Zwischen den „Ordnungen der Dinge“

Auf der Suche nach Interpretamenten zur Krisendeutung bringt Martina Kumlehn den protestantischen Theologen Friedrich D. E. Schleiermacher ins Spiel. Ein Interview.

Folgt man dem Soziologen Armin Nassehi leben wir in einer – angesichts gegenwärtiger Krisenerscheinungen – „überforderten Gesellschaft“. Mag dies ein Phänomen der Postmoderne sein, so lohnt sich auf der Suche nach Interpretamenten zur Krisendeutung auch der Blick in die Religionsgeschichte der Aufklärungszeit. Martina Kumlehn, Professorin für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock, bringt im Interview mit Tilman A. Fischer den protestantischen Theologen Friedrich D. E. Schleiermacher als modernen Krisendeuter ins Spiel. Über „Schleiermacher im Spiegel des modernen Krisenbewusstseins“ hielt Kumlehn am 30. November die diesjährige Schleiermacher-Lecture des Instituts zur Erforschung moderner Religionskulturen an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

Frau Kumlehn, warum lohnt es sich angesichts unserer krisengeschüttelten Gegenwart Schleiermacher zu lesen? Haben wir angesichts der Herausforderungen der Postmoderne nicht Besseres zu tun, als Texte des 19. Jahrhunderts zu lesen?

Auch im 18. und 19. Jahrhundert gab es politische Umwälzungen, Krieg und Seuchen. Gewiss: Im Sog der Spätmoderne überlagern sich durch die technologischen Entwicklungen, die globalen Verflechtungen, die Digitalisierung und die ökologischen Risiken hyperkomplexe Krisenszenarien. Aber neben den neuen Herausforderungen sind es doch paradoxerweise gerade die Erfahrungen der Pandemie, der Naturkatastrophen und des Kriegs, die das Gefühl der Entsicherung, der Fragilität und Verletzlichkeit trotz aller Sicherungsmaßnahmen und Fortschrittsverheißungen der Moderne wieder massiv verstärken und Verlustängste schüren. Von daher lohnt sich auch ein historisch kundiger Blick in die Vergangenheit, um die Erfahrungs- und Deutungshorizonte in Analogie und Differenz in ein kritisches Verhältnis zu setzen.

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Länderporträt Taiwan

Blickwechsel von Tilman Asmus Fischer

Zwei Topoi bestimmten die neue mediale Aufmerksamkeit, die in den vergangenen zwei Jahren der ostasiatischen Inselrepublik Taiwan zukommt: auf der einen Seite eine zumindest über lange Strecken mustergültige Bewältigung der Corona-Pandemie durch Politik und Zivilgesellschaft; auf der anderen Seite das – zuletzt anlässlich des Besuchs von Nancy Pelosi – immer lauter werdende Säbelrasseln der Kommunistischen Partei Chinas, die nach Hongkong lieber gestern als heute die demokratische Republik China, so der offizielle Name Taiwans, der Volksrepublik China einverleiben würde. Was ist dies für ein Land, dessen Gesellschaft für ihre Resilienz bewundert wird, das jedoch weltweit von lediglich 14 Regierungen – darunter leider nicht die deutsche, jedoch der Vatikan – als souveräner Staat anerkannt wird?

Diese Frage stellt sich bei einem Interesse, das über tagespolitisch relevante Schlagzeilen hinausgeht. Wer sie sich stellt, kann so manches lernen über eine Insel mit einem faszinierenden interkulturellen – und in Teilen auch interreligiösen – Erbe, über friedliche politische Transformationen sowie über eine Gesellschaft, die Liberalismus und Traditionsbewusstsein verbindet. Einblicke in dieses breite Themenspektrum eröffnet die unlängst erschienene „Gebrauchsanweisung für Taiwan“ des preisgekrönten deutschen Schriftstellers Stephan Thome. Sie liest sich gleich einer – wenn auch nicht unkritischen – Liebeserklärung an das Land, in das er als Student kam und das ihm – inzwischen mit einer Taiwanerin verheiratet – zur Heimat wurde. Ebenfalls heuer erschien sein Roman „Pflaumenregen“, der die Zeitgeschichte Taiwans literarisch verarbeitenen.

Ein starkes zeitgeschichtliches und erinnerungskulturelles Interesse prägt auch sein Länderporträt – in besonderer Weise mit Blick auf die Diktatur der Nationalen Volkspartei Chinas „Kuomintang“. Diese regierte 1949 bis 1987 unter Kriegsrecht auf Taiwan, wohin sich die Regierung der Republik China zurückzog, als Mao auf dem Festland die Volksrepublik errichtete. An diese Zeit erinnert heute die Gedenkstätte auf Lü Dao – bis 1987 Gefängnisinsel der Kuomintang, anhand derer Thome feinfühlig die Prägekraft der Unterdrückungserfahrungen für das kollektive Gedächtnis und das demokratische Selbstbewusstsein des heutigen Taiwans entfaltet.

Gleichfalls gehört es zu Thomes Handschrift, dass ihr die fachliche Expertise des studierten Sinologen, Philosophen und Religionswissenschaftlers abzuspüren ist. So tut es nicht Wunder, dass just eines der umfangreichsten Kapitel der taiwanischen Religionsgeschichte gewidmet ist. Thome arbeitet heraus, wie gerade die autochthone religiöse Tradition in der Zeit der Unterdrückung durch die japanischen Kolonialherren bis 1945 zu einem wesentlichen Identitätsmarker wurde.

Heute sind vor allem buddhistische Laienorganisationen in der Zivilgesellschaft sichtbar – immer wieder aber auch die christliche Minderheit. Deren Geschichte ist ambivalent, da der 1975 gestorbene Diktator Chiang Kai-shek selbst als Konvertit der methodistischen Kirche angehörte, die ihn stützte. Währenddessen standen Presbyterianer und Katholiken auf der Seite der unterdrückten indigenen Völker, deren Sprache und Kultur sie schützten und die ihrerseits bis heute in der großen Mehrheit Christen sind.

