„Die Opferrolle nicht aus dem historischen Kontext herauslösen“

Als „Opfernationalismus“ deutet der Historiker Jie-Hyun Lim geschichtspolitische Narrative, die sich in den vergangenen Jahrzehnten sowohl in Europa als auch in Asien etabliert haben. Im Interview ordnet er die deutsche Erinnerung an das Kriegsende am 8. Mai ein.

Der Historiker Jie-Hyun Lim ist Professor für Transnationale Geschichte an der Sogang-Universität in Seoul, Südkorea. In diesem Jahr ist sein erstes deutschsprachiges Buch, „Opfernationalismus. Erinnerung und Herrschaft in der postkolonialen Welt“, erschienen.

Herr Lim, in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Buch bieten Sie das Interpretament des „Opfernationalismus“ für die Analyse geschichtspolitischer Diskurse an. Welche Phänomene beschreiben Sie hiermit?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass der ursprüngliche Begriff im Englischen nicht „victim nationalism“, sondern „victimhood nationalism“ lautet. Dieser Unterschied scheint trivial zu sein, ist aber bedeutsam. Es geht nicht um den möglichen Nationalismus der eigentlichen Opfer, sondern um den mnemonischen Nationalismus der nachgeborenen Generation bzw. Generationen. Jedoch befürchte ich, dass die deutsche Übersetzung „Opfernationalismus“ den nuancierten Unterschied zwischen beiden Übersetzungsmöglichkeiten verwischen könnte. Als die polnische Zeitschrift Więź einen meiner Artikel ins Polnische übersetzte, tauschte ich einige E-Mails aus, um eine angemessene Formulierung im Polnischen zu finden. Die endgültige Fassung lautete: „Nationaler Größenwahn der Opfer“. Nicht zufriedenstellend, aber es gab keine andere Möglichkeit. Jede Übersetzung steht vor solchen Herausforderungen. Dabei setzt sich das Übersetungsproblem beim Begriff des „Opfers“ fort.

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Erschienen am 8. Mai 2014 auf cicero.de.

Glaube – Heimat – Verständigung

Zum Tod von Helmut Sauer

Am 10. Januar ist Helmut Sauer, langjähriger CDU-Bundestagsabgeordneter und Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen (BdV), im 79. Lebensjahr in Braunschweig verstorben. Das Licht der Welt erblickte er am Heiligabend 1945 im schlesischen Quickendorf (Kreis Frankenstein). Im April des Folgejahres wurden er und seine Familie – die Eltern und seine Schwester Renate – aus ihrer Heimat vertrieben. Dem Schulabschluss folgte eine kaufmännische Ausbildung in der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft in Salzgitter.

Insbesondere im politischen Ehrenamt blieb Sauer der Heimat seiner Familie und Geburt verbunden. Im Alter von nur 19 Jahren trat Sauer 1965 der CDU bei, deren Kreisvorsitzender er 1971 wurde. Bereits 1967 reiste er erstmals – gemeinsam mit dem Stadtjugendring Salzgitter – nach Schlesien. Dieser Reise sollten noch viele weitere in unterschiedlichen Funktionen folgen. Von den sich dabei zutragenden Begegnungen – sowohl mit Heimatverbliebenen als auch polnischen Gesprächspartnern – wusste er stets mit einer großen Begeisterung zu berichten. 1972 wurde Sauer – als zu diesem Zeitpunkt jüngster Abgeordneter – in den Deutschen Bundestag gewählt. Diesem sollte er bis 1994 angehören – 22 Jahre, in denen er sich nicht nur um die deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedler – dann Spätaussiedler –, sowie die Deutschen im östlichen Europa verdient machte, sondern ebenso um weitergehende Menschenrechtsfragen und die deutsch-polnischen Beziehungen. Über die Zeit als Parlamentarier hinaus war Sauer zudem bis 2017 Bundesvorsitzender der Ost- und Mitteldeutschen Vereinigung der CDU; das Amt hatte er seit 1989 inne.

