„Er ist Schwabe geblieben“

Albrecht Goes war ein Freund des Judentums und Dichter. Ein neues Buch begibt sich auf Spurensuche nach diesem Autor, der sein Leben zwischen Musik, Dichtung, Politik und Theologie verortete

In seinem jüngsten Buch „Was geschieht, geht Dich an! Annäherung an Albrecht Goes (1908–2000)“ nähert sich der Publizist Jürgen Israel Albrecht Goes. Der evangelische Theologe war Pfarrer in Württemberg, wurde einer größeren deutschen Öffentlichkeit aber vor allem als Schriftsteller bekannt, insbesondere durch seine Erzählungen, die den Zweiten Weltkrieg und die Shoa thematisierten. Über die bleibende Bedeutung der Botschaft seines Werks sprach sprach Tilman Asmus Fischer im Interview mit Jürgen Israel.

Albrecht Goes schreibt 1958 in einem Gedicht, dass zwei Fragen bei der Betrachtung von Werdegängen Gewicht hätten – eine lautet: „wie kühn spannt sich der Bogen, / wie weit voneinander entfernt / werden in der Werdelust der Lehr- und Wanderjahre / die Pflöcke gesetzt.“ Wie weit war der Lebensbogen Albrecht Goes’ gespannt?

Nicht weit. Er wurde 1908 in Langenbeutingen in eine schwäbischen Theologenfamilie hineingeboren, er selbst ist Theologe geworden und geblieben. Nachdem er sich 1953 vom Gemeindepfarramt hatte freistellen lassen, um hauptberuflich als Schriftsteller zu arbeiten, versah er weiterhin einen Predigtauftrag in Stuttgart. Und er ist Schwabe geblieben.

Was bedeutet das Schwäbische in diesem Kontext?

Schwäbisch meint hier nichts Provinzielles, sondern zum einen die Lebensfreude und Heiterkeit der Schwaben. Goes hat viele Bücher über Schwaben geschrieben und er hat sich in der schwäbischen Sprache ausgesprochen wohlgefühlt. Zum anderen aber hat er immer die Welthaltigkeit der schwäbischen Literatur und des schwäbischen Lebens überhaupt betont: Die Dichtungen von Möricke und Hölderlin hatten für ihn nichts Lieblich-Verklärtes, sondern eine existenzielle Dimension.

Diese zunehmende Distanz zu einer lieblichen oder beschaulichen Sprache bezeichnen Sie als „Entwicklung zum Spröden“. Worin liegen deren Ursachen?

Das Spröde kommt bei Goes durch die schreckliche Erfahrung der Shoa und des Zweiten Weltkriegs. Er hat in einem späten Interview den schwäbischen Ausdruck gebraucht, unser Humanismus hätte einen „Treff bekommen“: Der deutsche Humanismus Goethes bis Mörickes hat beide Verbrechen nicht verhindern können; in Deutschland und eben auch in Schwaben hat es keine Gegenkraft gegeben, diese zu verhindern. Durch diese Erfahrung ist sein ganzes Weltbild spröder geworden – und auch seine Sprache.

Wie ist diese Erfahrung in seiner Biografie zu verorten?

Goes war während des Zweiten Weltkriegs Wehrmachtspfarrer in Ungarn und – am prägendsten – in der Ukraine. Einige seiner Novellen spielen in der Ukraine. Er hat aber seine erste Novelle zur Judenverfolgung einem Erlebnis in Ungarn gewidmet. Mit dieser Erzählung „Begegnung in Ungarn“ war Goes 1945 der erste nichtjüdische deutschsprachige Dichter, der sich belletristisch mit der Judenverfolgung auseinandergesetzt hat. Goes war als Humanist entsetzt, dass eine solche Barbarei losbrechen kann und über völlig unschuldige Menschen verfügt wird. Und diese ganze Hilflosigkeit wird in der kleinen Erzählung sichtbar.

Welche Bezüge zum Judentum finden sich über das Erschrecken angesichts der Shoa in Goes‘ Leben?

Er war von Anfang an durch den – politisch für die Liberalen engagierten – Vater geprägt gegen Rassismus, die antisemitisch motivierte Ermordung des Reichsaußenministers Rathenaus hat ihn als Gymnasiasten zutiefst erschüttert. In Berlin studierte er bei Romano Guardini, dessen Theologie ihn zusätzlich gegen den Antisemitismus immunisierte, stand sie doch im Zeichen der Formulierung Pascals: „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen“. Als junger Pfarrer nahm er – kurz vor dessen Vertreibung aus Deutschland – Kontakt mit dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber auf, mit dem ihn seit den 1950er Jahren eine enge Freundschaft verband.

Buber hat sich in seiner „Dialogphilosophie“ intensiv mit der Beziehung vom Ich und Du als Grundlage des Menschseins auseinandergesetzt. Welchen Einfluss hatte dies auf Goes‘ Denken?

Das dialogische Prinzip von Buber hatte er absolut verinnerlicht und bejaht: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Er kannte die „Zwiesprache“ fast auswendig und hat stets betont: Gespräche über jemanden nützen nichts, denn es gibt nur Gespräche mit jemandem. Mit ihm gab es die Möglichkeit eines echten Zwiegesprächs – am liebsten beim Wandern. Zu den Dingen, die er für unverzichtbar hielt, gehörten – neben Mozart – die Freundschaft und ein „feines, kluges Nachtgespräch“, wie Goes einmal über sich schrieb.

Die Beschwörung von Freundschaft und Nachtgespräch klingt freilich angesichts der weltgeschichtlichen Verwerfungen, die Goes ja im Blick hatte, ein wenig passiv.

Zum aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus gehörte Goes tatsächlich nicht. Politisch engagierte er sich erst in der Bundesrepublik: gegen Wiederbewaffnung und Atomwaffen. Aber das dialogische Prinzip steht hinter dem ethischen Programm seines Denkens und seiner Dichtung: „Was geschieht, geht Dich an!“ Was dem Nächsten passiert, passiert mir und ich kann mich nicht aus der Verantwortung für meinen Mitmenschen stehlen. Das ist eine mitmenschliche Haltung, in der sich eine christliche Verantwortung für den Nächsten ausspricht.

Zum Weiterlesen: Jürgen Israel, Was geschieht, geht Dich an! Annäherung an Albrecht Goes (1908–2000), AphorismA Verlag, Berlin 2023, 180 Seiten, 20 Euro. Erzählungen, Gedichte und Essays von Albrecht Goes sind erschienen im S. Fischer Verlag.

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 19/2024.

Katholische Selbstexegese

Die Autorin Felicitas Hoppe erhielt den Berliner Literaturpreis für ihre „Sprachkunst“, die „federleichten Humor mit tiefstem Ernst“ verbindet

Von Tilman A. Fischer

„Ich komme aus einer katholischen Familie von Tag- und Nachtträumern, von schlesischen Vielrednern auf der Flucht, die auch ihre Träume einander nicht vorenthielten; Träume, von denen ich bis heute nicht weiß, ob sie wahr oder erfunden waren, sofern man überhaupt von erfundenen Träumen sprechen kann. Denn wo, wenn nicht im Traum, sind wir der Wahrheit am nächsten?“ Mit diesen Worten stellt sich die 1960 in der katholischen Diaspora in Hameln geborene Schriftstellerin Felicitas Hoppe in ihrem Essay „Das aufgespannte Ohr Gottes“ ihren Lesern vor. Seit Erscheinen der ersten Sammlung von Geschichten Hoppes unter dem Titel „Picknick der Friseure“ 1996 ist sie aus dem deutschen Literaturbetrieb nicht mehr wegzudenken – ganz unabhängig davon, dass sie sich immer wieder aus der hiesigen Betriebsamkeit zurückzieht: in ihre Schweizer Einsiedelei oder 1997 gleich auf ein Frachtschiff, auf dem sie rund um die Welt fuhr.