Stephan Thome: Gebrauchsanweisung für Taiwan, Piper, 224 Seiten, ISBN 978-3-492-27745-7; 15,00 Euro

Erschienen in: Glaube + Heimat. Mitteldeutsche Kirchenzeitung 39/2022; unter anderem Titel in: Evangelischer Kirchenbote 40/2022.

Klimakrise – Kulturkrise. Die Bedeutung von Umweltethik und Schöpfungstheologie

Aus der Gesprächsreihe: BRÜCKEN STATT BRÜCHE. Kultur und Nachhaltigkeit (Staffel 3)

Mit Johann Hinrich Claussen und Konrad Ott. Moderation und Konzeption: Lydia Bauer und Tilman Asmus Fischer

Aufgezeichnet am 11. Juli 2022 in der Guardini Galerie, Berlin

„Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewusst seines Daseins erfreut?“, schrieb Goethe in seinem Werk über Winckelmann.

Es sind nicht zuletzt ‚Kulturleistungen‘, die uns vor eine nie dagewesene Herausforderung stellen: Industrialisierung, Mobilität, moderne Landwirtschaft – die Entwicklungen der letzten zwei Jahrhunderte sind menschengemacht, sie sind Kultur, nicht Natur. Dabei hat sich in den vergangenen Jahren der Klimawandel zum Kristallisationspunkt von Debatten um ‚Nachhaltigkeit‘ entwickelt. Wie können wir dafür sorgen, dass unser Planet auch in einigen Jahrhunderten noch bewohnbar sein wird? Warum ist die Natur für uns wichtig? Und inwiefern können die Künste, die Wissenschaften und die Religionen unseren Blick für die Natur wieder öffnen und zur Bewahrung unserer Umwelt beitragen? Inwiefern ist das Naturerlebnis für uns ein existenzielles? Wie und in welcher Form bereichert die Natur unser Leben? Theologisch gewendet: In welchem Sinne könnten Umweltethik und Schöpfungstheologie für die Übergänge in eine nachhaltige Kultur bedeutsam werden?

Das Projekt „Brücken statt Brüche. Kultur und Nachhaltigkeit“ der Guardini Stiftung e.V. wird gefördert durch die Beauftragte der Bunderegierung für Kultur und Medien.

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Marx als Herausforderung

Das Deutsche Historische Museum führt mit der Frage nach Karl Marx und dem Kapitalismus in eine museale Sackgasse

Von Nathan Giwerzew und Tilman A. Fischer

Das Deutsche Historische Museum in Berlin hat in den vergangenen Jahren ein erstaunliches Interesse an Themen der Ideen- und Geistesgeschichte entwickelt, denen es – ohne merkliche Rückkoppelung an Jahrestage und Jubiläen – Ausstellungen widmet. Galt dies bereits für die im vorvergangenen Jahr gezeigte Schau „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“, so wird dieser Trend mit der aktuellen Sonderausstellung „Karl Marx und der Kapitalismus“ – wohlgemerkt dem wegen Umbaumaßnahmen gegenwärtig einzigen Ausstellungsangebot des DHM – unübersehbar. Damit erledigt sich für den Betrachter natürlich keinesfalls die Frage: Warum dieses Thema? Und zu welchem Zweck?

Die Ausstellungsbroschüre gibt dafür wenig her: Man würde neben der Marx-Ausstellung demnächst auch eine Ausstellung zu Richard Wagner eröffnen und auch dessen Verhältnis zum Kapitalismus beleuchten; wenig erforscht sei zudem bisher dieser Themenkomplex. Dies freilich macht stutzig, denkt man beispielsweise an Gerhard Scheits Publikationen zur Trias Marx – Wagner – Kapitalismus. Auch dass sich Marx‘ Denken und die daraus erwachsene Bewegung des Marxismus eben den Bedingungen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems verdankten, ist nun keine neue Einsicht und nicht wirklich avantgardistisch. Für das Verständnis der Wirtschaft ertragreicher wäre es gewesen, andere relevante Bezugspunkte des Denkens und Wirkens von Marx ins Zentrum zu stellen, wie sie nun in der Ausstellung lediglich angerissen werden. Eines dieser Themen wäre etwa „Marx und die Religion“ gewesen.

Nicht zufällig beginnt die DHM-Ausstellung mit Exponaten, die den Blick auf die Religionskritik lenken, wie sie im Umkreis der Junghegelianer in verschiedenen Entwürfen formuliert und vom jungen Marx aufgegriffen wurde. Selbstverständlich darf das Klischee von der Religion als „Opium des Volkes“ nicht fehlen. Etwas differenzierender wird freilich darauf verwiesen, dass der junge Marx die Religion, und hier sind die Anklänge an Paulus unüberhörbar, als „Seufzer der bedrängten Kreatur“ verstand – nur dass dieses Bedürfnis nach Erlösung für Marx nicht im Schoß der Kirche gut aufgehoben war, sondern vielmehr in revolutionäre Aktion umgesetzt werden sollte.

So treibt Marx Religionsersatz in einem politisierten atheistisch-humanistischen Gewand. Als museumsdidaktischer Eyecatcher findet sich in diesem Kontext ein auf dem Kopf stehend aufgehängtes Hegel-Porträt, das erst im Blick durch ein Prisma wieder „auf die Füße“ gestellt wird. Dass Marx in seinen Entwürfen zum „Kapital“ schreibt, Hegels Denken wolle vom Geist zu den Dingen, er aber gehe umgekehrt den Weg von den gesellschaftlich-materiellen Verhältnissen zum „Überbau“ der seiner Auffassung nach zwangsläufig ideologisch verzerrten Erzeugnisse des Geistes, kann jeder Interessierte an der entsprechenden Stelle der „Grundrisse“ nachlesen.

Was das aber konkret in der Entwicklung vom Hegelschen Idealismus zum Marxismus bedeutet, bleibt unklar. Nämlich, dass durch das „Vom-Kopf-auf-die-Füße-stellen“ der Hegelschen Dialektik zwar die Vorzeichen von Geist und Materie umgekehrt werden, dennoch aber auch bei Marx Formen der Dialektik am Werk sind, scheinen die Kuratoren dieser Ausstellung als Allgemeinwissen vor-auszusetzen.