Helmut Sauer, der 1982 zum Landesvorsitzenden der Landsmannschaft Schlesien in Niedersachsen gewählt worden war, amtierte zudem von 1984 bis 1992 und von 2000 bis 2014 als Vizepräsident des BdV. Zum Tod Sauers erklärte BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius: „Fast vier Jahrzehnte war Helmut Sauer nicht nur einer der wichtigsten Verantwortungsträger in unserem Verband, sondern auch Freund und Wegbegleiter sowie hochgeschätzter Mitstreiter in vielen unserer Anliegen.“ Sauer bleibe, so Fabritius, für alle Verantwortungsträger des BdV „in seiner Sachorientiertheit, seiner Menschlichkeit und seiner Motivation Vorbild und Antrieb zugleich“.

Zugleich erinnerte Fabritius an den engen Zusammenhang zwischen Sauers Heimatverbundenheit und seiner Religiosität: „Glaube und Heimat – so hat er es selbst immer wieder betont – waren wichtige Leitmotive seines Lebens. Im katholischen Glauben Schlesiens tief verwurzelt, hatte er sich eine gesunde Volksfrömmigkeit bewahrt.“ Eine zentrale Rolle kam dabei dem aus der mütterlichen Verwandtschaft stammenden katholischen Priester und Reichstagsabgeordneten der Zentrumspartei Carl Ulitzka zu, der ebenso in der Weimarer Republik für die Demokratie eintrat, wie er sich in der Zeit des Dritten Reichs gegen die nationalsozialistische Rassen- und Kirchenpolitik stellte. Man darf in Ulitzka wohl nicht umsonst ein Vorbild nicht nur für die dezidiert christliche, sondern zudem tiefst proeuropäische Orientierung Sauers sehen.

Der diesem Erbe entsprechende gesellschaftliche und politische Einsatz Sauers wurde auf vielfältige Weise gewürdigt: mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ebenso wie mit dem Schlesier-Kreuz der Landsmannschaft Schlesien sowie der Verdienstmedaille des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen. Mit der – aus tiefster Überzeugung erwachsenen – Verbindung von Heimatverbundenheit und Passion für die Völkerverständigung hat Helmut Sauer die Vertriebenen- sowie die deutsch-polnische Partnerschaftspolitik nachhaltig geprägt. Hier wie jenseits von Oder und Neiße wird man ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Westpreußen – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2024.

Eine Chance für Bildung und Verständigung

Die Union Evangelischen Kirchen plant die Rückkehr eines Kunstschatzes nach Danzig. Ein Gastkommentar

Von Tilman A. Fischer

Bereits seit Jahrzehnten zeigt das Lübecker Annen-Museum wechselnde Einzelstücke aus dem Danziger Paramentenschatz – kunsthistorisch bedeutende liturgische Gewänder aus vorreformatorischer Zeit, die sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Besitz der evangelischen Marienkirchengemeinde in Danzig befunden hatten. Deren letzter Pfarrer, Gerhard Gülzow, rettete die kostbaren Textilien vor der Kriegszerstörung. Deren einer Teil landete in Thüringen, von wo er bereits kurz nach dem Krieg nach Danzig verbracht wurde – freilich nicht in die Marienkirche, sondern rechtswidrig in den staatlichen Besitz des Nationalmuseums Danzig. Der andere Teil gelangte – ebenso wie übrigens viele vertriebene Danziger – nach Lübeck. Hier wird er im Annen-Museum als Leihgabe der Union Evangelischer Kirchen (UEK), der Rechtsnachfolgerin der Danziger Gemeinde, öffentlich präsentiert – ebenso wie Einzelstücke im Germanische Nationalmuseum in Nürnberg.

Am 8. Dezember 2022 teilte die UEK über eine Pressemitteilung mit, sich mit der heute katholischen Marienkirchengemeinde in Danzig in einem „Letter of Intent“ auf eine Rückkehr der Paramente an ihren Herkunftsort und in das Eigentum der katholischen Gemeinde verständigt zu haben – unter der Auflage einer adäquaten Präsentation sowie konservatorischen Betreuung und bei fortgesetzter Präsenz von Einzelstücken als Leihgaben in Lübeck und Nürnberg. Diese Entscheidung bietet eine große Bildungschance: Am historischen Ort kann ausgehend von dem Paramentenschatz die Bedeutung des gemeinsamen deutsch-polnischen Kulturerbes – sowie die gemeinsame bzw. geteilte Geschichte beider Nationen – der Öffentlichkeit sichtbar gemacht und erschlossen werden.