In den zurückliegenden fast 30 Jahren hat Hoppe eine derartige Prägekraft entwickelt, dass ihr – nachdem sie bereits 2012 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde – heuer der Berliner Literaturpreis zuerkannt wurde, mit dem die Stiftung Preußische Seehandlung dezidiert Schriftsteller ehrt, „deren bisheriges literarisches Schaffen einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur geleistet hat“. Dies begründet die Jury mit Hoppes „Sprachkunst“, die „federleichten Humor mit tiefstem Ernst“ verbinde, „wilde Fabulierlust mit scheuem Interesse an einer Welt, die es mit den Menschen häufig nicht gut meint. Am Zustand der Wirklichkeit kann auch Felicitas Hoppes erfindungsreicher Realismus nichts ändern. Der Zauber ihrer Erzählungen aber liegt darin, dass sie uns mit dem Schwung ihrer Texte, dem Takt ihrer Sprache und der Energie ihrer Worte dazu ermuntert, den Mut und die Zuversicht nicht zu verlieren.“

Hierzu schöpft Felicitas Hoppe nicht zuletzt aus den reichen Beständen der christlichen – und bewusst auch katholischen – Tradition, der sie gleichfalls in der ihr typischen Verbindung aus ‚federleichtem Humor‘ und ‚tiefstem Ernst‘ begegnet. Das zeigt sich neben zahlreichen Auseinandersetzungen mit biblischen Stoffen vielleicht vor allem im Umgang mit den ihr besonders lieben Heiligen: Christophorus und noch mehr der Jungfrau von Orléans, der sie 2006 den Roman „Johanna“ widmete. Im Modus literarischen Schreibens vermag Hoppe immer wieder die Grenzen theologischer Orthodoxie zu überschreiten. Dies tut sie jedoch in einer großen Ernsthaftigkeit, insofern diesen Grenzüberschreitungen nichts Blasphemisches anhaftet. Vielmehr bezeugen sie das Bewusstsein sowohl für das Potenzial christlicher Glaubens- und Bildwelten zur Selbst- und Lebensdeutung als auch für die hohe Verantwortung des Schriftstellers im Umgang mit ihnen.

Dabei ist der Rückgriff auf einen christlichen Deutungshorizont kein beliebiger, sondern gründet in biographischen Erfahrungen, auf die Hoppe selbst immer wieder verweist, etwa wenn es um prägende erste Begegnungen mit der Heiligen Schrift geht: „Unsere Mutter las vor, wir zeichneten mit, während unser Vater für das Kaspertheater zuständig war, in dem Texte und Bilder in Szene gesetzt wurden“. Solche Erinnerungen sind nicht akzidentell, sondern entscheidend für Hoppes Zugriff sowohl auf Literatur als auch Religion, denn ihre „ersten Erinnerungen an die Bibel“ sind „eine unmittelbare, intuitive und unzensierte Umsetzung vom Wort in die Zeichnung, also wahrhaft phantastisch, was, der bildungssprachlichen Definition aus dem Duden folgend, bedeutet: ‚Von Illusionen, unerfüllbaren Wunschbildern, oft unklaren Vorstellungen oder Gedanken beherrscht, außerhalb der Wirklichkeit oder im Widerspruch zu ihr stehend‘; die Umgangssprache dagegen kommt den Tatsachen näher, wenn sie das Phantastische mit ‚großartig, begeisternd, unglaublich und ungeheuerlich‘ übersetzt. Von diesen großartigen, begeisternden, unglaublichen und ungeheuerlichen Geschichten ernähre ich mich in meinem Umgang mit Religion und Literatur bis heute.“

So intensiv wie bei nur wenigen anderen zeitgenössischen Schriftstellern bestätigt sich im Werk von Felicitas Hoppe somit die Beobachtung des Literaturwissenschaftlers Thomas Pittrof zum ‚Katholischen‘ in der Gegenwartsliteratur – die grundsätzlich auch für das ‚Christliche‘ in der Gegenwartsliteratur Geltung beanspruchen kann: „Vor allem in autobiographischen Zeugnissen wird das Katholische wieder erinnert, auch an überraschender Stelle, ohne dass es damit eigentlich immer bewahrt und weitergetragen werden wollte; aber als prägender Faktor des eigenen Lebensgangs ist es in wenngleich unterschiedlicher Intensität doch gegenwärtig“. Damit stehe dem „Prägnanzverlust eines ungebrochen katholischen Weltbildes“ ein „Prägnanzgewinn lebensweltlich dichter Milieubeschreibungen gegenüber, bei denen neben den belastenden Erfahrungen mit Religion im Umfeld einer katholischen Kindheit und Jugend auch deren entlastende und bereichernde Dimensionen zur Sprache kommen“. Als Beispiel für letzte Beobachtung mag Hoppen bereits eingangs zitierter Essay gelten, in dem sie sich mit ihrem eigenen Beichtgang vor der Frühkommunion auseinandersetzt.

Hoppes Werke sind insofern zugleich große Literatur und Gesprächspartner zur Fragen nach der gelebten Religion in der Gegenwart; dabei seien beide Merkmale als einander bedingend verstanden. In ihrem Œuvre verbindet sich – wie der Religionsphilosoph Thomas Brose in seinem Essay zu einem Sammelband von Texten Hoppes betont – das „Lebensweltlich-Katholische […] mit dem Hang zur Selbstexegese“ sowie einem „Spieltrieb“, der auch vor biblischen wie christentumsgeschichtlichen und theologischen Motiven nicht Halt macht.  Insofern lädt die Auseinandersetzung mit Hoppe zu Reflexionen über theologisch relevante Prozesse der Selbstdeutung im Modus der Literatur ein und eröffnet ferner (teils überraschende und gerade dann) anregende Perspektiven auf die christlichen Traditionsbestände.

Leser und Autor sind für Hoppe auf Religion und Literatur angewiesen, um sich selbst verstehen zu können und Lebenszuversicht zu gewinnen. Nicht umsonst stellt sie ihrem jüngsten Roman „Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm“ (2022) als Motto voran: „Nur Helden fürchten sich nie, deshalb schreiben sie keine Bücher“. Welch ein Glück für uns, ihre Leser, dass Felicitas Hoppe keine Heldin ist und folglich Bücher schreibt!

Zum Weiterlesen (von Felicitas Hoppe):
Gedankenspiele über die Sehnsucht, Graz 2022; 48 Seiten, ISBN 9783990591093, € 12,00.
Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm, Frankfurt a.M. 2021; 256 Seiten, ISBN 9783100324580, € 22,00.
Fährmann, hol über! Oder wie man das Johannesevangelium pfeift. Mit einem Essay von Thomas Brose, Freiburg i.Br. 2021; 160 Seiten, ISBN 9783451390388, € 18,00. (Enthält u. a. „Das aufgespannte Ohr Gottes“.)

