„Die Opferrolle nicht aus dem historischen Kontext herauslösen“

Als „Opfernationalismus“ deutet der Historiker Jie-Hyun Lim geschichtspolitische Narrative, die sich in den vergangenen Jahrzehnten sowohl in Europa als auch in Asien etabliert haben. Im Interview ordnet er die deutsche Erinnerung an das Kriegsende am 8. Mai ein.

Der Historiker Jie-Hyun Lim ist Professor für Transnationale Geschichte an der Sogang-Universität in Seoul, Südkorea. In diesem Jahr ist sein erstes deutschsprachiges Buch, „Opfernationalismus. Erinnerung und Herrschaft in der postkolonialen Welt“, erschienen.

Herr Lim, in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Buch bieten Sie das Interpretament des „Opfernationalismus“ für die Analyse geschichtspolitischer Diskurse an. Welche Phänomene beschreiben Sie hiermit?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass der ursprüngliche Begriff im Englischen nicht „victim nationalism“, sondern „victimhood nationalism“ lautet. Dieser Unterschied scheint trivial zu sein, ist aber bedeutsam. Es geht nicht um den möglichen Nationalismus der eigentlichen Opfer, sondern um den mnemonischen Nationalismus der nachgeborenen Generation bzw. Generationen. Jedoch befürchte ich, dass die deutsche Übersetzung „Opfernationalismus“ den nuancierten Unterschied zwischen beiden Übersetzungsmöglichkeiten verwischen könnte. Als die polnische Zeitschrift Więź einen meiner Artikel ins Polnische übersetzte, tauschte ich einige E-Mails aus, um eine angemessene Formulierung im Polnischen zu finden. Die endgültige Fassung lautete: „Nationaler Größenwahn der Opfer“. Nicht zufriedenstellend, aber es gab keine andere Möglichkeit. Jede Übersetzung steht vor solchen Herausforderungen. Dabei setzt sich das Übersetungsproblem beim Begriff des „Opfers“ fort.

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Erschienen am 8. Mai 2014 auf cicero.de.

„Er ist Schwabe geblieben“

Albrecht Goes war ein Freund des Judentums und Dichter. Ein neues Buch begibt sich auf Spurensuche nach diesem Autor, der sein Leben zwischen Musik, Dichtung, Politik und Theologie verortete

In seinem jüngsten Buch „Was geschieht, geht Dich an! Annäherung an Albrecht Goes (1908–2000)“ nähert sich der Publizist Jürgen Israel Albrecht Goes. Der evangelische Theologe war Pfarrer in Württemberg, wurde einer größeren deutschen Öffentlichkeit aber vor allem als Schriftsteller bekannt, insbesondere durch seine Erzählungen, die den Zweiten Weltkrieg und die Shoa thematisierten. Über die bleibende Bedeutung der Botschaft seines Werks sprach sprach Tilman Asmus Fischer im Interview mit Jürgen Israel.

Albrecht Goes schreibt 1958 in einem Gedicht, dass zwei Fragen bei der Betrachtung von Werdegängen Gewicht hätten – eine lautet: „wie kühn spannt sich der Bogen, / wie weit voneinander entfernt / werden in der Werdelust der Lehr- und Wanderjahre / die Pflöcke gesetzt.“ Wie weit war der Lebensbogen Albrecht Goes’ gespannt?

Nicht weit. Er wurde 1908 in Langenbeutingen in eine schwäbischen Theologenfamilie hineingeboren, er selbst ist Theologe geworden und geblieben. Nachdem er sich 1953 vom Gemeindepfarramt hatte freistellen lassen, um hauptberuflich als Schriftsteller zu arbeiten, versah er weiterhin einen Predigtauftrag in Stuttgart. Und er ist Schwabe geblieben.

Was bedeutet das Schwäbische in diesem Kontext?

Schwäbisch meint hier nichts Provinzielles, sondern zum einen die Lebensfreude und Heiterkeit der Schwaben. Goes hat viele Bücher über Schwaben geschrieben und er hat sich in der schwäbischen Sprache ausgesprochen wohlgefühlt. Zum anderen aber hat er immer die Welthaltigkeit der schwäbischen Literatur und des schwäbischen Lebens überhaupt betont: Die Dichtungen von Möricke und Hölderlin hatten für ihn nichts Lieblich-Verklärtes, sondern eine existenzielle Dimension.

Diese zunehmende Distanz zu einer lieblichen oder beschaulichen Sprache bezeichnen Sie als „Entwicklung zum Spröden“. Worin liegen deren Ursachen?

Das Spröde kommt bei Goes durch die schreckliche Erfahrung der Shoa und des Zweiten Weltkriegs. Er hat in einem späten Interview den schwäbischen Ausdruck gebraucht, unser Humanismus hätte einen „Treff bekommen“: Der deutsche Humanismus Goethes bis Mörickes hat beide Verbrechen nicht verhindern können; in Deutschland und eben auch in Schwaben hat es keine Gegenkraft gegeben, diese zu verhindern. Durch diese Erfahrung ist sein ganzes Weltbild spröder geworden – und auch seine Sprache.

Wie ist diese Erfahrung in seiner Biografie zu verorten?

Goes war während des Zweiten Weltkriegs Wehrmachtspfarrer in Ungarn und – am prägendsten – in der Ukraine. Einige seiner Novellen spielen in der Ukraine. Er hat aber seine erste Novelle zur Judenverfolgung einem Erlebnis in Ungarn gewidmet. Mit dieser Erzählung „Begegnung in Ungarn“ war Goes 1945 der erste nichtjüdische deutschsprachige Dichter, der sich belletristisch mit der Judenverfolgung auseinandergesetzt hat. Goes war als Humanist entsetzt, dass eine solche Barbarei losbrechen kann und über völlig unschuldige Menschen verfügt wird. Und diese ganze Hilflosigkeit wird in der kleinen Erzählung sichtbar.

Welche Bezüge zum Judentum finden sich über das Erschrecken angesichts der Shoa in Goes‘ Leben?