Die Ausstellung leidet am Manko, dass der Fachkundige durch sie nichts dazulernt – und der Laie trotz Erklärungsschildern in einfacher Sprache auch nicht viel dazulernt, wenn etwa Begriffe wie die des „Junghegelianismus“ nur notdürftig expliziert werden. Dass Marx in seinem Aufsatz „Zur Judenfrage“ antisemitische Stereotype aufgriff, entzaubert den Denker, ohne dass der polemische Kontext dieses Aufsatzes erhellend erklärt würde. Es wird sich vielmehr mit einem Einerseits-Andererseits begnügt: Einerseits sei Marx für die politische Emanzipation der Juden eingetreten, andererseits habe er für die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft vom als „jüdisch“ konnotierten Privatinteresse agitiert.

Ohne dass das Thema der Religionskritik damit auch nur ansatzweise erschöpft wäre: Bruno Bauer und Moses Hess kommen nur am Rande vor, Max Stirner gar nicht. Stattdessen geht es sofort weiter zur industriellen Revolution, die in eine breitere historische Entwicklung bis hin in die Gegenwart eingezeichnet wird. Von besonderem Wert sind die originalen Manuskripte und Zeitungsartikel, die vor allem eines zeigen: dass Marx von seinen publizistischen Anfängen in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ bis hin zu seinen Artikeln in der „New York Tribune“ zuallererst Journalist war. Einerseits war dies motiviert durch die Lust daran, mithilfe der Feder „die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen“, andererseits durch handfeste materielle Not. Die Ausstellung hätte wohl daran getan, einen separaten Raum zum Thema „Marx und das Pressewesen“ einzurichten, denn es tanzen dem Leser buchstäblich die kleinstgedruckten Buchstaben und ellenlangen Artikel der damaligen Tageszeitungen vor den Augen herum.

Stattdessen wird Marx insbesondere als ökologischer Denker starkgemacht, wenngleich seine wenigen Ideen zu den beschränkten Ressourcen der Erde und der Erhöhung des Ernteertrags durch Guano-Dünger im Gesamtwerk weitgehend irrelevant sind. Das scheint die Ausstellungskuratoren nicht gestört zu haben: Wo es einen aktuellen Tagesbezug gibt, etwa zu Ökologie, Kolonialgeschichte oder Feminismus, da muss er maximal ausgeschlachtet werden. Dass Marx weniger die Ersetzung des bürgerlichen Menschenbildes eines homo universalis durch Jetset-Professoren und hedonistische Konsumbürger anstrebte, sondern vielmehr seine Vollendung in der eschatologisch ausgemalten Endzeitgesellschaft des „Kommunismus“, gerät so aus dem Blick.

Die Ausstellung endet daher so rätselhaft wie sie begann: Das letzte Exponat ist eine Pumpe, die Wasser in einen Bottich leitet. Die Pumpe soll die Arbeitskraft symbolisieren, der mit Wasser aufgepumpte Behälter den durch diese Arbeit in Kapital umgesetzten Mehrwert; und das nebenbei durch einen Wasserhahn abtropfende Wasser den mickrigen Lohn des Arbeiters. Zuletzt findet sich der Besucher in einem runden Treppenhaus wieder, in dem sich eine (qua medizinischen Masken sensorisch kaum wahrnehmbare) Installation zu den „Gerüchen des Kapitalismus“ befindet. Und geht man die runde Wendeltreppe in der Erwartung einer Fortsetzung der Ausstellung hoch, erwartet einen bloß eine weiße Wand.

Wenn die Wand eine Metapher auf diese Ausstellung und ihr Thema sein soll, so könnte sie so interpretiert werden, dass sich nicht nur die Ausstellung in einer museumspädagogischen Sackgasse befindet. Auch die enttäuschte religiöse – diesseitige – Erlösungshoffnung des Marxismus könnte sich zum Ausdruck gebracht finden: das zwecklose Treppenhaus als Symbol dafür, dass der von Marx erhoffte Aufstieg der Menschheit ins höhere Entwicklungsstadium des Kommunismus ausgeblieben ist.

Ausstellung „Karl Marx und der Kapitalismus“, bis 21. August 2022 im Deutschen Historischen Museum, Unter den Linden 2, 10117 Berlin.

In ähnlicher Form erschienen am 24. Februar 2022 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Reflexion existenzieller Fragen

„Wir haben Menschen Einsamkeit zugemutet, um andere vor Krankheit oder Tod zu schützen. Wir haben unser Leben einschränken müssen, um Leben zu retten.“ Mit diesen Worten reagierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner vielbeachteten Rede auf der Zentrale Gedenkveranstaltung für die Verstorbenen in der Corona-Pandemie auf eine kollektive Erfahrung, die sich mit der Pandemie bzw. ihrer Bekämpfung verbindet: Einsamkeit.

Solche Erfahrungen drängen auf Bewältigung – nicht nur, aber insbesondere am Ende des zweiten „Corona-Jahres“. Und womöglich bietet sich hierzu auch die Advents- und Weihnachtszeit in besonderer Weise an. Dies nicht nur, weil es die Zeit der Jahresrückblicke und medialen Bilanzierung ist. Vielmehr laden diese – nicht ohne Grund mit Begriffen des Kirchenjahres bezeichneten – Wochen dazu ein, ganz persönlich das Zurückliegende im Horizont des eigenen Lebens wie transzendenter Hoffnungen zu bedenken.

Bei einer solchen Reflexion existenzieller Fragen kann jede und jeder Begleiter gebrauchen. Einen solchen bietet aus christlicher Perspektive das Buch „Für sich sein“ der Theologen Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland, und Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie in Deutschland. Aufgrund ihrer jeweiligen Perspektiven sind sie prädestiniert dafür, dem komplexen Phänomen Einsamkeit in seinen individuellen, sozialen und theologischen Dimensionen auf lebensnahe Weise nachzugehen.