In ähnlicher Form und unter anderem Titel erschienen am 14. März 2024 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Rheinische Erlösung

Vor 65 Jahren erschien Zuckmayers „Fastnachtsbeichte“

Von Tilman Asmus Fischer

Ferdinand Bäumler, ein desertierter Fremdenlegionär, ist zur Jahreswende 1912/1913 auf dem Weg über Italien ins heimische Rheinland, wo er einst als unehelicher Sohn des reichen Panezza und der Hilfsmagd Bäumler geboren wurde. In Sizilien kehrt er – unter der Vortäuschung, sein Halbbruder Jeanmarie zu sein – bei der vermögenden italienischen Verwandtschaft ein, verlobt sich mit seiner Cousine Viola, um kurzerhand gen Mainz zu verschwinden, nicht ohne zuvor den wertvollen Familienschmuck an sich genommen zu haben. Viola reist ihm verstört hinterher, wiederum begleitet von ihrem Halbbruder Lolfo, seinerseits das Kind aus einer Affäre des gemeinsamen Vaters mit einem Dorfmädchen. In Mainz angekommen erkennt Lolfo den Betrüger wieder, den er vor dem Dom ermordet, in dessen Beichtstuhl der Sterbende zusammenbricht.

An dieser Stelle beginnt die eigentliche Handlung der „Fastnachtsbeichte“ von Carl Zuckmayer. 1959 erschienen und vom Dichter im Mainz seiner eigenen Jugendzeit lokalisiert, ist die Erzählung ein Stück Literatur, das auch nach 65 Jahren nicht an Bedeutung verloren hat, da sie – mehr als nur eine Kriminalgeschichte, die sich vom Tode Ferdinands aus entspinnt – in zeitloser Weise vom Wesen des Menschen und seiner Erlösungsbedürftigkeit spricht. Dies geschieht zum einen in einer karnevalesken Szenerie – die erzählte Zeit reicht vom Fastnachtssamstag bis zum frühen Morgen des Aschermittwoch 1913 –, zum anderen gerahmt und durchzogen vom Moment der Beichte: derjenigen Ferdinands, derjenigen des alten Panezza und derjenigen Violas. Damit bringt Zuckmayer zwei idealtypische Orte – den des Maskenspiels und den der schonungslosen Selbsterkenntnis – in eine produktive Spannung.

Dabei haben wir es in der „Fastnachtsbeichte“ mit einem Maskenspiel auf mehreren Ebenen zu tun. Denn da ist nicht nur auf der Oberfläche das karnevalistische Brauchtum, das – wo recht verstanden – Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach einer Überschreitung, also gewissermaßen einer Transzendierung, der Wirklichkeit ist. Und genau besehen beginnt es auch nicht erst bei dem bereits deutlich problematischeren, da mit betrügerischer Intention geschehenen, Rollenspiel Ferdinands, das den Anlass für die Handlung der Erzählung gibt. Dessen Ursachen liegen bereits in einem Maskenspiel, nämlich dem des alten Panezza, der seinem unehelichen Sohn wirkliche Anerkennung verwehrt und ihn damit letztlich in das prekäre Dasein als Fremdenlegionär treibt, nur um unbeschadet weiter die eigene soziale Rolle als Mitglied der lokalen Honoratiorenschaft spielen zu können.

Dem Maskenspiel im wörtlichen wie metaphorischen Sinne steht der Beichtstuhl bzw. das Beichtgespräch gegenüber, das „aufgespannte Ohr Gottes“, so die Schriftstellerin Felicitas Hoppe: nicht nur ein „Ort der Barmherzigkeit“, sondern auch ein solcher, „für das eigene Leben Wörter zu finden“. Hier – bei Zuckmayer im Gegenüber zum Domkapitular Dr. Henrici – wird der Mensch seiner selbst in seiner Fragmentarität ansichtig: „Ich armer sündiger Mensch“ sind die einzigen Worte, die Ferdinand im Beichtstuhl noch sprechen kann, und im Rückblick ist es Henrici, „als hätte er ihm damit sein Letztes und Geheimstes offenbart und sich ihm ganz anvertraut – sich und alle seine Brüder“. Narrativ ausgestalteter sind die beiden anderen Beichten.

Zu einer solchen wird das Gespräch Henricis mit Panezza, obwohl dieser bittet, dass „es ohne die religiöse Formel geschieht“, weil es ihm eben doch „um eine Gewissensfrage“ geht, „von der meine ganze Existenz abhängt“. Hier bietet der Erzähler einen Dialog, in dem die menschliche Person in einer inneren Spannung sichtbar wird, die bereits im griechischen „prosopon“ anklingt, dessen Bedeutung zwischen Angesicht und Maske changiert. So fragt Panezza, der sinnhafterweise den Prinzen Karneval der Kampagne 1913 mimt: „Kann ich noch weiterhin den Ehrenmann spielen, den Repräsentanten einer moralisch unantastbaren Gesellschaft, den Fürsten des lokalen Frohsinns, den König der Volksfeste, der erlaubten und honorigen Lustbarkeit – mit einem solchen Brandgeschwür am Leib?“

Bei Violas Beichte liegt die theologische Pointe wiederum darin, dass sie auf einen von Jürgen Habermas identifizierten „Verlust“ infolge einer „säkularen Sprache“ aufmerksam macht, die ohne „geglückte Übersetzungen“ religiöser Gehalte auskommen will: „Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“ Während auf der Ebene der Kriminalgeschichte der Fall geklärt ist, indem Lolfo – inzwischen selbst auf tragische wie brutale Weise ums Leben gekommen – als Schuldiger identifiziert wurde, liegt Violas dringend benötigtes Geständnis auf einer tieferen Ebene: „Ich habe ihn nicht getötet […] aber ich habe es gewollt!“ Sie kann bekennen, dieses Wollen niemals Lolfo bekundet zu haben: „,Mit keinem Wort‘, sagte Viola, ,mit keiner Silbe. Aber – ich habe es gedacht.‘ Gedacht – ging es Henrici durch den Sinn, während er versuchte, mit den Worten seines Glaubens ihr Zuspruch und Trost zu geben – gedacht – Wurzel aller Schuld…“

Zuckmayer zeichnet den Menschen coram Deo als Person – zwischen Angesicht und Maske: gezwungen, in der unerlösten Welt, im menschlichen Miteinander Rollen zu spielen, Masken zu tragen, begabt, im Maskenspiel ebendiese Wirklichkeit zu überschreiten; in beidem aber stets gefährdet, die Maske zu missbrauchen, sein Selbst, sein Angesicht vor sich selbst, vor dem Mitmenschen und vor Gott, zu beschädigen. Und eben damit: immer wieder bedürftig der Beichte, dem „Ort, für das eigene Leben Wörter zu finden“, der dann zum „Ort der Barmherzigkeit“ und der Umkehr werden kann.

Erschienen am 8. Februar 2024 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Stein gewordene Erinnerung

Westpreußische Denkmäler nach dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft – eine Spurensuche

„Und Jakob nahm einen Stein und richtete ihn auf als Denkmal.“ (Gen 31,45) Bereits das Alte Testament bezeugt das urmenschliche Bedürfnis, existenziellen Erlebnissen und Erfahrungen sichtbaren und dauerhaften Ausdruck zu verleihen, sie durch das Errichten von Gedenksteinen – später Denkmälern – in das Gesicht der Landschaft einzuschreiben. Im Moment erleben wir vielfältige Debatten um die symbolische Gestaltung des öffentlichen Raums in Form von Straßennamen oder Denkmälern. Solche Diskussionen, wie wir sie in freiheitlichen Demokratien führen, waren und sind in autoritären Systemen nicht möglich. In ihnen ist der öffentliche Raum den Narrativen der politischen Führung unterworfen. Dies galt auch für die Volksrepublik Polen – mit der Folge, dass in den historischen deutschen Ostgebieten Erinnerungen an die früheren Bewohner eliminiert, die verbliebene deutsche Bevölkerung mangels der Möglichkeit politischer Artikulation von der Gestaltung des öffentlichen Raums ausgeschlossen und ein sichtbares Gedenken an deutsche Kriegsopfer per se tabuisiert war.