Er war von Anfang an durch den – politisch für die Liberalen engagierten – Vater geprägt gegen Rassismus, die antisemitisch motivierte Ermordung des Reichsaußenministers Rathenaus hat ihn als Gymnasiasten zutiefst erschüttert. In Berlin studierte er bei Romano Guardini, dessen Theologie ihn zusätzlich gegen den Antisemitismus immunisierte, stand sie doch im Zeichen der Formulierung Pascals: „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen“. Als junger Pfarrer nahm er – kurz vor dessen Vertreibung aus Deutschland – Kontakt mit dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber auf, mit dem ihn seit den 1950er Jahren eine enge Freundschaft verband.

Buber hat sich in seiner „Dialogphilosophie“ intensiv mit der Beziehung vom Ich und Du als Grundlage des Menschseins auseinandergesetzt. Welchen Einfluss hatte dies auf Goes‘ Denken?

Das dialogische Prinzip von Buber hatte er absolut verinnerlicht und bejaht: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Er kannte die „Zwiesprache“ fast auswendig und hat stets betont: Gespräche über jemanden nützen nichts, denn es gibt nur Gespräche mit jemandem. Mit ihm gab es die Möglichkeit eines echten Zwiegesprächs – am liebsten beim Wandern. Zu den Dingen, die er für unverzichtbar hielt, gehörten – neben Mozart – die Freundschaft und ein „feines, kluges Nachtgespräch“, wie Goes einmal über sich schrieb.

Die Beschwörung von Freundschaft und Nachtgespräch klingt freilich angesichts der weltgeschichtlichen Verwerfungen, die Goes ja im Blick hatte, ein wenig passiv.

Zum aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus gehörte Goes tatsächlich nicht. Politisch engagierte er sich erst in der Bundesrepublik: gegen Wiederbewaffnung und Atomwaffen. Aber das dialogische Prinzip steht hinter dem ethischen Programm seines Denkens und seiner Dichtung: „Was geschieht, geht Dich an!“ Was dem Nächsten passiert, passiert mir und ich kann mich nicht aus der Verantwortung für meinen Mitmenschen stehlen. Das ist eine mitmenschliche Haltung, in der sich eine christliche Verantwortung für den Nächsten ausspricht.

Zum Weiterlesen: Jürgen Israel, Was geschieht, geht Dich an! Annäherung an Albrecht Goes (1908–2000), AphorismA Verlag, Berlin 2023, 180 Seiten, 20 Euro. Erzählungen, Gedichte und Essays von Albrecht Goes sind erschienen im S. Fischer Verlag.

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 19/2024.

„Man darf seine Sicherheit niemals als selbstverständlich ansehen“

Vor 25 Jahren begann die NATO-Osterweiterung – heute erweist sie sich als überlebenswichtig für Europa

Nie mehr sollten deutsche Soldaten in solchen Staaten präsent sein, die zur Zeit des Dritten Reichs von der Wehrmacht besetzt waren. Diese sogenannte „Kohl-Doktrin“ dominierte die bundesdeutsche Verteidigungspolitik nach Ende des Kalten Krieges. Wenn diese Festlegung auch bereits im Zuge der jugoslawischen Nachfolgekriege brüchig geworden war, hat sich seither das geo- und sicherheitspolitische Lagebild noch fundamentaler gewandelt: Heute tragen deutsche Streitkräfte gemeinsam mit einst von Deutschland okkupierter Staaten gemeinsam Verantwortung für die Freiheit und den Frieden – insbesondere, aber nicht nur des östlichen – Europas.

Möglich wurde dies durch die NATO-Osterweiterungen, deren erste sich am 12. März zum 25. Male gejährt hat. Damals traten Polen, Tschechien und Ungarn dem westlichen Verteidigungsbündnis bei. Fünf Jahre später folgten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, vor 15 Jahren Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro sowie 2020 Nordmazedonien. In Prag wurde das Jubiläum mit einer Konferenz unter dem Titel „Unsere Sicherheit kann nicht als selbstverständlich angesehen werden“ begangen. In seinem Eröffnungsvortrag hob der seinerzeitige US-Präsident Bill Clinton die Bedeutung des historischen Ereignisses für das gesamte Verteidigungsbündnis ebenso hervor wie die Notwendigkeit, das Erreichte weiterzuentwickeln: „Ich denke, dass es eine gute Investition war. Es war ein gutes, vernünftiges Risiko, und es hat die NATO immens gestärkt. Und das Motto dieser Konferenz ist heute genauso wahr wie damals, vielleicht sogar noch wahrer: Man darf seine Sicherheit niemals als selbstverständlich ansehen. Wir wissen, dass wir mehr Netzwerke der Zusammenarbeit brauchen.“

Die Zusammenarbeit innerhalb der NATO schließt die Präsenz deutscher Waffenträger gerade auch im östlichen Europa ein – nicht als notwendiges Übel, sondern als Ausdruck gemeinsamer Wehrhaftigkeit. Dies gilt auch für das diesjährigen NATO-Manöver „Steadfast Defender 2024“ mit insgesamt ca. 90.000 Soldaten, mit dem Stärke und Verteidigungsbereitschaft gegenüber Russland bezeugt werden sollen. Dieses größte NATO-Manöver seit 35 Jahren und der deutsche Beitrag hierzu dokumentieren damit nicht nur ein weiteres Mal die Abkehr von der Kohl-Doktrin, sondern ebenso die Überwindung der lange grassierenden sicherheitspolitischen Naivität gegenüber dem Kreml.

Die Bundeswehr beteiligt sich mit 12.000 Soldaten, 3.000 Fahrzeugen und vier Teilübungen im Rahmen ihres Manövers „Quadriga 2024“. Dabei gehören – neben Norwegen (Übung „Grand North“) – drei der vier Zielländern zu den in den letzten 25 Jahren beigetretenen Staaten: Polen („Grand Center“), Litauen („Grand Center“ und „Grand Quadriga“) sowie Rumänien und Ungarn (beide im Rahmen von „Grand South“). Bei den Quadriga-Übungen handelt es sich um Verlegeübungen, in deren Anschluss sich die deutschen Einheiten an weiteren NATO-Übungen beteiligen.