Dies gelingt ihnen in der Form eines „Atlasses der Einsamkeiten“: Zunächst bestimmen die Autoren in einer allgemeinen Einführung „Koordinaten der Einsamkeit“ und tragen damit zu einem umfassenden – und vor allem psychologisch fundierten – Verständnis von Einsamkeit bei. Auf dieser Grundlage erschließen sie das „Reich der Solitude“, „Zufluchtsorte des Für-sich-Seins“, die „Weiten der Loneliness“, die „Inseln der Isolation“, „Ankerplätze im Mahlstrom“ sowie „Wege und Orte der Befreiung“.

Jeder dieser Abschnitte bündelt einzelne, im Zusammenhang wie für sich lesbare Kapitel, die den Leser mit unterschiedlichsten Orten vertraut machen – Orte im weiteren Sinne des Wortes, also auch Situationen, Konstellationen und Menschen, die sich in diesen bewähren: Es begegnen Meister Eckhart in mystischer Abgeschiedenheit oder Caspar David Friedrich am Meer, es werden aber auch Einblicke in die moderne Gefängis-Seelsorge gegeben. Damit folgt „Für sich allein“ dem bewährten Muster von Claussens vorangegangenem Buch „Die seltsamsten Orte der Religion“.

Gleichfalls in der Tradition von Claussens Büchern steht der „Atlas der Einsamkeiten“ auch dahingehend, dass der Zusammenhang von Zwangsmigrationen – „Flucht“ als „Menschheitsgeschichte“ – zur Sprache kommt und dabei auch das deutsche Vertreibungsschicksal thematisiert wird. An dieser Stelle sind es nun die ostpreußischen Wolfskinder, die hier in ihrer „Erinnerungseinsamkeit“ ins Licht treten. Gerade auch wegen solcher Kapitel lohnt sich die eingehende Beschäftigung mit  diesem Buch allemal.

Tilman Asmus Fischer

Johann Hinrich Claussen / Ulrich Lilie, Für sich sein. Ein Atlas der Einsamkeiten, München: Beck, 2021, 248 S. mit 8 Illustr., Klappenbroschur, 18,00 – ISBN 978-3-406-77488-1

O. T . erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2021.

Religion ist mehr als Konservatismus

Eine Entgegnung auf Wolfram Weimers Buch „Sehnsucht nach Gott“

Die empirische Widerlegung der Säkularisierungsthese beziehungsweise die „Wiederkehr der Religion“ findet bereits seit Jahren vielfältig publizistischen Niederschlag. Da die fortwährende – und, so ist anzunehmen, zunehmende – Bedeutung des Faktors Religion ein Thema von gesamtgesellschaftlicher Relevanz ist, ist es zu begrüßen, dass sich Denker unterschiedlichster politischer wie weltanschaulicher Provenienz an dieser Debatte beteiligen – und so auch Wolfram Weimer als Journalist mit einem ebenso katholischen wie konservativen Profil. Gerade aus einem solchen Blickwinkel sind durchaus denkwürdige Diskussionsbeiträge zu erwarten, denke man nur an die Impulse des Philosophen Robert Spaemann (1929-2018), auf den sich Weimer gerne bezieht. Umso bedauerlicher ist jedoch, dass Weimer die reichen Chancen, diese Perspektive fruchtbar zu machen, in seinem Buch „Sehnsucht nach Gott“ verspielt.

Das zentrale Problem liegt dabei in dem Zugriff des Verfassers auf „Religion“ – ein Begriff, dessen konzeptionelle Klärung fatalerweise unterlassen und der stattdessen für kulturelle und gesellschaftspolitische Zielsetzungen funktionalisiert wird. Eine funktionale Beschreibung von „Religion“ mag im Kontext einer religionssoziologischen Studie ihren Platz haben. Weimers Buch vermischt jedoch populärwissenschaftliche Überlegungen zur „Wiederkehr der Religion“ mit einer Programmschrift, die auf die Fruchtbarmachung von „Religion“ – bei der Weimer in diesem Zusammenhang vornehmlich an ein konservatives Christentum zu denken scheint – für Staat, Gesellschaft und Kultur abzielt.

Dies wird in entlarvender Weise deutlich, wenn Weimer gar auf die bevölkerungspolitische Dimension abhebt: „Der enge Zusammenhang von kulturell-religiöser Identität und gesellschaftlicher Dynamik wird auch in der Demografie sichtbar. Gesellschaften, die um ihren inneren Sinn nicht mehr wissen, die kein größeres Ziel mehr kennen als die Besitzstandwahrung, entfalten natürlich weniger Kräfte, mobilisieren weniger Begabungsreserven; bekommen letztlich weniger Kinder. Damit wird auch klar, dass mit einer Renaissance des kulturellen und religiösen Bewusstseins die Bereitschaft wieder wachsen dürfte, Zukunft auch unmittelbar in Form von Nachkommenschaft zu wollen und zu haben.“

An diesen Stellen wünschte man sich, Weimer würde seinen kollektiven Kinderwunsch als Christ zumindest schöpfungstheologisch aus dem biblischen Mehrungsgebot herleiten. Doch scheint es Weimer weniger um die Schöpfungsordnung zu gehen, als um die Rettung von Nation und Abendland. Diese Perspektive scheint etwa auf, wenn Weimer am Beispiel des Bildungssystems „die kulturelle Selbstschwächung unserer Nation durch Werte-Indifferenz“ oder an anderer Stelle die „Niedergangssklerose“ Europas beklagt. Mithin funktioniert Weimers Gegenwartsbeschreibung nur aufgrund eines holzschnittartigen Verfallsnarrativs, in dem den 1960er Jahren eine stereotyp prominente Rolle zukommt und das wahrscheinlich nicht umsonst an den russisch-orthodoxen Metropoliten Hilarion Alfejev erinnert.