Mit dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft fand nicht nur eine Demokratisierung des politischen Systems, sondern ebenso eine solche der Erinnerungskultur und des öffentlichen Raums statt. Bisher unterdrückte Positionen hatten die Möglichkeit, sich zu artikulieren. Was bedeutet dies für die Denkmal-Landschaft einer Region? Dies sei im Folgenden für das Land an der unteren Weichsel nachvollzogen. Hier kam es seit 1990 zu vielfältigen Initiativen, das deutsche Erbe als Teil gemeinsamer deutsch-polnischer Geschichte sowie das Schicksal der deutschen Vertreibungsopfer öffentlich bewusst zu machen. Initiatoren waren sowohl Angehörige der deutschen Volksgruppe und Heimatvertriebene als auch Kirchengemeinden oder weitere zivilgesellschaftliche und kommunale Akteure. Welche historischen Phänomene werden mit den von ihnen errichteten Denkmälern auf welche Weise thematisch? Und welche gestalterischen Akzente setzen die unterschiedlichen Denkmäler?

Für eine Spurensuche bietet sich der von Gisela Borchers erstellte und 2013 von der Landsmannschaft Westpreußen herausgegebene Katalog „Erinnerungsstätten in Westpreußen“ als Ausgangspunkt an. Auch wenn diese Zusammenschau – schon ob der Tatsache, dass sie vor zehn Jahren erschienen ist – keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, vermag sie doch eine grundlegende Orientierung zu geben über die Entwicklungen der westpreußischen Denkmal-Landschaft nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Versucht man, aus den zusammengetragenen 134 Erinnerungsstätten eine Typologie westpreußischer Denkmäler zu entwickeln, ergeben sich auf den ersten Blick zwei große Kategorien: Es sind dies zunächst Denkmäler, die sich auf die Geschichte der Region vor Flucht und Vertreibung beziehen, und sodann solche, die ebendiese im Rahmen des Zweiten Weltkriegs thematisieren.

Verschwundene Friedhöfe

Die bedeutendste Gruppe der auf die Geschichte Westpreußens bezogenen Denkmäler bilden Gedenksteine und Erinnerungstafeln für frühere städtische sowie evangelische, katholische, mennonitische und jüdische Friedhöfe (im Einzelfall auch von Familiengräbern) bzw. zur Erinnerung an die deutsche Vorgeschichte von Friedhöfen, die heute noch bestehen. Diese Dominanz verwundert nicht – stellt das Grabmal selbst bereits eine der ältesten und in unterschiedlichen Kulturen verbreitete Form des Denkmals und des Personengedächtnisses dar. Die an zerstörte Friedhöfe erinnernden Gedenksteine greifen naheliegenderweise die Form von Grabsteinen auf – in der Regel dürften sie wohl auch von ortsansässigen Steinmetzen gefertigt worden sein. Dies gilt auch für die Gestaltung von Gedenksteinen, die – wie in Graudenz oder Marienburg – an mehrere Friedhöfe einer Gebietskörperschaft oder im ländlichen Raum vielfach an sämtliche Friedhöfe eines Kirchspiels erinnern. Dementsprechend wurde auch von der Deutschen Minderheit auf dem Garnisonsfriedhof am Hagelsberg ein Gedenkstein errichtet, und zwar im Jahre  2001, d.h. nur ein Jahr bevor der seitens der Stadt geschaffene „Friedhof der nicht existierenden Friedhöfe“ entstand. Dieser stellt – so die offizielle Interpretation durch die Stadt Danzig – eine „Form der Wiedergutmachung für die Verwüstung und Auflösung der ehemaligen Danziger Friedhöfe nach dem Krieg“ dar, „eine Form der Erinnerung an alle die, die keine Gräber bzw. keinen Grabstein mehr haben“ – wobei dezidiert die religiöse Dimension des Totengedächtnisses akzentuiert wird:

„Neben den sich dort befindlichen original Grabplatten von aufgelösten Friedhöfen, befindet sich dort an zentraler Stelle ein ‚Altar‘ mit der Inschrift ‚Denen, die keine Namen haben‘. Er ragt aus den Trümmern zerbrochener Grabplatten empor, die Embleme verschiedener, im alten (wie auch im heutigen) Danzig vertretener Religionsgemeinschaften tragen.“ (gdansk.pl)

Die Gestaltung des „Altars“ verwendet dabei eine spezifische Motivik, die nicht nur der Bruchstückhaftigkeit des sie umgebenden Lapidariums entspricht, sondern die sich zugleich als theologische Aussage über den unvollständig-fragmentarischen Charakter der menschlichen Existenz lesen lässt. Kann dieses Moment als anthropologische Konstante in der Lebensgeschichte und Identität jedes Menschen aufgefunden werden, so tritt sie doch in den Schicksalen, die sich mit Krieg und Vertreibung verbinden, in besonderer Weise hervor. Insofern funktioniert das Denkmal nicht nur als Verweis auf die verlorenen Friedhöfe, sondern eröffnet zugleich eine Bildsprache, die von den Angehörigen der dort Bestatteten zu Erfahrungen aus der eigenen Lebens- oder Familiengeschichte in Beziehung gesetzt werden kann. Auch in Elbing wurden überkommene Grabsteine zerstörter Friedhöfe in vergleichbarer Weise in einem Lapidarium zusammengetragen.

Anwesenheit des Abwesenden

Von den der (zumeist christlich konnotierten) Sepulkralkultur eng verbundenen Erinnerungsformen an verschwundene Friedhöfe und die dort Begrabenen lassen sich Linien ziehen zu den weiteren Typen von Denkmälern, die wir hier betrachten wollen. Dies betrifft zum einen das Bedürfnis, an nicht mehr existente historische Gebäude und die mit ihnen verbundenen Menschen zu erinnern. Auch hier werden zumeist Gedenksteine aufgestellt, um auf Abwesendes zu verweisen, es in der Betonung seiner Abwesenheit wieder anwesend zu machen. Auffällig ist, dass es sich hierbei vor allem um Kirchen handelt und somit, wie bei den Friedhöfen, abermals um religiöse Erinnerungsorte; im Falle der Kirchen um solche, mit denen sich nicht nur die Feste des Jahreskreises bzw. Kirchenjahres, sondern ebenso biographische Passagenriten (Taufe, Kommunion bzw. Konfirmation, Trauung und ggf. Trauerfeiern) verbinden. Ästhetisch interessant ist die Gestaltung eines Gedenksteins für die 1967 abgerissene evangelische Kirche in Heidemühl (Kreis Konitz). Dieser besteht nicht aus bearbeitetem Naturstein, sondern stellt das Imitat einer Gemäuerruine dar, in die ein einzelner Stein des ursprünglichen Gebäudes als Relikt bewahrt bleibt. Damit wird in besonderer Weise sowohl das Verlorene symbolisch vergegenwärtigt als auch – ähnlich wie im Falle des „Friedhofs der nicht existierenden Friedhöfe“ – auf das Fragmentarische der menschlichen bzw. historischen Existenz verwiesen. In diesen Zusammenhang gehören im Übrigen Erinnerungstafeln, die an entwidmeten oder anderen Konfessionen übertragenen Kirchengebäuden auf die ursprünglich dort ansässige Gemeinde verweisen, wie etwa auf den Sitz des ersten Betsaals der Mennonitengemeinde in Elbing.