In Polen sind dies die Übungen „Dragon“ und „Saber Strike“. Im Rahmen der vom 25. Februar bis zum 14. März mit 20.000 Soldaten abgehaltenen Übung „Dragon“ kam es am 4. März zu einem durchaus sinnfälligen Moment. Wohlgemerkt im 85. Jahr nach dem deutschen Überfall auf Polen, beteiligten sich Soldaten vom Deutsch/Britischen Pionierbrückenbataillon 130 aus dem nordrhein-westfälischen Minden an einer Überquerung der hochwasserführenden Weichsel – just an der einstigen deutsch-polnischen Grenze bei Kurzebrack (Korzeniewo) im früheren Landkreis Marienwerder. Das Dorf liegt zudem nur etwa 70 Kilometer südlich der Danziger Westerplatte, die zum Symbol des deutschen Angriffskriegs geworden ist.

Dass die Symbolträchtigkeit von Ereignis und Ort in den Medien kaum wahrgenommen wurde, mag als Indiz für das Vertrauen gelesen werden, das zwischen einstigen Weltkriegs-Gegnern wachsen konnte und heute als selbstverständlich erscheint. Dem steht in krassem Kontrast die Konfrontation Russlands mit den von ihm bis 1990 dominierten Sowjetrepubliken und Warschauer-Pakt-Staaten in einer modifizierten Fortsetzung des Ost-West-Konflikts gegenüber. Es waren nicht zuletzt die vom Kreml ausgehenden Hegemonialansprüche ihnen gegenüber, die die NATO-Osterweiterungen förderten. Wie berechtigt – ja überlebenswichtig – die Entscheidung der damaligen Beitrittskandidaten für die Mitgliedschaft war, daran gemahnt ein weiterer Jahrestag, dessen im März zu gedenken war: derjenige der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion, mit der Russland seinen heute bereits zehn Jahre währenden Krieg gegen die Ukraine eröffnete.

Wladimir Putin wiederum stellt – als konstitutives Argument seiner Kriegsrhetorik – eben die NATO-Osterweiterung als einen Vertragsbruch des Westens dar. Ihr habe man im Zuge der Verhandlungen um den Zwei-plus-vier-Vertrag eine verbindliche Absage erteilt. Neueste Untersuchungen der Historikerin Mary Elise Sarotte („Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung“, München 2023) straft diese Mär Lügen. Gegenüber der „Berliner Zeitung“ fasste Sarotte das Ergebnis ihrer Forschungen dahingehend zusammen, dass die „Vertreter Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten darauf [bestanden], dass der Abschlussvertrag zur deutschen Einheit der Nato explizit erlauben müsse, die Sicherheitsgarantie von Artikel 5 auf Ostdeutschland auszudehnen, also über die Grenzlinie des Kalten Kriegs hinaus. Der Abschlussvertrag müsse deutschen und nicht-deutschen Truppen erlauben, diese Linie ebenfalls zu überschreiten, sobald die Rote Armee abgezogen sei. Die Alliierten haben beide Ziele erreicht. Der Vertreter Moskaus unterzeichnete den Vertrag und die Sowjetunion ratifizierte ihn. Die sowjetische Führung nahm zugleich die damit verbundene finanzielle Unterstützung entgegen, die während der Verhandlungen für ihre Unterschrift und die Ratifizierung zugesagt worden war.“

Wer weiß, welche Entwicklungen die politischen Vertreter Russlands künftig werden akzeptieren müssen, sollte sich die freie Welt in ihrer aktuellen Auseinandersetzung mit dem Kreml durchsetzen. Ganz in diesem Sinne erklärte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk am 13 März in Washington: „Als wir Polen uns auf den Weg in den Westen machten, sagte Papst Johannes Paul II., dass es ohne ein unabhängiges Polen kein gerechtes Europa geben könne“. „Heute“, so Tusk, „würde ich sagen, dass es ohne ein starkes Polen kein sicheres Europa geben kann. Und natürlich würde ich auch sagen, dass es kein gerechtes Europa ohne eine freie und unabhängige Ukraine geben kann.“

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Westpreußen – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2024.

Glaube – Heimat – Verständigung

Zum Tod von Helmut Sauer

Am 10. Januar ist Helmut Sauer, langjähriger CDU-Bundestagsabgeordneter und Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen (BdV), im 79. Lebensjahr in Braunschweig verstorben. Das Licht der Welt erblickte er am Heiligabend 1945 im schlesischen Quickendorf (Kreis Frankenstein). Im April des Folgejahres wurden er und seine Familie – die Eltern und seine Schwester Renate – aus ihrer Heimat vertrieben. Dem Schulabschluss folgte eine kaufmännische Ausbildung in der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft in Salzgitter.

Insbesondere im politischen Ehrenamt blieb Sauer der Heimat seiner Familie und Geburt verbunden. Im Alter von nur 19 Jahren trat Sauer 1965 der CDU bei, deren Kreisvorsitzender er 1971 wurde. Bereits 1967 reiste er erstmals – gemeinsam mit dem Stadtjugendring Salzgitter – nach Schlesien. Dieser Reise sollten noch viele weitere in unterschiedlichen Funktionen folgen. Von den sich dabei zutragenden Begegnungen – sowohl mit Heimatverbliebenen als auch polnischen Gesprächspartnern – wusste er stets mit einer großen Begeisterung zu berichten. 1972 wurde Sauer – als zu diesem Zeitpunkt jüngster Abgeordneter – in den Deutschen Bundestag gewählt. Diesem sollte er bis 1994 angehören – 22 Jahre, in denen er sich nicht nur um die deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedler – dann Spätaussiedler –, sowie die Deutschen im östlichen Europa verdient machte, sondern ebenso um weitergehende Menschenrechtsfragen und die deutsch-polnischen Beziehungen. Über die Zeit als Parlamentarier hinaus war Sauer zudem bis 2017 Bundesvorsitzender der Ost- und Mitteldeutschen Vereinigung der CDU; das Amt hatte er seit 1989 inne.

Helmut Sauer, der 1982 zum Landesvorsitzenden der Landsmannschaft Schlesien in Niedersachsen gewählt worden war, amtierte zudem von 1984 bis 1992 und von 2000 bis 2014 als Vizepräsident des BdV. Zum Tod Sauers erklärte BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius: „Fast vier Jahrzehnte war Helmut Sauer nicht nur einer der wichtigsten Verantwortungsträger in unserem Verband, sondern auch Freund und Wegbegleiter sowie hochgeschätzter Mitstreiter in vielen unserer Anliegen.“ Sauer bleibe, so Fabritius, für alle Verantwortungsträger des BdV „in seiner Sachorientiertheit, seiner Menschlichkeit und seiner Motivation Vorbild und Antrieb zugleich“.