Aber da ist ja zum Glück „der Religiöse“ – ein weiterer Pauschalbegriff, den Weimer mehrfach verwendet und hinter dem sich wahrscheinlich der „religiös [geprägte Wertkonservative]“ verbirgt, den Weimer an anderer Stelle erwähnt. Hierfür spricht nicht zuletzt die nahezu synonyme – und in beiden Fällen unreflektierte – Verwendung der Topoi Religiosität und Konservatismus. Damit liegt hier, unabhängig vom eigenen Standpunkt, eine problematische Vereinnahmung von „Religion“ durch eine ihrer spezifischen Ausprägungen vor. In ähnlicher Weise problematisch ist die Rede von der „einen, der christlich-jüdischen Religion“, deren „kulturelle Macht“ Weimer beschwört.

Nun denn, „der Religiöse“ verfügt in jedem Fall über „ein Empfinden für Zivilisation, für die langen Linien von Herkunft und Zusammenhang, für die tiefe Melodie einer Kultur“. Deren Bezugspunkt ist bei Weimer Europa bzw. der „,Westen‘ als eine Wertegemeinschaft“.

Ebenso fragt „der Religiöse“ nach Identität, und stemmt sich damit gegen den Missstand, den Weimer für Deutschland diagnostiziert: „Kaum ein Horizont der Deutschen reicht weiter zurück als bis 1933, wir kennen die langen Linien unserer Herkunft nicht, nicht einmal mehr ihre rudimentären Sagen.“ Religion im Dienst nationaler Identitätsstiftung? Ein,  zumal für einen Katholiken, möchte man ergänzen, befremdlicher Zungenschlag.

Freilich, in politischer Hinsicht ist Weimer hier voll zuzustimmen. Dass der globale Westen zumal angesichts des aus Moskau und Peking beförderten neuen Autoritarismus ein gefährdetes und bewahrenswertes Gut darstellt, steht außer Frage. Unter theologischer Perspektive, der sich der Autor, wenn er als bekennender Christ schreibt, gleichfalls zu stellen hat, ist jedoch deutlich anzufragen, inwiefern die eurozentrische – und zuletzt gar nationale – Indienstnahme des Christentums dessen Selbstverständnis gerecht wird.

Gewiss vermag Weimer auch andere Szenarien zu entwickeln: „Womöglich wird das Nationale als Identitätsfigur der Massen nachlassen, insbesondere in einer globalisierten Welt des permanent erfahrbaren Multikulturalismus. Womöglich wird die Religion das neue Gefäß kollektiver Identität. Schon jetzt macht der Begriff ,Glaubensbrüder‘ Karriere. Im islamischen Raum ist er längst zu einem starken Ferment politischen Verhaltens geworden. Wer sagt uns, dass wir nicht auch im Westen in einigen Jahren in den Kategorien des Christlichen die politische Weltkarte betrachten und politische Ereignisse danach beurteilen?“

Nicht aber etwa, dass das Christentum in seinem nationale und andere identitäre Grenzen überwindenden Potenzial zur Sprache gebracht würde. Vielmehr wird – in Antwort auf den politischen Islam, den Weimer vielfach und ohne sonderliche Differenziertheit geißelt – mit dem Gedanken einer eigenen politischen Theologie gespielt. Auch hier, wo keine nationale Vereinnahmung stattfindet, erscheint Religion funktionalisiert: nicht etwa als durch Transzendenzbezug der Immanenz enthobenes Phänomen, sondern als höchst innerweltliches identitätspolitisches Instrument, eben als „Gefäß kollektiver Identität“.

Es ist symptomatisch, dass die Bedeutung von Religion als Ausdruck gelebten individuellen Glaubens – in den Worten Schleiermachers als „eigene Provinz im Gemüte“ – lediglich in einem kurzen Schlusskapitel nachklappt. Relevanz gewinnt diese Perspektive damit in keiner Weise – und damit fällt das Buch hinter Einsichten der Religionsphilosophie und -phänomenologie zurück, die sich seit der Aufklärung etabliert haben. Was bleibt, sind Versatzstücke einer politischen Theologie, die letztlich eine christlich-traditionalistische Zivilreligion propagiert. Und dass diese „gut für unsere Gesellschaft ist“, wie es der Untertitel von Weimers Buch suggeriert, dürfte mehr als fraglich sein.

Erschienen am 2. Dezember 2021 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Heimweh nach Gott

Wie kann heute eine zeitgemäße Religiosität aussehen? Stefan Seidel spürt in seinem Buch „Nach der Leere“ neue Formen von „Religiosität“ in der heutigen Dichtung, Malerei, Philosophie und ökologischen Achtsamkeit auf, die tragen und trösten. Im Interview mit Tilman A. Fischer spricht der Autor über die Potenziale der Idee von einer „religionslosen Religiosität“

Herr Seidel, religionssoziologische Beschreibungen unserer Zeit schwanken zwischen „Säkularisierung“ und „Wiederkehr der Religion“. Wo positionieren Sie sich mit Ihrer Gegenwartsanalyse zwischen diesen Narrativen?

Tatsächlich glaube ich, dass beide Beschreibungen zutreffen: Wir leben einerseits in radikal religionslos gewordenen Zeiten, in denen die Bindung an eine Religion weitgehend verloren ist. Das hat mit dem Voranschreiten der Moderne zu tun, die der Religion nur noch eine Nische für den privaten Gebrauch lässt. Die allumfassende Macht der technisch-ökonomischen Vernunft hat das alte Göttliche hinweggefegt. Es soll kein Heil außerhalb der rational-technischen Markt-Vernunft geben. Doch andererseits wächst auch eine Sehnsucht nach neuer Rückbindung an ein größeres Ganzes, ein Heimweh nach Gott. Und dies bricht sich nicht nur Bahn in der Esoterik oder im Fundamentalismus, sondern auch in positiver Weise in der Dichtung, der Kunst und dem neuen Bewusstsein von der Heiligkeit der Natur.

Diese positive Idee einer „religionslosen Religiosität“ für das 21. Jahrhundert beschreiben Sie in Ihrem Buch „Nach der Leere“. Was darf sich der Leser unter diesem zunächst paradox klingenden Begriff vorstellen?