Andere Gedenktafeln erinnern an Institutionen, die zwar nicht von religiöser, jedoch von allgemein lebensweltlicher oder biographischer Bedeutung waren: Dies gilt für die frühere Wache der Elbinger Berufsfeuerwehr, auf die in der Hindenburgstraße ein klassischer Gedenkstein verweist, ebenso wie für Schulen. So macht an der Henryk-Sienkiewicz-Schule in Marienburg eine Tafel deren Geschichte als Luisenschule bis 1945 kenntlich. Dass Denkmäler nicht nur mit Verlust in Verbindung stehen, sondern sich auch der Motivation verdanken, kulturelle Traditionen einer gesellschaftlichen Gruppe wie der deutschen Minderheit öffentlich zu exponieren, zeigt ein Beispiel aus Rehdorf (Kreis Stuhm): Hier erinnert ein von der Deutschen Minderheit Stuhm-Christburg gestifteter Naturstein mit Metalltafel an den dort bis Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden „Hammerkrug“ , eine Schmiede mit Wirtshaus. Ergänzen ließe sich hier noch eine Reihe von Gedenksteinen und -tafeln, die an Geburts- und Wohnhäusern auf Persönlichkeiten von lokalhistorischer bzw. regionalhistorischer wie zeitgeschichtlicher und überregionaler Bedeutung hinweisen. Auch diese erfüllen die Funktion, bis zum Ende der kommunistischen Diktatur bestehende Lücken in der Erinnerungslandschaft zu schließen.

Erinnerung an Krieg und Vertreibung

Eine Zwitterposition zwischen den beiden Kategorien der kulturhistorischen Denkmäler und jener, die Flucht und Vertreibung sowie den Zweiten Weltkrieg als ihren Kontext thematisieren, nehmen wiederhergestellte und neu errichtete Kriegerdenkmäler bzw. Gedenksteine für Gefallene des Krieges 1870/71 sowie des Ersten Weltkrieges ein, insofern sie einerseits die Geschichte Westpreußens vor der Vertreibung dokumentieren, andererseits jedoch Gestaltungsformen prägen, die nach 1945 aufgegriffen werden. Dabei knüpfen auch sie sämtlich an den Archetypus des Grabmals an. Zu einer gewissen einheitlichen Anmutung der Denkmäler für Gefallene verschiedener Epochen trägt zudem der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei, der etwa in Danzig auf dem Hagelsberg um das Jahr 2000 sowohl die Grabstätte deutscher Soldaten aus dem deutsch-französischen Krieg als auch diejenige der Gefallenen des Ersten Weltkrieges in schlichter moderner Gestalt wiederherstellte. Der Krieger-Gedenkstein aus dem Ersten Weltkrieg in Baumgarth (Kreis Stuhm)  wiederum wurde gemäß dem historischen Vorbild und somit in traditioneller Gestalt auf Initiative von Heimatkreis und deutscher Minderheit rekonstruiert. Gemeinsam ist sämtlichen Kriegerdenkmälern die Gestaltung in strengen Formen und zumeist in Schwarz- wie Grautönen.

An die moderne und schlichte Gestalt der älteren Kriegerdenkmäler auf dem Hagelsberg kann die dortige – gleichfalls vom Volksbund errichtete – Grablege für deutsche Gefallene des Zweiten Weltkriegs anknüpfen. Sie wird durch ein Totenbuch ergänzt, das den dort erinnerten Schicksalen Namen gibt. Weniger standardisiert sind die teils aus privater Initiative entstandenen Denkmäler, die sowohl an die Opfer des Nationalsozialismus als auch an die Opfer von Flucht und Vertreibung erinnern. Ein Alleinstellungsmerkmal kommt dem [bekannten] Denkmal zur Erinnerung an die Eisenbahntransporte jüdischer Kinder aus der Freien Stadt Danzig nach England 1938/1939 auf dem Vorplatz des Danziger Hauptbahnhofs zu, insofern es plastisch die Betroffenen – Kinder am Bahnsteig – als Gerettete zeigt. Besondere Erwähnung verdient zudem ein Gedenkstein aus dem Jahr 1996 in Tiegenhof (Kreis Großes Werder), der mit der zweisprachigen Beschriftung „Gedenket der Toten – Frieden dieser Stadt“ und mithin ohne eine differenzierende Benennung einzelner Opfergruppen des Krieges auskommt. Andere Denkmäler hingegen konkretisieren sehr detailliert die Personen und Ereignisse, auf die sie Bezug nehmen. So heißt es etwa auf einer 1999 von der Truso-Vereinigung an der Dorfkirche Lenzen (Kreis Elbing) installierten zweisprachigen Erinnerungstafel: „An die bei Kriegsende 1945 in Lenzen ermordeten und an den Folgen des Krieges gestorbenen und gefallenen 286 Dorfbewohnern und den in Lenzen erschossenen deutschen Soldaten“.

Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, wie sich die westpreußische Denkmal-Landschaft im Zeitraum einer Generation pluralisiert hat. Dabei sind die oft von deutschen und polnischen Initiatoren gewählten Themen und Gestaltungsformen nicht zuletzt auch ein Zeugnis der grenzüberschreitenden Verständigung. Inzwischen finden sich sogar auch solche Denkmäler, die auf wichtige Akteure ebendieses Verständigungs- und Versöhnungsprozesses selbst verweisen. So erinnert in Elbing etwa am ehemaligen Gymnasium eine Gedenktafel an den Publizisten Erich Brost als einen „Mann der deutsch-polnischen Verständigung – geboren in Elbing“. Insofern Verständigung immer weiter gemeinsamer Anstrengungen bedarf, dürfte das gleiche auch für die Aushandlungsprozesse um die erinnerungskulturelle Gestaltung des öffentlichen Raums im historischen Westpreußen gelten. Ihre weitere Entwicklung gilt es mit Interesse abzuwarten.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

Buchtipp: Grenzgänge

Stefan Seidel (Hg.), Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen, München: Claudius, 2022. 296 S., Klappenbroschur, € 26,00 – ISBN 978-3-532-62880-5

„Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?“ – Die berühmte Frage, die Goethes Gretchen an Faust richtet, hat der Theologe Stefan Seidel in dem Sammelband „Grenzgänge“ aktualisiert, in welchem er ihr mit verschiedenen öffentlichen Intellektuellen unserer Gegenwart nachgeht. Dies tut er vor dem Hintergrund einer doppelten Erschütterung: zum einen angesichts lauter werdender – von innerkirchlichen Skandalen und Skandalisierungen befeuerten – Diskurse um den angeblichen Bedeutungsverlust von Religion (eigentlich vielmehr der christlichen Großkirchen) in unserer Gesellschaft, zum anderen und noch viel mehr angesichts einer Weltlage, die zwischen Pandemie und militärischen Konflikten bzw. Kriegen dem Zeitgenossen in nicht dagewesener Weisen als von Krisen gezeichnet erscheint.

Was bedeutet es – hier grüßt die klassische Theodizee-Frage –, angesichts dieser Gemengelage Gott zu suchen oder gar an ihn zu glauben? Dies erkundet Seidel in Interviews mit seinen – zuvor in biografischen Portraits vorgestellten – Gesprächspartnern, auf die ganz gewiss nicht Gretchens Charakterisierung des Fausts zutrifft: „Du bist ein herzlich guter Mann, Allein ich glaub’, du hältst nicht viel davon.“ Denn „davon“ – also dem Gottesglauben – halten sie durchaus sehr viel. Doch geht es bei dem Glauben, dem Seidel mit seinen Dialogpartnern nachspürt, nicht in erster Linie – wie bei Gretchen – um das Fürwahrhalten dogmatischer Sätze oder das rechte Ehren der „heil’gen Sacramente“. Im Zentrum stehen vielmehr Möglichkeiten von Selbst- und Weltdeutungen, die an die Schätze der christlichen Tradition anknüpfen und diese in individuell plausibler Weise fruchtbar machen.