Zugleich erinnerte Fabritius an den engen Zusammenhang zwischen Sauers Heimatverbundenheit und seiner Religiosität: „Glaube und Heimat – so hat er es selbst immer wieder betont – waren wichtige Leitmotive seines Lebens. Im katholischen Glauben Schlesiens tief verwurzelt, hatte er sich eine gesunde Volksfrömmigkeit bewahrt.“ Eine zentrale Rolle kam dabei dem aus der mütterlichen Verwandtschaft stammenden katholischen Priester und Reichstagsabgeordneten der Zentrumspartei Carl Ulitzka zu, der ebenso in der Weimarer Republik für die Demokratie eintrat, wie er sich in der Zeit des Dritten Reichs gegen die nationalsozialistische Rassen- und Kirchenpolitik stellte. Man darf in Ulitzka wohl nicht umsonst ein Vorbild nicht nur für die dezidiert christliche, sondern zudem tiefst proeuropäische Orientierung Sauers sehen.

Der diesem Erbe entsprechende gesellschaftliche und politische Einsatz Sauers wurde auf vielfältige Weise gewürdigt: mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ebenso wie mit dem Schlesier-Kreuz der Landsmannschaft Schlesien sowie der Verdienstmedaille des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen. Mit der – aus tiefster Überzeugung erwachsenen – Verbindung von Heimatverbundenheit und Passion für die Völkerverständigung hat Helmut Sauer die Vertriebenen- sowie die deutsch-polnische Partnerschaftspolitik nachhaltig geprägt. Hier wie jenseits von Oder und Neiße wird man ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Westpreußen – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2024.

Erinnerung an einen Völkermord

Eine Installation der namibischen Künstlerin Isabel Tueumuna Katjavivi im Museum Neukölln

Tilman A. Fischer

Roter Sand bedeckt den Boden des Ausstellungsraumes im Museum Neukölln. Zum Teil verdeckt er die tönernen Gesichter, die aus ihm herausragen. Die Masken stehen sinnbildlich für die über 65.000 Todesopfer des ersten Völkermords des 20. Jahrhunderts: begangen 1904 bis 1908 durch das Deutsche Reich im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Geschaffen wurde die Installation „They Tried to Bury Us“ (dt. „Sie versuchten, uns zu begraben“) von Isabel Tueumuna Katjavivi.

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Erschienen in: Berliner Zeitung, Nr. 84, Donnerstag, 11. April 2024, Seite 11.

Zerreißproben

Eine Ausstellung ergründet die Gewaltgeschichte der Weimarer Republik

Tilman A. Fischer

„Am Anfang war Gewalt“ – unter diesen prägnanten Titel hatte 2017 der irische Historiker Mark Jones sein viel beachtetes Buch über die Gründungsgewalt gestellt, die den Übergang vom Kaiserreich zur ersten deutschen Demokratie begleitete. Hatte sich Jones in seiner Detailstudie der Monate um die Jahreswende 1918/1919 angenommen, bietet eine Sonderausstellung im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors nun Einblicke in die Gewaltgeschichte der ersten fünf Jahre der Weimarer Republik.

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In gekürzter Form erschienen in: Berliner Zeitung, Nr. 81, Montag, 8. April 2024, Seite 12 (Langfassung auf berliner-zeitung.de).

Antikoloniales im Berlin der Zwanziger

Eine Ausstellung der Villa Oppenheim

Tilman A. Fischer

Seit 2017 prägt die Netflix-Serie „Babylon Berlin“ wie kaum ein anderes Produkt der Populärkultur das Bild der deutschen Hauptstadt in den goldenen Zwanzigern. Dieses Bild freilich ist erstaunlich weiß, stellt man in Rechnung, dass Berlin schon damals eine von globaler Mobilität geprägte Weltstadt war und die Kapitale eines Landes, in dem Menschen lebten, die aus dessen gerade erst abgetretenen Kolonialgebieten stammten.

Dies mag an Leerstellen im kollektiven Gedächtnis erinnern, wie sie immer wieder – und zuletzt mit zunehmender Vehemenz – problematisiert werden. Einen wichtigen Beitrag dazu, diese Lücken zu schließen, leistet die Ausstellung „Solidarisiert euch! Schwarzer Widerstand und globaler Antikolonialismus in Berlin, 1919–1933“ im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim.

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Erschienen in: Berliner Zeitung, Nr. 37, Dienstag, 13. Februar 2024, Seite 11.

Religion und Mission in Taiwan

Zwischen Himmel und Meer: Eine Anthologie taiwanischer Literaturen erhellt die Rezeption des Christentums

Von Tilman Asmus Fischer

Die Präsidentschaftswahlen am 13. Januar lenken neuerlich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Taiwan – insbesondere aufgrund ihrer Implikationen für die globalen Spannungen zwischen den USA und der Volksrepublik China, der die Republik China (so der offizielle Name Taiwans) als ‚abtrünnige Provinz‘ gilt und die freiheitliche Demokratie auf der Insel ein Dorn im Auge ist. So gut und wichtig jede Aufmerksamkeit ist, die die bedrohte Lage Taiwans in der westlichen Welt findet: die Fokussierung auf die sicherheitspolitische Lage zeitigt die Nebenwirkung, dass Taiwan vor allem als geopolitische Größe in den Blick gerät. Reichtum und Vielfalt seines kulturellen Erbes geraten dabei weitestgehend aus dem Sichtfeld. Umso erfreulicher ist es, dass der Sinologe und Taiwanologe Thilo Diefenbach mit „Zwischen Himmel und Meer“ eine spannende „Anthologie taiwanischer Literaturen“ vorgelegt hat – und diese Ende 2023 auch noch mit dem renommierten Johann‐Friedrich‐von‐Cotta‐Übersetzungspreis der Landeshauptstadt Stuttgart ausgezeichnet wurde.