Das ist einfach die Entdeckung, dass heute Formen der Verbindung mit dem Göttlichen oder Heiligen existieren, die nicht das ausdrückliche Etikett „Religion“ tragen. Ich habe das selbst erlebt im Berührtwerden durch ein tiefes Mitleid mit leidenden Tieren. Da ist etwas von dem unantastbar Heiligen, das in jedem Leben wohnt, aufgeblitzt und hat zu einer neuen Ehrfurcht und einem Respekt vor der Würde der Tiere gezwungen. Ich denke, dass viele Menschen, die sich heute für die Bewahrung der Erde und den Schutz der Tiere einsetzen etwas von dem Kern der alten Religion in einer neuen Form bewahren. Oder da sind die Gedichte Tomas Tranströmers, in denen plötzlich etwas von dem unaussprechlichen Größeren, das wir „Gott“ nennen können, aufblitzt und einen tiefen Trost erzeugt. So gibt es heute viele religionslose Religiositäten im Vollzug, indem sich auf eine größere Liebe bezogen wird. Gott wird hier nicht formal mit Worten bekannt, sondern er ereignet sich.  

Welcher ethische Anspruch verbindet sich mit dieser möglichen Form neuer Religiosität?

Da geht es nicht um Gebote oder feste moralische Normen, sondern um das, was der Prophet Jeremia den neuen Herzens-Bund nennt, den Gott schließen möchte. Da geht es nicht mehr um Gesetze aus Stein, sondern um das Gottes Gesetz im Herzen des Menschen. Da wird nicht mehr einer den anderen belehren und gefordert werden „Erkenne den Herrn“, wie es heißt. Sondern darum, dass sich tief im Inneren das Eigentliche Bahn bricht und Früchte bringt – Mitgefühl, Liebe, Empfindsamkeit, das Bestreben, Leiden zu mindern, Trost zu stiften, Hoffnung zu weiten. Ich denke, diese Religiosität des Liebens, diese Kultivierung des Herzensbundes Gottes wollte auch Jesus, der gesagt hat, dass nicht die, die „Herr, Herr“ sagen ins Himmelreich kommen, sondern die den Willen seines Vaters tun. Und das ist die Liebe, die tausend Gesichter hat und die jeder auf seine je eigene Art entdecken und leben soll. 

Ihre Suche nach Ansätzen einer „religionslosen Religiosität“ bewegt sich vornehmlich im Bereich ästhetischer Ausdrucksformen und philosophischer Reflexion. Damit setzt sie eine gewisse kulturelle bzw. intellektuelle Prägung voraus, die aber wohl nur bei einem Teil der gläubigen wie nichtgläubigen Menschen angenommen werden kann. Wie können Ihre Überlegungen für eine kirchliche Praxis fruchtbar gemacht werden, die nicht nur bildungsbürgerliche Kreise adressiert?

Mein Buch ist einfach ein ausschnitthaftes und persönliches Zeugnis von den Quellen heute möglicher Gott-Bezogenheit, die in mir Resonanz ausgelöst haben. Gewissermaßen als beispielhafte Ermutigung dazu, dass jeder seine Quellen entdeckt. Natürlich hoffe ich, dass sich etwas von meinem Berührtwerden in den Gedichten, Bildern, philosophischen Denkversuchen und in einem neuen Bezug zur Natur auf andere überträgt. Aber mehr noch sollte jeder sein eigenes Herz öffnen und offen sein dafür, auf welche Weise ihn die größere Liebe heute anspricht und Gestalt annehmen will.

Stefan Seidel: Nach der Leere. Versuch über die Religiosität der Zukunft. Claudius Verlag 2020, 160 Seiten, 18 Euro, als eBook 15,99 Euro

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 41/2021.

Kurz vorgestellt: „Schöpfung ohne Krone“ von Eileen Crist

Ein wachrüttelndes und nachdenklich stimmendes – jedoch auch zu kritischen Rückfragen anregendes – Buch hat die amerikanische Soziologin Eileen Crist verfasst: „Schöpfung ohne Krone“. Der Titel lässt bereits eine Infragestellung des Menschen erahnen – und hinsichtlich der in den letzten Jahrtausenden entfalteten Lebensweise des Homo sapiens trifft dieser Eindruck auch zu. Denn die Autorin zeigt in einer detail- und materialreichen Analyse den inneren Zusammenhang zwischen menschlichem Überlegenheitsdenken gegenüber der nichtmenschlichen Mitschöpfung einerseits und dem krisenhaften gegenwärtigen Artensterben andererseits auf.

Dabei geht sie nicht zuletzt auch mit der christlich-jüdischen bzw. abendländischen Geistesgeschichte ins Gericht, die es beförderte, den Menschen als ‚Krone der Schöpfung‘ zu stilisieren und damit seinen Expansionismus zulasten der unberührten Natur zu befördern. Kaum kommen hingegen Ansätze aus der reichen biblischen und theologischen Tradition zur Sprache, die den Menschen in seiner Verantwortung gegenüber und seiner Verbundenheit mit der Schöpfung ansprechen und seine eigene Hybris infrage stellen. Hätte man sich hier etwas ‚Milde‘ im Urteil gewünscht, so verwundert wiederum Crists Ringen mit der Frage, inwieweit der Drang des Menschen zur Beherrschung der Natur in seinem Wesen veranlagt sei. Zumindest seine Wirksamkeit will sie jedoch v. a. durch „soziohistorische Konditionierung“ erklären. Doch fragt sich: Wäre – angesichts ihrer Kritik am Gebaren der Menschen – hier ein dualistisches Menschenbild in scholastischer Tradition (a la „simul iustus et peccator“) nicht ehrlicher?

Tilman Asmus Fischer

Eileen Crist: Schöpfung ohne Krone. Warum wir uns zurückziehen müssen, um die Artenvielfalt zu bewahren. oekom verlag, München 2020, 400 Seiten, EUR 28,–

In ähnlicher Form erschienen am 19. August 2021 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

„Wir sind keine Propheten“

Wie kann man heute verantwortlich davon reden, dass Gott in der Welt handelt? Ein im April veröffentlichtes Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen befasst sich mit dem „Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens“. Michael Beintker, emeritierter Professor für Systematische Theologie und bis Frühjahr 2021 Ausschussvorsitzender, erläutert im Interview mit Tilman Asmus Fischer, was es bedeutet, Gottes Handeln als Metapher zu verstehen. Er spricht darüber, wie wir angesichts von Corona von diesem Handeln noch singen können.