Das gilt nicht nur für die von Seidel versammelten Theologen wie Tara Hyun Kyung Chung, Christian Lehnert und Jürgen Moltmann. Indem das Buch nach der Präsenz des Religiösen in unterschiedlichen symbolischen Formen fragt, weitet sich vielmehr der Kreis der Gesprächspartner über die akademische Theologie hinaus. Zu Wort kommen Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Ingeborg Arlt, Marica Bodrožić oder Carl-Christian Elze sowie der Dirigent Herbert Blomstedt und der Jazz-Pianist Tord Gustavsen.

Unter den „Grenzgängern“ sind mit der siebenbürgisch-sächsischen Schriftstellerin Iris Wolff (Die Unschärfe der Welt, 2020) und dem tschechischen Theologen Tomáš Halík (Der Nachmittag des Christentums, 2022) im Übrigen zwei markante Stimmen aus Ostmitteleuropa vertreten. Letzterer ermutigt dazu, „dem Schweigen Gottes nicht mit Resignation oder oberflächlichen Antworten [zu begegnen], sondern mit Glaube, Hoffnung und Liebe. Im Vollzug dieser Tugenden ist Gott präsent. Hier begegnet sich Göttliches und Menschliches. Hier trifft die Freiheit des Menschen mit der Gabe Gottes zusammen. Glaube, Hoffnung und Liebe – das ist die Präsenz Gottes in unserer Welt.“ Es sind nicht zuletzt Einsichten und Perspektiven wie diese, die den Band ausgesprochen lesenswert machen.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

Kirchenkritik ohne Tiefgang

Peter Mayer-Tasch arbeitet sich am Begriff der Gnade ab, ohne zu überzeugenden Schlussfolgerung zu kommen

Von Tilman Asmus Fischer

Einen „Beitrag zur Politischen Theologie“ möchte der Münchner Politikwissenschaftler Peter Cornelius Mayer-Tasch mit seinem heuer erschienen Essay „Von Glanz und Elend der Gnade“ leisten. Worin konkret soll dieser Beitrag jedoch bestehen?

Am Anfang steht die Faszination wie scheinbare Unzeitgemäßheit (angesichts einer sich als aufgeklärt verstehenden Moderne), die der Autor dem Begriff der Gnade beimisst: „Gnade – welch ein Wort! Ist es aber nicht auch ein eher in die Vergangenheit weisendes als der Gegenwart zugehöriges Wort?“ Ausgehend von der Wahrnehmung dieser Spannung unternimmt Mayer-Tasch „den Versuch, verschiedene Aspekte des individuellen und kollektiven (d. h. also sozialen und politischen) Umgangs mit dem Begriff der Gnade auszuloten“. An dessen Ende freilich steht das Plädoyer für eine docta ignorantia, die es erlaubt und gebietet, „die Wahrnehmung all dessen, was wir unter der Vorstellung von Gnade, Begnadung und Begnadigung verstehen mögen, in den Freiraum höchstpersönlicher Bewertungen zu entlassen“ – die es vor allem aber nahelegt, „die unverkennbare und unabweisbare Faszination und Magie dieses altehrwürdigen Begriffs wenigstens gedanklich sowohl dem Glanz als auch dem Elend menschlicher Machtkämpfe zu entziehen“.

Insbesondere letztes verdient – nimmt man den Charakter des Unverfügbaren ernst, den Gnade aus einer theologischen Perspektive trägt – volle Zustimmung, ebenso wie das grundsätzliche Anliegen zu begrüßen ist, einen nicht mehr selbstverständlichen, jedoch fortwährend in aller Munde geführten Begriff theorie- und kulturgeschichtlich zu erhellen. Umso bedauerlicher ist, dass die vom Autor gebotene Herleitung der Schlussfolgerung in besonderer Weise darunter leidet, dass er in ihrem Vollzug vornehmlich eine verkappte Kirchenkritik betreibt. Das geht nicht nur zulasten der Fokussierung auf das eigentlich in Frage stehende Phänomen; vielmehr fehlt zugleich der Kirchenkritik der – will man sie ernsthaft betreiben, notwendige – Tiefgang. Diese Schieflage deutet sich bereits darin an, dass Mayer-Tasch nicht mit der knappen Begriffsgeschichte, die von „Gnade als Inbegriff des Willkommenen“ ausgeht, einsteigt. Ihr voran stellt er vielmehr die Frage „Gnade – ein Anachronismus?“, um diese „angesichts einer sich ständig verschärfenden Krise der sich noch immer zur Gnadenvermittlung primär berufen fühlenden Institution“ – also der christlichen Großkirchen – abschlägig zu beantworten.

Das obsessive Verhältnis des Autors zur Kirchengeschichte setzt sich sodann im Kapitel „‚Gott‘ als Urquell jeglicher Gnade“ fort, das nach acht Seiten zur biblischen Begründung des Monotheismus – in denen statt von „Jesus (Christus)“ vom „Propheten aus Nazareth“ die Rede ist – gleich in die europäische und außereuropäische Religionsgeschichte abbiegt. Es schließt sich – Schlagwort Thron und Altar – ein Kapitel zum „‚Gottesgnadentum‘ als Herrschaftslegitimation“ an. Hieran knüpft Mayer-Tasch die Frage „Ein Gott von Kaisers Gnaden?“ an, unter die er die Dogmengeschichte der Alten Kirche stellt. Es ist schon fast rührend zu beobachten, wie sich der Autor des Duktus eines Aufklärers befleißigt – als wenn die Leserschaft durch ihn erstmalig über die Zusammenhänge von Theologie und Politik im Zusammenhang mit der Konstantinischen Wende und der Entwicklung des Nicäno-Konstantinopolitanums konfrontiert würden. „Vom Geheimnis der Gnade“ handelt der Autor abschließend in zweifacher Hinsicht: „rational“ und „metarational“, wobei erstes für ihn die Rekapitulation seiner zuvor geleisteten Dekonstruktion mit Fokus auf ein Kalkül gegenseitiger Stabilisierung von geistlicher und weltlicher Autorität bedeutet, zweites dann – folgerichtig – die ‚Inschutznahme‘ der Gnade vor einer dogmatisch-monotheistischen Vereinnahmung.

Mayer-Taschs Rhetorik lebt von Kurzschlüssen und deftigen Vergleichen: So funktioniert sein Vorwurf an das Christentum, dass die „Hoffnung auf einen jenseitigen Ausgleich diesseitiger Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zum soziokulturellen Allgemeingut wurde“, natürlich nur durch die Ausklammerung gegenläufiger theologie- und kirchengeschichtlicher Traditionslinien wie nicht zuletzt derjenigen der Befreiungstheologie. Geradezu abgründig sind die Motive für Parallelisierungen wie derjenigen, die Revolutionsführer des Irans würden „in einem ähnlichen Ringen bestimmt, wie dies in der katholischen Christenheit vom Konklave her bekannt ist“. Angesichts derartiger Unschärfen mag man dem Verfasser vor allem eines wünschen: gnädige Leser.

