschrift ‚Jesus ist die Antwort!‘, gekritzelt wohl von jemandem, der eben von einer evangelikalen Versammlung mit großem Enthusiasmus unterwegs nach Hause war. Ein anderer hatte zutreffend dazugeschrieben: ‚Aber wie war die Frage?‘“ (A.a.O., S. 25f.)

Wie war die Frage? – Dies müssen wir uns und unser säkulares Gegenüber immer wieder aufs Neue fragen. Gewiss ist es eine Gnade, wenn wir fest in unserem Glauben stehen, wenn wir Jesus Christus treu bekennen können. Aber der Weg zu Gott führt nicht einfach nur durch eine Konfrontation mit Zeugnissen unseres Glaubens – sondern vielmehr durch existenzielle menschliche Erfahrungen, Sorgen, Lebensfragen, aus denen sich erst Jesus als die Antwort erschließt. In der „Ökumenischen Erklärung katholischer und evangelischer Professoren und Hochschullehrer der Theologie zum bayerischen Kreuzerlass“ heißt es: „Wer auf das Kreuz blickt, sieht sich dabei gleichermaßen konfrontiert mit einem wesentlichen Werteanker unserer humanistischen Toleranzkultur wie mit Jesus Christus als dem Sohn Gottes.“ (https://www.kreuzerlass.de/) Das ist systematisch-theologisch sicher richtig. Jedoch: Was ist damit gewonnen für den christlichen Glauben in einer säkularen Gesellschaft?

Seit Wochen ringen Politik und Theologie bereits mit der Frage, wie öffentlich sichtbar das Kreuz sein darf. Gegenstand der Debatte ist also lediglich das Wie des öffentlichen Bekennens unserer Glaubensüberzeugung: „Jesus ist die Antwort!“ Wann aber haben wir mit ähnlicher Intensität mit der Frage gerungen, die uns erst dazu verhilft, mit Zachäus ins Gespräch zu kommen? – Wie war die Frage? Mit welchen Fragen begegnet Zachäus heute in seiner „gemischten Gemütsverfassung“ Jesus Christus?

Die heutigen Zachäusgestalten werden weiter auf dem Maulbeerbaum auf uns warten, darauf warten, dass wir zu ihnen aufblicken, „ihren Namen kennen“ und sie ansprechen – um vielleicht eines Tages gewiss zu werden: „Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist.“

Morgenandacht am 2. Sonntag nach Trinitatis, 10. Juni 2018, in Marienbad im Rahmen der Marienbader Gespräche des Sudetendeutschen Rates.

Gott ist nicht von dieser Welt

Johannes 13,33-35

„Ein feste Burg ist unser Gott“ – so besingen immer wieder protestantische Christen mit den Worten Martin Luthers den letzten Grund ihres Seins und Glaubens, als den sie Gott für sich erkannt haben. Wer kennt aber nicht auch die Zweifel an der Existenz dieses Gottes, oder anders formuliert: die Sehnsucht nach seiner Beweisbarkeit? Bewusst oder unbewusst brechen Worte wie die des sowjetischen Kosmonauten Gagarin in unser Glaubensleben ein: „Ich bin in den Weltraum geflogen, aber Gott habe ich dort nicht gesehen.“ Die Suche nach Gott in wissenschaftlichen Erkenntnissen mag meist den Zweifel stärken – ob man nun bestrebt ist, Gott zu finden oder zu widerlegen. Doch warum überhaupt Gott zwischen den Sternen oder unter dem Mikroskop suchen? „Liebe Kinder, ich bin noch eine kleine Weile bei euch. Ihr werdet mich suchen.“ – Jesus Christus wusste, dass ihm sein Tod bevorstand, als er seinen Jüngern die Füße wusch, mit ihnen das Brot brach und diese Worte sprach. Und er schien zu wissen, dass dem Menschen nicht der Glaube an das Wort genügen würde, um sich von Gottes Existenz zu überzeugen.

Und daher gab er ihnen mit: „Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen.“ Denn Gott hat zwar die Welt geschaffen, aber er ist nicht „von dieser Welt“. Und das meint eben nicht, dass er – wie man es sich in früheren Zeiten vorstellte – irgendwo oberhalb der Gestirne in menschlicher Gestalt schwebt: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Vielmehr hat der dreieinige Gott eine Existenz, die sich unseren irdischen Erklärungsmustern und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen entzieht.

Und daher ist es hoffnungslos, zu erwarten, mit – für unser Leben oft segensreichen – Experimenten der Naturwissenschaft Gott sichtbar machen zu können. „Wir stolze Menschenkinder / Sind eitel arme Sünder / Und wissen gar nicht viel; / Wir spinnen Luftgespinste / Und suchen viele Künste / Und kommen weiter von dem Ziel.“ So beschrieb Matthias Claudius unser Suchen und Streben. Freilich wäre es deprimierend, hätte Jesu Rede mit diesen Abschiedsworten geendet. Denn das hätte bedeuten können, dass mit der Kreuzigung des menschgewordenen Gottes sich Gott selbst den Menschen gänzlich entzogen hat.

Jedoch spricht Jesus weiter und gibt seinen Jüngern noch ein „neues Gebot“ mit auf den Weg: „… dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt.“ Ja, die Menschen können dem Gottessohn nicht gleich sein oder ihm gar als fleischliche Wesen in die Ewigkeit folgen. Aber: Wenn wir uns in seine Nachfolge begeben, können wir aus seiner Liebe heraus leben. Denn das Gebot der Brüderliebe hebt das schon dem alten Israel gegebene Gebot der Nächstenliebe nicht auf – „neu“ ist es aber als Gesetz für die Gemeinschaft, die an Christus glaubt und ihm nachfolgen will. Also auch für uns!

Der Apostel Paulus hat in seinem Brief an Titus beschrieben, wie die ersten Christen diese ‚Neuerung‘ erlebten: „Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig (…) durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist“ (Titus3,4-5). Können wir das heute nachempfinden? Den Heiligen Geist? Vielleicht suchen wir Gott so sehr im Irdischen und Außerirdischen, dass wir vergessen haben, dass er in uns und in der Gemeinschaft unter uns ist, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind – wo Christen Bruderliebe leben. Hier könnten wir Gott erfahren – und dieses Erfahren lässt das wissenschaftliche Erkennen und Beweisen in den Hintergrund treten.

Tilman Asmus Fischer, Mitarbeiter der evangelischen Wochenzeitung „Die Kirche“.

Erschienen in: Frohe Botschaft März/2015.