Zur kulturellen Vielfalt Taiwans – die Diefenbach von mündlichen Überlieferungen bis in der Gegenwartsprosa nachvollzieht – gehört auch diejenige der Religionen. Dabei kommt dem Christentum eine zwar zahlenmäßig geringe, jedoch historisch wie gegenwärtig eigenständige Bedeutung zu. Hiervon legte im Übrigen der Weltgebetstag 2023, dessen Gastgeberland Taiwan war, ein lebendiges Zeugnis ab. Und auch in Diefenbachs Anthologie ist das Christentum in einzelnen Texten präsent. Anhand von vier in diesem Zusammenhang besonders markanten Beiträge, die sämtlich aus dem 20. Jahrhundert stammen, sei hier die für den Zugriff Diefenbachs auf die taiwanischen Literaturen typische Perspektivenvielfalt nachvollzogen.

Sakura Magozo veröffentlichte 1903 als – dem klassischen Sinitisch mächtiger – japanischer Kolonialbeamter seine „Notizen über den Alltag in Taiwan“, aus denen Diefenbach den Auszug „Das Christentum in Taiwan“ auswählt. Interessant sind die kurzen Ausführungen weniger aufgrund der – wie Diefenbach in seinem Kommentar zeigt, vielfach fehlerhaften – Angaben zur Taiwanischen Missionsgeschichte, sondern als Zeugnis eines sich dem kolonialem Blickwinkel verschuldenden funktionalen Religionsverständnisses, das in Christentum und Buddhismus Instrumente zur „Volkserziehung“ erblickt. Einen Eindruck von der literarischen Rezeption der christlichen Religion in Taiwan vermitteln in je eigener Weise das anonym verfasste Gedichte „Ins Nichts“, das 1909 in den „Kirchennachrichten von Tainan“ erschien, sowie die Erzählung „Der Schamanin letzter Tag“ Topas Tamapima aus dem Jahre 1992.

Das Gedicht ist dabei sowohl von seinem Inhalt als auch von seiner textlichen Beschaffenheit her bedeutsam. In erster Hinsicht, insofern die in ihm vorgenommene Thematisierung der Nichtigkeit menschlichen Strebens eine markante Nähe zu alttestamentlichen Weisheitsliteratur aufweist und deren Einsichten religionsproduktiv fruchtbar macht. In zweiter Hinsicht, insofern das Gedicht in Pe̍h-ōe-jī überliefert ist, einem von Missionaren entwickelten lateinischen Umschriftsystems, das in diesem Fall auf das Taiwanesische Anwendung fand. Dieses ist eine vom Mandarin unterschiedene chinesische Sprache, die – neben den Sprachen der Ureinwohner – traditionell in Taiwan gesprochen wird. Damit ist das Gedicht ein Dokument der Wertschätzung, die gerade christliche Kirchen und Missionare den vielfältigen Sprachen der Insel entgegenbrachten. In der Zeit des „Weißen Terrors“ der Kuomintang (KMT), die die Republik China auf Taiwan von 1949 bis 1987 mit Kriegsrecht führte, sollte sich dies als wichtig erweisen: Während die Regierung (unterstützt von Vertretern der methodistischen Kirche, der Langzeit-Präsident Chiang Kai-shek angehörte) eine brutale Sinisierungspolitik durchführte und alles Nicht-Chinesische unterdrückte, waren es insbesondere einzelne Missionare und Kirchen, die sich für die Bewahrung der autochthonen Sprachen einsetzten.

Von der Präsenz der christlichen Religion gerade unter den indigenen Völkern Taiwans vermag sodann auch die Erzählung Tamapimas zu zeugen. Der Sohn einer christlichen Familie aus dem Volk der Bunun setzt seiner Protagonistin als Gegenspieler einen mit feinem – von Sympathie getragenen – Humor gezeichneten Priester gegenüber. Aus der engen Beziehung vieler Kirchen gerade zu den – von der KMT unterdrückten – autochthonen Bürgern Taiwans ergab sich nicht zuletzt eine intensive Verbindung zwischen christlichen Milieus und der Oppositionsbewegung. Und so mag es nicht Wunder tun, dass das systemkritische Gedicht „Friedenstheater“ (1968) mit Tu-P’an Fang-ko gerade von einer dezidiert christlichen Schriftstellerin Feministin verfasst wurde.

Anhand der hier exemplarisch ins Licht gesetzten Beiträge ist nicht nur Religion – von der hier mit dem Christentum nur ein kleiner Ausschnitt gewählt ist – als ein zentrales Thema der taiwanischen Literaturen markiert. Vielmehr dürfte ein weit darüber hinausgehendes zentrales Thema Diefenbachs angeklungen sei: das sich in der Literatur spiegelnde Ringen um eine eigenständige taiwanische Identität in der Pluralität der kulturellen Einflüsse und Sprachen, die die Insel prägten und prägen. Dies – in der Breite der Literaturgeschichte – nachvollzogen zu haben ist in Zeiten, in denen die Eigenständigkeit Taiwans ins gefährlicher Weise in Frage gestellt wird, von nicht zu unterschätzendem Wert.

Thilo Diefenbach (Hrsg.), Zwischen Himmel und Meer. Eine Anthologie taiwanischer Literaturen, München 2022. ISBN 978-3-86205-559-3, 548 Seiten, geb., 11 farbige Abb., EUR 48,–

Erschienen am 11. Januar 2024 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Eine Chance für Bildung und Verständigung

Die Union Evangelischen Kirchen plant die Rückkehr eines Kunstschatzes nach Danzig. Ein Gastkommentar

Von Tilman A. Fischer

Bereits seit Jahrzehnten zeigt das Lübecker Annen-Museum wechselnde Einzelstücke aus dem Danziger Paramentenschatz – kunsthistorisch bedeutende liturgische Gewänder aus vorreformatorischer Zeit, die sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Besitz der evangelischen Marienkirchengemeinde in Danzig befunden hatten. Deren letzter Pfarrer, Gerhard Gülzow, rettete die kostbaren Textilien vor der Kriegszerstörung. Deren einer Teil landete in Thüringen, von wo er bereits kurz nach dem Krieg nach Danzig verbracht wurde – freilich nicht in die Marienkirche, sondern rechtswidrig in den staatlichen Besitz des Nationalmuseums Danzig. Der andere Teil gelangte – ebenso wie übrigens viele vertriebene Danziger – nach Lübeck. Hier wird er im Annen-Museum als Leihgabe der Union Evangelischer Kirchen (UEK), der Rechtsnachfolgerin der Danziger Gemeinde, öffentlich präsentiert – ebenso wie Einzelstücke im Germanische Nationalmuseum in Nürnberg.