Peter Cornelius Mayer-Tasch: Von Glanz und Elend der Gnade. Ein Beitrag zur Politischen Theologie. Pustet-Verlag, Regensburg, 2023, 96 Seiten, EUR 18,–

Erschienen am 9. November 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Katholische Vordenkerin

Ein Gespräch mit Gesine Schwan

Pünktlich zum 80. Geburtstag von Gesine Schwan ist im Frühjahr ein Gespräch des Philosophen Holger Zaborowski mit der Politikwissenschaftlerin und sozialdemokratischen Vordenkerin erschienen. Es arbeitet nicht nur zentrale Themen des Denkens der Jubilarin heraus, sondern porträtiert sie zudem trefflich als eine markante katholische Intellektuelle der Gegenwart. Und so rahmen die Kapitel „Politik, Glaube, Medien“ sowie „Freiheit, Menschenwürde, Bildung“ auf sinnfällige Weise das, wenn nicht Haupt-, so doch Herzstück des Buches über „Kirche, Christentum, Glaube“. Bemerkenswert ist dabei, dass Schwan die christliche Fundierung ihres Denkens und Wirkens in doppelter – nämlich in intellektueller wie in spiritueller – Hinsicht explizit aufscheinen lässt.

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Erschienen in: Herder Korrespondenz 9/2023, S. 53.

Der vergessene Liberale

Friedrich Wilhelm Graf setzt mit Ernst Troeltsch einen facettenreichen Theologen des 20. Jahrhunderts ins Licht

Von Tilman Asmus Fischer

Jahres- und Gedenktage haben sich als Seismograph für die Relevanz historischer Persönlichkeiten im Gedächtnis einzelner Erinnerungsgemeinschaften bewährt. Und so erweist sich auch die relative Zurückhaltung, mit welcher der deutschsprachige Protestantismus – und allgemeiner die deutschsprachige Theologie – heuer den 100. Todestag Ernst Troeltschs begeht, als markantes Indiz für den Erinnerungsschatten, in dem der liberale Dogmatiker und Religionsphilosoph gegenwärtig steht. Umso erfreulicher ist es, dass es der evangelische Theologe und emeritierte Münchner Ordinarius für Systematische Theologie und Ethik Friedrich Wilhelm Graf unternommen hat, Troeltsch mit einer umfangreichen Biographie ins Licht zu setzen. Dies gelingt ihm über einen vierfachen Zugang zur historischen Person, die Graf nicht umsonst zu dem von diesem geprägten Begriff des „Vielspältigen“ in Beziehung setzt.

Zum einen zeichnet Graf die „Geschichte eines sehr widersprüchlichen gottgläubigen, auf ganz eigene Weise frommen Mystikers, der sich in harten Seelenkämpfen an den kognitiven Dissonanzen zwischen überkommenem Glauben und moderner Wissenschaft abarbeitete“. Dies führte ihn zu einem theologischen Programm, in dessen Zentrum der Begriff der „‚Zusammenbestehbarkeit‘ von Christentum und moderner szientifischer Rationalität“ steht und mit dem er nachhaltigen Einfluss auf die liberale Theologie des 20. Jahrhunderts ausübte: „Troeltsch“, so Graf, „will, dass man auch als ein moderner skeptischer, autoritätskritischer, freiheitsliebender Mensch ein frommer Christ sein kann. Das geht aber nur, wenn das Christliche mehr und anderes als das überkommene, dogmatisch zwanghafte, in vielem unverständlich und fremd gewordene autoritäre Kirchenchristentum ist.“

Zum anderen porträtiert das Buch einen „faszinierend produktiven Gelehrten, der die engen disziplinären Grenzen der Theologie vielfältig überschritt und in ganz unterschiedlichen Diskursen präsent war“. Dabei lag, wie bei der Lektüre von Grafs Buch deutlich wird, die interdisziplinäre Verortung Troeltschs wohl primär, jedoch nicht ausschließlich in der Weite seines Geistes und seiner Rezeptionsfreudigkeit begründet. Sie ging zumindest auch einher mit der Parierstellung Troeltschs in Teilen der Universitätstheologie, die sein theologisches Programm mit dessen Forderung nach einer „Umdenkung des ganzen religiösen Bestandes“ und dem unorthodoxen Bemühen, den christlichen „Glaubenssymbolen durch ‚Umschmelzung‘ neue Plausibilität [zu] verschaffen“, ablehnten: Als Troeltsch – nach 23 Jahren als Professor für Systematische Theologie in Heidelberg – 1915 nach Berlin berufen wurde, war die Ablehnung in der Theologischen Fakultät derart ausgeprägt, dass er auf eine Professur für Religions-‚ Sozial- und Geschichts-Philosophie an der Philosophischen Fakultät ausweichen musste.

Zum dritten entwirft der Autor die „Geschichte eines Gelehrtenpolitikers und politischen Intellektuellen, der im Alter von fünf Jahren die Begeisterung seines Vaters für die Gründung des deutschen Kaiserreichs miterlebte und nach dessen Ende 1918 ein sozialmoralisches Fundament für die von links wie rechts bedrohte Republik zu legen versuchte“. Dabei erscheint Troeltsch sowohl als politischer Gestalter wie als Kind seiner Zeit – mit allen dazugehörigen Ambivalenzen: diese betreffen nicht zuletzt seine Teilhabe an Hintergrundannahmen zeitgenössischer Welt- und Kolonialpolitik. Als überzeugter Anhänger der konstitutionellen Monarchie tritt Troeltsch bis 1914 als Abgeordneter in der Ersten Kammer der Badischen Ständeversammlung in Erscheinung – als dezidierter Republikaner der DDP-Politiker Troeltsch in der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung und in seiner Funktion als Unterstaatssekretär im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, in der er unmittelbar an der preußischen Religionspolitik der Weimarer Republik beteiligt war. Ausgesprochen differenziert verfolgt Graf die Wandlungen Troeltschs in den dazwischenliegenden Kriegsjahren nach, in denen der Kriegsredner und Anhänger der „Ideen von 1914“ zu Vorstellungen einer gemäßigten deutschen Interessenpolitik vorstößt. Die Erfahrungen und Reflexionen ebendieser Jahre stellen das Bindeglied zwischen dem politischen Troeltsch des Kaiserreichs und desjenigen der Republik dar.

Zuletzt begegnet Troeltsch als ein Mensch, „der wohl mehr und intensiver, jedenfalls reflektierter als andere unter seiner elementaren Widersprüchlichkeit litt“. Nicht zuletzt hier wird die – sich zu wissenschaftlicher Akribie gesellende – narrativen Stärke des Verfassers deutlich, durch die es ihm gelingt, Troeltsch seinen Lesern als lebendigen Denker und Menschen vor Augen malen. Augenfällig ist neben dieser Fähigkeit Grafs Begeisterung für prosopographische Exkurse, mittels derer er die sozialen und vor allem intellektuellen Kontexte erhellt, in denen Troeltsch stand, die ihn beeinflussten und auf die er wiederum einwirkte. Würde man sich an mancher Stelle auch wünschen, anstelle hinterer Winkel im Netzwerk des Theologen noch etwas tiefer in diejenigen der Gedankenwelt seiner Texte einzutauchen, so gelingt es Graf doch zweifellos, das Porträt Troeltschs mit einem solchen der universitären Theologie, Philosophie und Soziologie seiner Zeit zu verknüpfen.

Ein – auch in diesem Zusammenhang immer wieder zur Sprache kommender – spannender Nebenschauplatz von Troeltschs Theologischem Liberalismus war seine unvoreingenommene Haltung zum Katholizismus und gegenüber katholischen Denkern.