Überrascht von der Entscheidung wurden im vergangenen Jahr die noch lebenden Vertriebenen aus Danzig und dessen Umland – dem früheren Westpreußen – sowie ihre historisch interessierten Nachfahren, die von dieser Vereinbarung erst durch die Presse erfuhren. Umso erfreulicher war es, dass die UEK ein Jahr später, am 8. Dezember 2023, die Öffentlichkeit zu einer Informations- und Diskussionsveranstaltung ins Haus Hansestadt Danzig in Lübeck eingeladen hat. Hier kamen neben Mitgliedern des deutsch-polnischen Beirats, der die Rückkehr der Paramente begleitet, auch Vertreter der Vertriebenen und ihrer Nachfahren zu Wort. Aus deren Reihen wurden kritische Anfragen – teils auch eine klare Ablehnung des Vorhabens –, jedoch auch weiterführende Vorschläge formuliert wie die Schaffung einer europäischen Institution, die für Bewahrung und Präsentation der Paramente in Danzig verantwortlich sein solle.

Erfreulich klar bekannten sich sowohl der Prälat der Marienkirche, Ireneusz Bradtke, als auch der Danziger Kunsthistoriker Tomasz Torbus zur gemeinsamen deutsch-polnischen – mithin europäischen – Prägung der kulturellen Identität Danzigs. Der von deutscher Seite her den Beirat koordinierende Oberkirchenrat Martin Evang betonte in seinem Statement, dass die UEK seit jeher wiederholt erhobene Eigentumsansprüche des polnischen Staates auf Sakralkunst evangelischer Gemeinden aus den früheren, heute zu Polen gehörenden, Kirchenprovinzen stets abgelehnt habe. Die anvisierte Schenkung erfolge aus voller Freiheit – dies werde auch durch den zu unterzeichnenden Schenkungsvertrag nochmals festgeschrieben.

Der Autor dieses Beitrags selbst würdigte als Vertreter der Westpreußischen Gesellschaft die beabsichtigte Rückkehr der Paramente als Beitrag sowohl der deutsch-polnischen Verständigung im obigen Sinne als auch als einen solchen der Ökumene. Der Gesichtspunkt, dass die UEK ihr rechtmäßiges Eigentum aus freiem Willen schenke, sei dabei insofern bedeutsam, als diese Klarstellung davor bewahre, die Schenkung mit gegenwärtigen Diskurse um die Restitution von Raubkunst zu vermischen.

Zu hoffen ist, dass die Einbindung der Vertriebenen und ihrer Nachfahren auf dem weiteren Weg hin zur Rückkehr der Paramente fortgesetzt wird. Eine solche Einbindung ist theologisch gut begründet: zum einen als Ausdruck der seelsorgerlichen Verantwortung gegenüber den betroffenen Mitgliedern der UEK-Gliedkirchen, zum anderen vom Selbstverständnis einer Kirche her, die sich als zivilgesellschaftlicher Akteur im Austausch mit anderen Kräften der Zivilgesellschaft versteht. Sollte dem Rechnung getragen werden, besteht Aussicht, dass die Rückkehr der Paramente tatsächlich zu Verständigung und Versöhnung beiträgt.

Tilman Asmus Fischer ist Vorstandsbeauftragter der Westpreußischen Gesellschaft – Landsmannschaft Westpreußen e.V. Der evangelische Theologe ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig.

Unter ähnlichem Titel erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 2/2024. Eine Kurzfassung erschien in: Evangelisch Zeitung (Schleswig Holstein) 2/2024.

Stein gewordene Erinnerung

Westpreußische Denkmäler nach dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft – eine Spurensuche

„Und Jakob nahm einen Stein und richtete ihn auf als Denkmal.“ (Gen 31,45) Bereits das Alte Testament bezeugt das urmenschliche Bedürfnis, existenziellen Erlebnissen und Erfahrungen sichtbaren und dauerhaften Ausdruck zu verleihen, sie durch das Errichten von Gedenksteinen – später Denkmälern – in das Gesicht der Landschaft einzuschreiben. Im Moment erleben wir vielfältige Debatten um die symbolische Gestaltung des öffentlichen Raums in Form von Straßennamen oder Denkmälern. Solche Diskussionen, wie wir sie in freiheitlichen Demokratien führen, waren und sind in autoritären Systemen nicht möglich. In ihnen ist der öffentliche Raum den Narrativen der politischen Führung unterworfen. Dies galt auch für die Volksrepublik Polen – mit der Folge, dass in den historischen deutschen Ostgebieten Erinnerungen an die früheren Bewohner eliminiert, die verbliebene deutsche Bevölkerung mangels der Möglichkeit politischer Artikulation von der Gestaltung des öffentlichen Raums ausgeschlossen und ein sichtbares Gedenken an deutsche Kriegsopfer per se tabuisiert war.