Herr Beintker, seit einigen Wochen darf in Gottesdiensten wieder gesungen werden. Aber können wir – zumal ‚nach Corona‘ – noch vom Handeln Gottes so singen wie früher? Konkret: was setzt es voraus, mit Paul Gerhardt (EG 325,5) einzustimmen: „Meiner Seele Wohlergehen hat er ja recht wohl bedacht, will dem Leibe Not entstehen, nimmt er’s gleichfalls wohl in acht“?

Es setzt auf alle Fälle ein vertrauensvolles Verhältnis zu Gott als dem Herrn meines Lebens voraus. Sodann ist das Vertrauen, dass mir Gott in den Nöten und Leiden meines Lebens hilft, unabdingbar. Gott kann diese Erwartung enttäuschen und das erleben wir auch immer wieder. Dann singen wir vielleicht mit einem reformierten Psalm von Gott, „der Lasten auf uns legt, doch uns mit unsern Lasten trägt“ (EG 281,3). Aber es ist auf alle Fälle so, dass man auch in der Enttäuschung der Gegenwart Gottes gewiss sein kann. Deshalb dürfen wir nicht aufhören zu singen, wie Paul Gerhard es uns empfiehlt.

Als sachgemäßes Verständnis vom Handeln Gottes schlägt das unter Ihrer Leitung erarbeitete Votum dasjenige einer Metapher vor. Und so lassen sich auch Paul Gerhardts Worte als metaphorische Rede verstehen. Worin liegen die Vorzüge eines metaphorischen Verständnisses des Handelns Gottes?

Dahinter steht ein Verständnis von Sprache, das die Übertragung von Sachverhalten in Bilder – darum geht es ja in Metaphern – ernstnimmt und erkennt: Mit Blick auf Gottes Geheimnis ist es so, dass wir von einer Wirklichkeit reden, für die wir eigentlich keine Sprache haben. Wir reden vom Unendlichen mit den Mitteln des Endlichen – oder vom Ewigen mit den Mitteln des Zeitlichen. Wir können uns eigentlich nur an der Sprache orientieren, die Gott uns selber schenkt. Das ist die Sprache des Glaubens, wie wir sie mit der Bibel erlernen. Die Metapher des Handelns hilft uns, das, was unsagbar und eigentlich auch gar nicht genau beschreibbar ist, auszusprechen und uns dafür einen Wirklichkeitsraum zu erschließen, den wir ohne sie nicht hätten.  So führt uns die Metapher in die Weite und Tiefe der Wirklichkeit Gottes.

Für Paul Gerhardt gehören zu dieser Wirklichkeit auch – drei Strophen später besungen – Gottes „Strafen, seine Schläge“ als „Zeichen, dass mein Freund, der mich liebet, mein gedenke und mich von der schnöden Welt, die uns hart gefangen hält, durch das Kreuze zu ihm lenke“. Wie singbar ist das im Sommer 2021?

Hier wird es schwierig. Paul Gerhardt dichtet in einer Situation, in der die Rede von den Widrigkeiten, die mein Leben prägen, zu schnell mit den Strafen Gottes verknüpft worden sind. Dabei soll der Gedanke trösten, dass der, der mich liebt, mich auch schlägt – und dann sind die Schläge nicht so schlimm. Das können wir in dieser Weise nicht mehr sagen, weil wir nicht in das Geheimnis Gottes schauen, um zu ergründen, wo Strafmotive liegen könnten, sondern um die Liebe zu erkennen, mit der Gott uns hält. Aber es ist natürlich so, dass die Dinge, die uns umwerfen, uns in bestimmter Weise auch immer wieder zu neuen produktiven Erfahrungen führen können. Ich habe in meinem Leben jedenfalls niemals erlebt, dass eine negative, sehr einschneidende Erfahrung am Ende nicht doch auch eine Erfahrung war, in der ein versteckter Segen lag. Aber das kann man überhaupt erst hinterher sagen und nicht in der akuten Situation – und schon gar nicht, um damit den Gedanken zu artikulieren, dass wir bestraft werden.

(Foto: MichaelGaida)

Sollte also von Gottes Strafe in Theologie und Kirche geschwiegen werden? Der frühere Militärbischof Hartmut Löwe hatte ebendiese Tendenz angesichts der Pandemie im Mai 2020 kritisiert.

Ich fand es – ähnlich wie Altbischof Löwe – verwunderlich, dass manche gesagt haben: „Das kann überhaupt nicht Gottes Strafe oder Gottes Gericht sein.“ Da habe ich mich gefragt: Woher wissen die das eigentlich? Und umgekehrt, bei denjenigen, die gesagt haben: „Ja, das muss ein Ausdruck des Gerichts Gottes sein und Gott straft“, da habe ich mich genauso gefragt: Woher wissen die das? Eigentlich muss man Prophet sein, um Fragen dieser Art zu beantworten – und da wir keine Propheten sind, ist es uns verwehrt, diese Fragen in der einen oder anderen Richtung zu beantworten. Was wir freilich sagen müssen, ist dies: Auch diese Krise hat etwas mit Gott zu tun. Das sagen wir schon deshalb, um Gott anzurufen, dass er uns verschont und dass er uns errettet; dass er der Medizin Möglichkeiten öffnet, wie wir dem Virus standhalten. Man kann nicht sagen: Diese Krise hat mit Gott überhaupt nichts zu tun. Denn damit würde man sagen: Alle entscheidenden Dinge, die in dieser Welt passieren, haben letztlich mit Gott nichts zu tun. Das wäre, finde ich, Gott nicht gemäß und auch dem Leben und unserer Erfahrung nicht gemäß.

Zu den Erfahrungen von Christinnen und Christen aller Zeitalter gehörte immer wieder, dass Gott nicht – bzw. nicht so, wie erwartet – handelt. Wie lässt sich das in die metaphorische Rede vom Handeln einfügen, die doch Aktivität vorauszusetzen scheint?