Am 8. Dezember 2022 teilte die UEK über eine Pressemitteilung mit, sich mit der heute katholischen Marienkirchengemeinde in Danzig in einem „Letter of Intent“ auf eine Rückkehr der Paramente an ihren Herkunftsort und in das Eigentum der katholischen Gemeinde verständigt zu haben – unter der Auflage einer adäquaten Präsentation sowie konservatorischen Betreuung und bei fortgesetzter Präsenz von Einzelstücken als Leihgaben in Lübeck und Nürnberg. Diese Entscheidung bietet eine große Bildungschance: Am historischen Ort kann ausgehend von dem Paramentenschatz die Bedeutung des gemeinsamen deutsch-polnischen Kulturerbes – sowie die gemeinsame bzw. geteilte Geschichte beider Nationen – der Öffentlichkeit sichtbar gemacht und erschlossen werden.

Überrascht von der Entscheidung wurden im vergangenen Jahr die noch lebenden Vertriebenen aus Danzig und dessen Umland – dem früheren Westpreußen – sowie ihre historisch interessierten Nachfahren, die von dieser Vereinbarung erst durch die Presse erfuhren. Umso erfreulicher war es, dass die UEK ein Jahr später, am 8. Dezember 2023, die Öffentlichkeit zu einer Informations- und Diskussionsveranstaltung ins Haus Hansestadt Danzig in Lübeck eingeladen hat. Hier kamen neben Mitgliedern des deutsch-polnischen Beirats, der die Rückkehr der Paramente begleitet, auch Vertreter der Vertriebenen und ihrer Nachfahren zu Wort. Aus deren Reihen wurden kritische Anfragen – teils auch eine klare Ablehnung des Vorhabens –, jedoch auch weiterführende Vorschläge formuliert wie die Schaffung einer europäischen Institution, die für Bewahrung und Präsentation der Paramente in Danzig verantwortlich sein solle.

Erfreulich klar bekannten sich sowohl der Prälat der Marienkirche, Ireneusz Bradtke, als auch der Danziger Kunsthistoriker Tomasz Torbus zur gemeinsamen deutsch-polnischen – mithin europäischen – Prägung der kulturellen Identität Danzigs. Der von deutscher Seite her den Beirat koordinierende Oberkirchenrat Martin Evang betonte in seinem Statement, dass die UEK seit jeher wiederholt erhobene Eigentumsansprüche des polnischen Staates auf Sakralkunst evangelischer Gemeinden aus den früheren, heute zu Polen gehörenden, Kirchenprovinzen stets abgelehnt habe. Die anvisierte Schenkung erfolge aus voller Freiheit – dies werde auch durch den zu unterzeichnenden Schenkungsvertrag nochmals festgeschrieben.

Der Autor dieses Beitrags selbst würdigte als Vertreter der Westpreußischen Gesellschaft die beabsichtigte Rückkehr der Paramente als Beitrag sowohl der deutsch-polnischen Verständigung im obigen Sinne als auch als einen solchen der Ökumene. Der Gesichtspunkt, dass die UEK ihr rechtmäßiges Eigentum aus freiem Willen schenke, sei dabei insofern bedeutsam, als diese Klarstellung davor bewahre, die Schenkung mit gegenwärtigen Diskurse um die Restitution von Raubkunst zu vermischen.

Zu hoffen ist, dass die Einbindung der Vertriebenen und ihrer Nachfahren auf dem weiteren Weg hin zur Rückkehr der Paramente fortgesetzt wird. Eine solche Einbindung ist theologisch gut begründet: zum einen als Ausdruck der seelsorgerlichen Verantwortung gegenüber den betroffenen Mitgliedern der UEK-Gliedkirchen, zum anderen vom Selbstverständnis einer Kirche her, die sich als zivilgesellschaftlicher Akteur im Austausch mit anderen Kräften der Zivilgesellschaft versteht. Sollte dem Rechnung getragen werden, besteht Aussicht, dass die Rückkehr der Paramente tatsächlich zu Verständigung und Versöhnung beiträgt.

Tilman Asmus Fischer ist Vorstandsbeauftragter der Westpreußischen Gesellschaft – Landsmannschaft Westpreußen e.V. Der evangelische Theologe ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig.

Unter ähnlichem Titel erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 2/2024. Eine Kurzfassung erschien in: Evangelisch Zeitung (Schleswig Holstein) 2/2024.

Stein gewordene Erinnerung

Westpreußische Denkmäler nach dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft – eine Spurensuche

„Und Jakob nahm einen Stein und richtete ihn auf als Denkmal.“ (Gen 31,45) Bereits das Alte Testament bezeugt das urmenschliche Bedürfnis, existenziellen Erlebnissen und Erfahrungen sichtbaren und dauerhaften Ausdruck zu verleihen, sie durch das Errichten von Gedenksteinen – später Denkmälern – in das Gesicht der Landschaft einzuschreiben. Im Moment erleben wir vielfältige Debatten um die symbolische Gestaltung des öffentlichen Raums in Form von Straßennamen oder Denkmälern. Solche Diskussionen, wie wir sie in freiheitlichen Demokratien führen, waren und sind in autoritären Systemen nicht möglich. In ihnen ist der öffentliche Raum den Narrativen der politischen Führung unterworfen. Dies galt auch für die Volksrepublik Polen – mit der Folge, dass in den historischen deutschen Ostgebieten Erinnerungen an die früheren Bewohner eliminiert, die verbliebene deutsche Bevölkerung mangels der Möglichkeit politischer Artikulation von der Gestaltung des öffentlichen Raums ausgeschlossen und ein sichtbares Gedenken an deutsche Kriegsopfer per se tabuisiert war.

Mit dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft fand nicht nur eine Demokratisierung des politischen Systems, sondern ebenso eine solche der Erinnerungskultur und des öffentlichen Raums statt. Bisher unterdrückte Positionen hatten die Möglichkeit, sich zu artikulieren. Was bedeutet dies für die Denkmal-Landschaft einer Region? Dies sei im Folgenden für das Land an der unteren Weichsel nachvollzogen. Hier kam es seit 1990 zu vielfältigen Initiativen, das deutsche Erbe als Teil gemeinsamer deutsch-polnischer Geschichte sowie das Schicksal der deutschen Vertreibungsopfer öffentlich bewusst zu machen. Initiatoren waren sowohl Angehörige der deutschen Volksgruppe und Heimatvertriebene als auch Kirchengemeinden oder weitere zivilgesellschaftliche und kommunale Akteure. Welche historischen Phänomene werden mit den von ihnen errichteten Denkmälern auf welche Weise thematisch? Und welche gestalterischen Akzente setzen die unterschiedlichen Denkmäler?