Mit dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft fand nicht nur eine Demokratisierung des politischen Systems, sondern ebenso eine solche der Erinnerungskultur und des öffentlichen Raums statt. Bisher unterdrückte Positionen hatten die Möglichkeit, sich zu artikulieren. Was bedeutet dies für die Denkmal-Landschaft einer Region? Dies sei im Folgenden für das Land an der unteren Weichsel nachvollzogen. Hier kam es seit 1990 zu vielfältigen Initiativen, das deutsche Erbe als Teil gemeinsamer deutsch-polnischer Geschichte sowie das Schicksal der deutschen Vertreibungsopfer öffentlich bewusst zu machen. Initiatoren waren sowohl Angehörige der deutschen Volksgruppe und Heimatvertriebene als auch Kirchengemeinden oder weitere zivilgesellschaftliche und kommunale Akteure. Welche historischen Phänomene werden mit den von ihnen errichteten Denkmälern auf welche Weise thematisch? Und welche gestalterischen Akzente setzen die unterschiedlichen Denkmäler?

Für eine Spurensuche bietet sich der von Gisela Borchers erstellte und 2013 von der Landsmannschaft Westpreußen herausgegebene Katalog „Erinnerungsstätten in Westpreußen“ als Ausgangspunkt an. Auch wenn diese Zusammenschau – schon ob der Tatsache, dass sie vor zehn Jahren erschienen ist – keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, vermag sie doch eine grundlegende Orientierung zu geben über die Entwicklungen der westpreußischen Denkmal-Landschaft nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Versucht man, aus den zusammengetragenen 134 Erinnerungsstätten eine Typologie westpreußischer Denkmäler zu entwickeln, ergeben sich auf den ersten Blick zwei große Kategorien: Es sind dies zunächst Denkmäler, die sich auf die Geschichte der Region vor Flucht und Vertreibung beziehen, und sodann solche, die ebendiese im Rahmen des Zweiten Weltkriegs thematisieren.

Verschwundene Friedhöfe

Die bedeutendste Gruppe der auf die Geschichte Westpreußens bezogenen Denkmäler bilden Gedenksteine und Erinnerungstafeln für frühere städtische sowie evangelische, katholische, mennonitische und jüdische Friedhöfe (im Einzelfall auch von Familiengräbern) bzw. zur Erinnerung an die deutsche Vorgeschichte von Friedhöfen, die heute noch bestehen. Diese Dominanz verwundert nicht – stellt das Grabmal selbst bereits eine der ältesten und in unterschiedlichen Kulturen verbreitete Form des Denkmals und des Personengedächtnisses dar. Die an zerstörte Friedhöfe erinnernden Gedenksteine greifen naheliegenderweise die Form von Grabsteinen auf – in der Regel dürften sie wohl auch von ortsansässigen Steinmetzen gefertigt worden sein. Dies gilt auch für die Gestaltung von Gedenksteinen, die – wie in Graudenz oder Marienburg – an mehrere Friedhöfe einer Gebietskörperschaft oder im ländlichen Raum vielfach an sämtliche Friedhöfe eines Kirchspiels erinnern. Dementsprechend wurde auch von der Deutschen Minderheit auf dem Garnisonsfriedhof am Hagelsberg ein Gedenkstein errichtet, und zwar im Jahre  2001, d.h. nur ein Jahr bevor der seitens der Stadt geschaffene „Friedhof der nicht existierenden Friedhöfe“ entstand. Dieser stellt – so die offizielle Interpretation durch die Stadt Danzig – eine „Form der Wiedergutmachung für die Verwüstung und Auflösung der ehemaligen Danziger Friedhöfe nach dem Krieg“ dar, „eine Form der Erinnerung an alle die, die keine Gräber bzw. keinen Grabstein mehr haben“ – wobei dezidiert die religiöse Dimension des Totengedächtnisses akzentuiert wird:

„Neben den sich dort befindlichen original Grabplatten von aufgelösten Friedhöfen, befindet sich dort an zentraler Stelle ein ‚Altar‘ mit der Inschrift ‚Denen, die keine Namen haben‘. Er ragt aus den Trümmern zerbrochener Grabplatten empor, die Embleme verschiedener, im alten (wie auch im heutigen) Danzig vertretener Religionsgemeinschaften tragen.“ (gdansk.pl)

Die Gestaltung des „Altars“ verwendet dabei eine spezifische Motivik, die nicht nur der Bruchstückhaftigkeit des sie umgebenden Lapidariums entspricht, sondern die sich zugleich als theologische Aussage über den unvollständig-fragmentarischen Charakter der menschlichen Existenz lesen lässt. Kann dieses Moment als anthropologische Konstante in der Lebensgeschichte und Identität jedes Menschen aufgefunden werden, so tritt sie doch in den Schicksalen, die sich mit Krieg und Vertreibung verbinden, in besonderer Weise hervor. Insofern funktioniert das Denkmal nicht nur als Verweis auf die verlorenen Friedhöfe, sondern eröffnet zugleich eine Bildsprache, die von den Angehörigen der dort Bestatteten zu Erfahrungen aus der eigenen Lebens- oder Familiengeschichte in Beziehung gesetzt werden kann. Auch in Elbing wurden überkommene Grabsteine zerstörter Friedhöfe in vergleichbarer Weise in einem Lapidarium zusammengetragen.

Anwesenheit des Abwesenden

Von den der (zumeist christlich konnotierten) Sepulkralkultur eng verbundenen Erinnerungsformen an verschwundene Friedhöfe und die dort Begrabenen lassen sich Linien ziehen zu den weiteren Typen von Denkmälern, die wir hier betrachten wollen. Dies betrifft zum einen das Bedürfnis, an nicht mehr existente historische Gebäude und die mit ihnen verbundenen Menschen zu erinnern. Auch hier werden zumeist Gedenksteine aufgestellt, um auf Abwesendes zu verweisen, es in der Betonung seiner Abwesenheit wieder anwesend zu machen. Auffällig ist, dass es sich hierbei vor allem um Kirchen handelt und somit, wie bei den Friedhöfen, abermals um religiöse Erinnerungsorte; im Falle der Kirchen um solche, mit denen sich nicht nur die Feste des Jahreskreises bzw. Kirchenjahres, sondern ebenso biographische Passagenriten (Taufe, Kommunion bzw. Konfirmation, Trauung und ggf. Trauerfeiern) verbinden. Ästhetisch interessant ist die Gestaltung eines Gedenksteins für die 1967 abgerissene evangelische Kirche in Heidemühl (Kreis Konitz). Dieser besteht nicht aus bearbeitetem Naturstein, sondern stellt das Imitat einer Gemäuerruine dar, in die ein einzelner Stein des ursprünglichen Gebäudes als Relikt bewahrt bleibt. Damit wird in besonderer Weise sowohl das Verlorene symbolisch vergegenwärtigt als auch – ähnlich wie im Falle des „Friedhofs der nicht existierenden Friedhöfe“ – auf das Fragmentarische der menschlichen bzw. historischen Existenz verwiesen. In diesen Zusammenhang gehören im Übrigen Erinnerungstafeln, die an entwidmeten oder anderen Konfessionen übertragenen Kirchengebäuden auf die ursprünglich dort ansässige Gemeinde verweisen, wie etwa auf den Sitz des ersten Betsaals der Mennonitengemeinde in Elbing.