Die binäre Unterscheidung von Aktivität und Passivität ist viel zu einfach. Insbesondere der Weg ans Kreuz zeigt, dass Gott sich zurücknehmen und aller Gewalt und Allmacht entäußern kann. Dies ist jedoch keine Passivität. Denn auch das Lassen oder Unterlassen geschieht aus einem bestimmten Motiv heraus und ist insofern auch Handeln. Und so erfährt man auch im Nicht-Handeln Gottes, dass er handelt – jedenfalls, wenn man davon überzeugt ist, dass Gott existiert und das Leben bestimmt. Die Klagepsalmen sind nicht geschrieben worden aus der Überzeugung, dass Gott sich irgendwo zurückgezogen hat. Vielmehr klingt in ihnen die Enttäuschung an, dass er nicht handelt, obwohl er handeln müsste. Die Erfahrung, dass Gott nicht handelt, ist eine Glaubenserfahrung, die vor Gott ausgehalten werden muss.

Könnte dies letztlich auch zu einem Umdenken für unsere eigene Lebensführung Anlass geben?

Der moderne Mensch misst sein Menschsein an seiner Aktivität. Es könnte sich also positiv auf unsere Lebensökonomie auswirken, wenn wir uns klarmachen, dass nicht einmal Gott, der am siebten Tag von seinem Schöpfungswerk ausruhte, pausenlos aktiv ist. Auch wir müssen nicht ständig leisten.

Zum Weiterlesen: Michael Beintker u. Albrecht Philipps (Hgg.), Das Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) und Vorträge aus de, Theologischen Ausschuss zur Frage nach dem Handeln Gottes (= Evangelische Impulse, Bd. 9), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2021. 310 Seiten, 19 Euro, ISBN 978-3-7887-3515-9.

Erschienen in: „die Kirche“ – Evangelische Wochenzeitung für Berlin, Brandenburg und die schlesische Oberlausitz 29/2021.

Gott und die Welt in Berlin

Fotografinnen und Fotografen zeigen Religion als eine „Angelegenheit des Menschen“

Von Wen-Ling Chung und Tilman A. Fischer

„Glaube ich?“ – „Ist Glaube notwendig?“ Diese und verwandte Fragen waren zu jeder Zeit von Bedeutung. In einer von Säkularisierung ebenso wie von religiöser Diversifizierung geprägten Stadt wie Berlin stellen sie sich in besonderer Intensität. Exemplarisch nachgespürt haben ihr aus unterschiedlichen Perspektiven 13 junge Künstlerinnen und Künstler von der privaten Berliner „Ostkreuzschule für Fotografie“. Die Guardini Galerie präsentiert ihre Interpretationen der Frage nach Religion bzw. ihre visualisierten Antworten im Rahmen der Ausstellung „Berlin, Gott und die Welt“.

Dabei stehen die Kunstwerke für einen weiten Religionsbegriff ein, der über das Fürwahrhalten von Glaubenssätzen hinausgeht und Religion im existenziellen Sinne als eine – in den Worten Johann Joachim Spaldings – „Angelegenheit des Menschen“ erfasst: stets geht es auch um eine Selbstbefragung hinsichtlich Sinn, Identität und Selbstverhältnis. So reflektiert etwa Massimiliano Corteselli („The first crow that cracked a nut“) über das Gefühl von Einsamkeit im Verwiesensein des Menschen auf seinen eigene Körper.

Andere Fotografinnen und Fotografen befassen sich mit Fragen der Sexualität oder auch mit den Wechselbeziehungen zwischen religiöser und ethnischer bzw. politischer Identität. „Das Buddhistische Haus. Ehi passiko – komm und sieh“ von Janick Entremont dokumentiert den ältesten buddhistische Tempel Europas in Frohnau. Kleine Details des Tempels, die normalerweise nicht bemerkt würden, werden sehr genau betrachtet und in Nahaufnahmen gezeigt.

„Beyond mountains more mountains“ von David Remmtsen porträtiert die Minderheitsgruppe der Jesiden in Berlin, die wegen politischer Verfolgung und Genozid vor dem sogenannten „Islamischen Staat“ nach Deutschland geflüchtet sind. Das Foto einer Geburtstagsfeier stellt die inneren Spannungen ihres Lebens eindrücklich dar: Die jugendliche Hoffnung der Teenager bricht sich mit Besorgnis angesichts der Vergangenheit und offener Zukunftsfragen: Die Leidensgeschichte der Jesiden – Traumata, Diaspora und Identitätssuche Identität – mischt sich mit neuen Unsicherheiten, auch angesichts der aktuellen Pandemielage.

Mit dem Gebet nimmt Mirka Pflüger („Zwei Teile Ein Ganzes“) einen der wichtigsten Vollzüge des Glaubenslebens in unterschiedlichen Religionen in den Blick. Es liegt nicht am gegenwärtigen „Social Distancing“, dass die Beterinnen und Beter nicht in dichter Gemeinschaft erscheinen. Vielmehr geht es der Künstlerin um das Beten als einen intensiven Dialog zwischen dem Beter und Gott, der eines physisch wie seelisch geschützten Raumes bedarf. Komplementär zu Pflüger nimmt Timo Schlüter die Orte religiöser Praxis in den Blick: Statt Menschen fokussiert er auf die „Fassaden des Glaubens“ – Außenansichten der Gebäude von verschiedenen Religionsgemeinschaften in Berlin. Was bleibt: „profane“ Alltäglichkeit oder stille Feierlichkeit? Dieser und anderen Fragen nachzugehen, laden die Kunstwerke noch bis Ende des Monats in der Guardini Galerie ein.

„Berlin, Gott und die Welt“, Guardini Galerie (Askanischer Platz 4, 10963 Berlin), Montag bis Freitag von 13 bis 18 Uhr, Eintritt frei; weitere Informationen: http://www.guardini.de

Erschienen in: „die Kirche“ – Evangelische Wochenzeitung für Berlin, Brandenburg und die schlesische Oberlausitz 25/2021.