Für eine Spurensuche bietet sich der von Gisela Borchers erstellte und 2013 von der Landsmannschaft Westpreußen herausgegebene Katalog „Erinnerungsstätten in Westpreußen“ als Ausgangspunkt an. Auch wenn diese Zusammenschau – schon ob der Tatsache, dass sie vor zehn Jahren erschienen ist – keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, vermag sie doch eine grundlegende Orientierung zu geben über die Entwicklungen der westpreußischen Denkmal-Landschaft nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Versucht man, aus den zusammengetragenen 134 Erinnerungsstätten eine Typologie westpreußischer Denkmäler zu entwickeln, ergeben sich auf den ersten Blick zwei große Kategorien: Es sind dies zunächst Denkmäler, die sich auf die Geschichte der Region vor Flucht und Vertreibung beziehen, und sodann solche, die ebendiese im Rahmen des Zweiten Weltkriegs thematisieren.

Verschwundene Friedhöfe

Die bedeutendste Gruppe der auf die Geschichte Westpreußens bezogenen Denkmäler bilden Gedenksteine und Erinnerungstafeln für frühere städtische sowie evangelische, katholische, mennonitische und jüdische Friedhöfe (im Einzelfall auch von Familiengräbern) bzw. zur Erinnerung an die deutsche Vorgeschichte von Friedhöfen, die heute noch bestehen. Diese Dominanz verwundert nicht – stellt das Grabmal selbst bereits eine der ältesten und in unterschiedlichen Kulturen verbreitete Form des Denkmals und des Personengedächtnisses dar. Die an zerstörte Friedhöfe erinnernden Gedenksteine greifen naheliegenderweise die Form von Grabsteinen auf – in der Regel dürften sie wohl auch von ortsansässigen Steinmetzen gefertigt worden sein. Dies gilt auch für die Gestaltung von Gedenksteinen, die – wie in Graudenz oder Marienburg – an mehrere Friedhöfe einer Gebietskörperschaft oder im ländlichen Raum vielfach an sämtliche Friedhöfe eines Kirchspiels erinnern. Dementsprechend wurde auch von der Deutschen Minderheit auf dem Garnisonsfriedhof am Hagelsberg ein Gedenkstein errichtet, und zwar im Jahre  2001, d.h. nur ein Jahr bevor der seitens der Stadt geschaffene „Friedhof der nicht existierenden Friedhöfe“ entstand. Dieser stellt – so die offizielle Interpretation durch die Stadt Danzig – eine „Form der Wiedergutmachung für die Verwüstung und Auflösung der ehemaligen Danziger Friedhöfe nach dem Krieg“ dar, „eine Form der Erinnerung an alle die, die keine Gräber bzw. keinen Grabstein mehr haben“ – wobei dezidiert die religiöse Dimension des Totengedächtnisses akzentuiert wird:

„Neben den sich dort befindlichen original Grabplatten von aufgelösten Friedhöfen, befindet sich dort an zentraler Stelle ein ‚Altar‘ mit der Inschrift ‚Denen, die keine Namen haben‘. Er ragt aus den Trümmern zerbrochener Grabplatten empor, die Embleme verschiedener, im alten (wie auch im heutigen) Danzig vertretener Religionsgemeinschaften tragen.“ (gdansk.pl)

Die Gestaltung des „Altars“ verwendet dabei eine spezifische Motivik, die nicht nur der Bruchstückhaftigkeit des sie umgebenden Lapidariums entspricht, sondern die sich zugleich als theologische Aussage über den unvollständig-fragmentarischen Charakter der menschlichen Existenz lesen lässt. Kann dieses Moment als anthropologische Konstante in der Lebensgeschichte und Identität jedes Menschen aufgefunden werden, so tritt sie doch in den Schicksalen, die sich mit Krieg und Vertreibung verbinden, in besonderer Weise hervor. Insofern funktioniert das Denkmal nicht nur als Verweis auf die verlorenen Friedhöfe, sondern eröffnet zugleich eine Bildsprache, die von den Angehörigen der dort Bestatteten zu Erfahrungen aus der eigenen Lebens- oder Familiengeschichte in Beziehung gesetzt werden kann. Auch in Elbing wurden überkommene Grabsteine zerstörter Friedhöfe in vergleichbarer Weise in einem Lapidarium zusammengetragen.

Anwesenheit des Abwesenden

Von den der (zumeist christlich konnotierten) Sepulkralkultur eng verbundenen Erinnerungsformen an verschwundene Friedhöfe und die dort Begrabenen lassen sich Linien ziehen zu den weiteren Typen von Denkmälern, die wir hier betrachten wollen. Dies betrifft zum einen das Bedürfnis, an nicht mehr existente historische Gebäude und die mit ihnen verbundenen Menschen zu erinnern. Auch hier werden zumeist Gedenksteine aufgestellt, um auf Abwesendes zu verweisen, es in der Betonung seiner Abwesenheit wieder anwesend zu machen. Auffällig ist, dass es sich hierbei vor allem um Kirchen handelt und somit, wie bei den Friedhöfen, abermals um religiöse Erinnerungsorte; im Falle der Kirchen um solche, mit denen sich nicht nur die Feste des Jahreskreises bzw. Kirchenjahres, sondern ebenso biographische Passagenriten (Taufe, Kommunion bzw. Konfirmation, Trauung und ggf. Trauerfeiern) verbinden. Ästhetisch interessant ist die Gestaltung eines Gedenksteins für die 1967 abgerissene evangelische Kirche in Heidemühl (Kreis Konitz). Dieser besteht nicht aus bearbeitetem Naturstein, sondern stellt das Imitat einer Gemäuerruine dar, in die ein einzelner Stein des ursprünglichen Gebäudes als Relikt bewahrt bleibt. Damit wird in besonderer Weise sowohl das Verlorene symbolisch vergegenwärtigt als auch – ähnlich wie im Falle des „Friedhofs der nicht existierenden Friedhöfe“ – auf das Fragmentarische der menschlichen bzw. historischen Existenz verwiesen. In diesen Zusammenhang gehören im Übrigen Erinnerungstafeln, die an entwidmeten oder anderen Konfessionen übertragenen Kirchengebäuden auf die ursprünglich dort ansässige Gemeinde verweisen, wie etwa auf den Sitz des ersten Betsaals der Mennonitengemeinde in Elbing.