Wenn Graf „beim jungen Troeltsch auch kulturkämpferische Töne“ zu identifizieren vermag, ist dies doch derselbe in seiner Heimatstadt Augsburg Wehrdienstleistende, der jenseits des Dienstes am von Benediktinern unterhaltenen Königlichen Lyceum Vorlesungen hört. Dabei, so Graf, lernte der Student eine „Wissenskultur“ kennen, „die durch philosophische Propädeutik in dezidiert katholisch-konfessioneller, neuthomistischer Perspektive starke Gewissheit in dramatisch schnell sich wandelnden Zeiten zu vermitteln suchte“. Jahrzehnte später sollte eine Hörerin seiner Symbolik-Vorlesungen zum Katholizismus – „versucht zu meinen, er stelle seine eigenen und nicht fremde Gedanken dar“ –fragen: „‚Herr Professor, wollen Sie uns eigentlich überreden, katholisch zu werden?‘ worauf er lachend erwiderte: ‚Das wäre doch nicht das Schlimmste.‘“

Diese Hörerin, die Graf zu Wort kommen lässt, war niemand anderes als Gertrud von le Fort, die drei Jahre nach Troeltschs Tod 1926 selbst zum Katholizismus konvertierte. „Das Schlimmste“ sei, so die Schriftstellerin, für Troeltsch vielmehr „der Gedanke an das Erlöschen der christlich gebundenen Seele, ja der religiösen Seele überhaupt“ gewesen.

Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont, C. H. Beck, München 2022, 638 Seiten, ISBN 978-3-406-79014-0, EUR 38, –

Erschienen am 15. Juni 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Zwischen den „Ordnungen der Dinge“

Auf der Suche nach Interpretamenten zur Krisendeutung bringt Martina Kumlehn den protestantischen Theologen Friedrich D. E. Schleiermacher ins Spiel. Ein Interview.

Folgt man dem Soziologen Armin Nassehi leben wir in einer – angesichts gegenwärtiger Krisenerscheinungen – „überforderten Gesellschaft“. Mag dies ein Phänomen der Postmoderne sein, so lohnt sich auf der Suche nach Interpretamenten zur Krisendeutung auch der Blick in die Religionsgeschichte der Aufklärungszeit. Martina Kumlehn, Professorin für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock, bringt im Interview mit Tilman A. Fischer den protestantischen Theologen Friedrich D. E. Schleiermacher als modernen Krisendeuter ins Spiel. Über „Schleiermacher im Spiegel des modernen Krisenbewusstseins“ hielt Kumlehn am 30. November die diesjährige Schleiermacher-Lecture des Instituts zur Erforschung moderner Religionskulturen an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

Frau Kumlehn, warum lohnt es sich angesichts unserer krisengeschüttelten Gegenwart Schleiermacher zu lesen? Haben wir angesichts der Herausforderungen der Postmoderne nicht Besseres zu tun, als Texte des 19. Jahrhunderts zu lesen?

Auch im 18. und 19. Jahrhundert gab es politische Umwälzungen, Krieg und Seuchen. Gewiss: Im Sog der Spätmoderne überlagern sich durch die technologischen Entwicklungen, die globalen Verflechtungen, die Digitalisierung und die ökologischen Risiken hyperkomplexe Krisenszenarien. Aber neben den neuen Herausforderungen sind es doch paradoxerweise gerade die Erfahrungen der Pandemie, der Naturkatastrophen und des Kriegs, die das Gefühl der Entsicherung, der Fragilität und Verletzlichkeit trotz aller Sicherungsmaßnahmen und Fortschrittsverheißungen der Moderne wieder massiv verstärken und Verlustängste schüren. Von daher lohnt sich auch ein historisch kundiger Blick in die Vergangenheit, um die Erfahrungs- und Deutungshorizonte in Analogie und Differenz in ein kritisches Verhältnis zu setzen.

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Länderporträt Taiwan

Blickwechsel von Tilman Asmus Fischer

Zwei Topoi bestimmten die neue mediale Aufmerksamkeit, die in den vergangenen zwei Jahren der ostasiatischen Inselrepublik Taiwan zukommt: auf der einen Seite eine zumindest über lange Strecken mustergültige Bewältigung der Corona-Pandemie durch Politik und Zivilgesellschaft; auf der anderen Seite das – zuletzt anlässlich des Besuchs von Nancy Pelosi – immer lauter werdende Säbelrasseln der Kommunistischen Partei Chinas, die nach Hongkong lieber gestern als heute die demokratische Republik China, so der offizielle Name Taiwans, der Volksrepublik China einverleiben würde. Was ist dies für ein Land, dessen Gesellschaft für ihre Resilienz bewundert wird, das jedoch weltweit von lediglich 14 Regierungen – darunter leider nicht die deutsche, jedoch der Vatikan – als souveräner Staat anerkannt wird?

Diese Frage stellt sich bei einem Interesse, das über tagespolitisch relevante Schlagzeilen hinausgeht. Wer sie sich stellt, kann so manches lernen über eine Insel mit einem faszinierenden interkulturellen – und in Teilen auch interreligiösen – Erbe, über friedliche politische Transformationen sowie über eine Gesellschaft, die Liberalismus und Traditionsbewusstsein verbindet. Einblicke in dieses breite Themenspektrum eröffnet die unlängst erschienene „Gebrauchsanweisung für Taiwan“ des preisgekrönten deutschen Schriftstellers Stephan Thome. Sie liest sich gleich einer – wenn auch nicht unkritischen – Liebeserklärung an das Land, in das er als Student kam und das ihm – inzwischen mit einer Taiwanerin verheiratet – zur Heimat wurde. Ebenfalls heuer erschien sein Roman „Pflaumenregen“, der die Zeitgeschichte Taiwans literarisch verarbeitenen.

Ein starkes zeitgeschichtliches und erinnerungskulturelles Interesse prägt auch sein Länderporträt – in besonderer Weise mit Blick auf die Diktatur der Nationalen Volkspartei Chinas „Kuomintang“. Diese regierte 1949 bis 1987 unter Kriegsrecht auf Taiwan, wohin sich die Regierung der Republik China zurückzog, als Mao auf dem Festland die Volksrepublik errichtete. An diese Zeit erinnert heute die Gedenkstätte auf Lü Dao – bis 1987 Gefängnisinsel der Kuomintang, anhand derer Thome feinfühlig die Prägekraft der Unterdrückungserfahrungen für das kollektive Gedächtnis und das demokratische Selbstbewusstsein des heutigen Taiwans entfaltet.

Gleichfalls gehört es zu Thomes Handschrift, dass ihr die fachliche Expertise des studierten Sinologen, Philosophen und Religionswissenschaftlers abzuspüren ist. So tut es nicht Wunder, dass just eines der umfangreichsten Kapitel der taiwanischen Religionsgeschichte gewidmet ist. Thome arbeitet heraus, wie gerade die autochthone religiöse Tradition in der Zeit der Unterdrückung durch die japanischen Kolonialherren bis 1945 zu einem wesentlichen Identitätsmarker wurde.

Heute sind vor allem buddhistische Laienorganisationen in der Zivilgesellschaft sichtbar – immer wieder aber auch die christliche Minderheit. Deren Geschichte ist ambivalent, da der 1975 gestorbene Diktator Chiang Kai-shek selbst als Konvertit der methodistischen Kirche angehörte, die ihn stützte. Währenddessen standen Presbyterianer und Katholiken auf der Seite der unterdrückten indigenen Völker, deren Sprache und Kultur sie schützten und die ihrerseits bis heute in der großen Mehrheit Christen sind.

Stephan Thome: Gebrauchsanweisung für Taiwan, Piper, 224 Seiten, ISBN 978-3-492-27745-7; 15,00 Euro

Erschienen in: Glaube + Heimat. Mitteldeutsche Kirchenzeitung 39/2022; unter anderem Titel in: Evangelischer Kirchenbote 40/2022.