Andere Gedenktafeln erinnern an Institutionen, die zwar nicht von religiöser, jedoch von allgemein lebensweltlicher oder biographischer Bedeutung waren: Dies gilt für die frühere Wache der Elbinger Berufsfeuerwehr, auf die in der Hindenburgstraße ein klassischer Gedenkstein verweist, ebenso wie für Schulen. So macht an der Henryk-Sienkiewicz-Schule in Marienburg eine Tafel deren Geschichte als Luisenschule bis 1945 kenntlich. Dass Denkmäler nicht nur mit Verlust in Verbindung stehen, sondern sich auch der Motivation verdanken, kulturelle Traditionen einer gesellschaftlichen Gruppe wie der deutschen Minderheit öffentlich zu exponieren, zeigt ein Beispiel aus Rehdorf (Kreis Stuhm): Hier erinnert ein von der Deutschen Minderheit Stuhm-Christburg gestifteter Naturstein mit Metalltafel an den dort bis Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden „Hammerkrug“ , eine Schmiede mit Wirtshaus. Ergänzen ließe sich hier noch eine Reihe von Gedenksteinen und -tafeln, die an Geburts- und Wohnhäusern auf Persönlichkeiten von lokalhistorischer bzw. regionalhistorischer wie zeitgeschichtlicher und überregionaler Bedeutung hinweisen. Auch diese erfüllen die Funktion, bis zum Ende der kommunistischen Diktatur bestehende Lücken in der Erinnerungslandschaft zu schließen.

Erinnerung an Krieg und Vertreibung

Eine Zwitterposition zwischen den beiden Kategorien der kulturhistorischen Denkmäler und jener, die Flucht und Vertreibung sowie den Zweiten Weltkrieg als ihren Kontext thematisieren, nehmen wiederhergestellte und neu errichtete Kriegerdenkmäler bzw. Gedenksteine für Gefallene des Krieges 1870/71 sowie des Ersten Weltkrieges ein, insofern sie einerseits die Geschichte Westpreußens vor der Vertreibung dokumentieren, andererseits jedoch Gestaltungsformen prägen, die nach 1945 aufgegriffen werden. Dabei knüpfen auch sie sämtlich an den Archetypus des Grabmals an. Zu einer gewissen einheitlichen Anmutung der Denkmäler für Gefallene verschiedener Epochen trägt zudem der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei, der etwa in Danzig auf dem Hagelsberg um das Jahr 2000 sowohl die Grabstätte deutscher Soldaten aus dem deutsch-französischen Krieg als auch diejenige der Gefallenen des Ersten Weltkrieges in schlichter moderner Gestalt wiederherstellte. Der Krieger-Gedenkstein aus dem Ersten Weltkrieg in Baumgarth (Kreis Stuhm)  wiederum wurde gemäß dem historischen Vorbild und somit in traditioneller Gestalt auf Initiative von Heimatkreis und deutscher Minderheit rekonstruiert. Gemeinsam ist sämtlichen Kriegerdenkmälern die Gestaltung in strengen Formen und zumeist in Schwarz- wie Grautönen.

An die moderne und schlichte Gestalt der älteren Kriegerdenkmäler auf dem Hagelsberg kann die dortige – gleichfalls vom Volksbund errichtete – Grablege für deutsche Gefallene des Zweiten Weltkriegs anknüpfen. Sie wird durch ein Totenbuch ergänzt, das den dort erinnerten Schicksalen Namen gibt. Weniger standardisiert sind die teils aus privater Initiative entstandenen Denkmäler, die sowohl an die Opfer des Nationalsozialismus als auch an die Opfer von Flucht und Vertreibung erinnern. Ein Alleinstellungsmerkmal kommt dem [bekannten] Denkmal zur Erinnerung an die Eisenbahntransporte jüdischer Kinder aus der Freien Stadt Danzig nach England 1938/1939 auf dem Vorplatz des Danziger Hauptbahnhofs zu, insofern es plastisch die Betroffenen – Kinder am Bahnsteig – als Gerettete zeigt. Besondere Erwähnung verdient zudem ein Gedenkstein aus dem Jahr 1996 in Tiegenhof (Kreis Großes Werder), der mit der zweisprachigen Beschriftung „Gedenket der Toten – Frieden dieser Stadt“ und mithin ohne eine differenzierende Benennung einzelner Opfergruppen des Krieges auskommt. Andere Denkmäler hingegen konkretisieren sehr detailliert die Personen und Ereignisse, auf die sie Bezug nehmen. So heißt es etwa auf einer 1999 von der Truso-Vereinigung an der Dorfkirche Lenzen (Kreis Elbing) installierten zweisprachigen Erinnerungstafel: „An die bei Kriegsende 1945 in Lenzen ermordeten und an den Folgen des Krieges gestorbenen und gefallenen 286 Dorfbewohnern und den in Lenzen erschossenen deutschen Soldaten“.

Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, wie sich die westpreußische Denkmal-Landschaft im Zeitraum einer Generation pluralisiert hat. Dabei sind die oft von deutschen und polnischen Initiatoren gewählten Themen und Gestaltungsformen nicht zuletzt auch ein Zeugnis der grenzüberschreitenden Verständigung. Inzwischen finden sich sogar auch solche Denkmäler, die auf wichtige Akteure ebendieses Verständigungs- und Versöhnungsprozesses selbst verweisen. So erinnert in Elbing etwa am ehemaligen Gymnasium eine Gedenktafel an den Publizisten Erich Brost als einen „Mann der deutsch-polnischen Verständigung – geboren in Elbing“. Insofern Verständigung immer weiter gemeinsamer Anstrengungen bedarf, dürfte das gleiche auch für die Aushandlungsprozesse um die erinnerungskulturelle Gestaltung des öffentlichen Raums im historischen Westpreußen gelten. Ihre weitere Entwicklung gilt es mit Interesse abzuwarten.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.