Andere Gedenktafeln erinnern an Institutionen, die zwar nicht von religiöser, jedoch von allgemein lebensweltlicher oder biographischer Bedeutung waren: Dies gilt für die frühere Wache der Elbinger Berufsfeuerwehr, auf die in der Hindenburgstraße ein klassischer Gedenkstein verweist, ebenso wie für Schulen. So macht an der Henryk-Sienkiewicz-Schule in Marienburg eine Tafel deren Geschichte als Luisenschule bis 1945 kenntlich. Dass Denkmäler nicht nur mit Verlust in Verbindung stehen, sondern sich auch der Motivation verdanken, kulturelle Traditionen einer gesellschaftlichen Gruppe wie der deutschen Minderheit öffentlich zu exponieren, zeigt ein Beispiel aus Rehdorf (Kreis Stuhm): Hier erinnert ein von der Deutschen Minderheit Stuhm-Christburg gestifteter Naturstein mit Metalltafel an den dort bis Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden „Hammerkrug“ , eine Schmiede mit Wirtshaus. Ergänzen ließe sich hier noch eine Reihe von Gedenksteinen und -tafeln, die an Geburts- und Wohnhäusern auf Persönlichkeiten von lokalhistorischer bzw. regionalhistorischer wie zeitgeschichtlicher und überregionaler Bedeutung hinweisen. Auch diese erfüllen die Funktion, bis zum Ende der kommunistischen Diktatur bestehende Lücken in der Erinnerungslandschaft zu schließen.

Erinnerung an Krieg und Vertreibung

Eine Zwitterposition zwischen den beiden Kategorien der kulturhistorischen Denkmäler und jener, die Flucht und Vertreibung sowie den Zweiten Weltkrieg als ihren Kontext thematisieren, nehmen wiederhergestellte und neu errichtete Kriegerdenkmäler bzw. Gedenksteine für Gefallene des Krieges 1870/71 sowie des Ersten Weltkrieges ein, insofern sie einerseits die Geschichte Westpreußens vor der Vertreibung dokumentieren, andererseits jedoch Gestaltungsformen prägen, die nach 1945 aufgegriffen werden. Dabei knüpfen auch sie sämtlich an den Archetypus des Grabmals an. Zu einer gewissen einheitlichen Anmutung der Denkmäler für Gefallene verschiedener Epochen trägt zudem der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei, der etwa in Danzig auf dem Hagelsberg um das Jahr 2000 sowohl die Grabstätte deutscher Soldaten aus dem deutsch-französischen Krieg als auch diejenige der Gefallenen des Ersten Weltkrieges in schlichter moderner Gestalt wiederherstellte. Der Krieger-Gedenkstein aus dem Ersten Weltkrieg in Baumgarth (Kreis Stuhm)  wiederum wurde gemäß dem historischen Vorbild und somit in traditioneller Gestalt auf Initiative von Heimatkreis und deutscher Minderheit rekonstruiert. Gemeinsam ist sämtlichen Kriegerdenkmälern die Gestaltung in strengen Formen und zumeist in Schwarz- wie Grautönen.

An die moderne und schlichte Gestalt der älteren Kriegerdenkmäler auf dem Hagelsberg kann die dortige – gleichfalls vom Volksbund errichtete – Grablege für deutsche Gefallene des Zweiten Weltkriegs anknüpfen. Sie wird durch ein Totenbuch ergänzt, das den dort erinnerten Schicksalen Namen gibt. Weniger standardisiert sind die teils aus privater Initiative entstandenen Denkmäler, die sowohl an die Opfer des Nationalsozialismus als auch an die Opfer von Flucht und Vertreibung erinnern. Ein Alleinstellungsmerkmal kommt dem [bekannten] Denkmal zur Erinnerung an die Eisenbahntransporte jüdischer Kinder aus der Freien Stadt Danzig nach England 1938/1939 auf dem Vorplatz des Danziger Hauptbahnhofs zu, insofern es plastisch die Betroffenen – Kinder am Bahnsteig – als Gerettete zeigt. Besondere Erwähnung verdient zudem ein Gedenkstein aus dem Jahr 1996 in Tiegenhof (Kreis Großes Werder), der mit der zweisprachigen Beschriftung „Gedenket der Toten – Frieden dieser Stadt“ und mithin ohne eine differenzierende Benennung einzelner Opfergruppen des Krieges auskommt. Andere Denkmäler hingegen konkretisieren sehr detailliert die Personen und Ereignisse, auf die sie Bezug nehmen. So heißt es etwa auf einer 1999 von der Truso-Vereinigung an der Dorfkirche Lenzen (Kreis Elbing) installierten zweisprachigen Erinnerungstafel: „An die bei Kriegsende 1945 in Lenzen ermordeten und an den Folgen des Krieges gestorbenen und gefallenen 286 Dorfbewohnern und den in Lenzen erschossenen deutschen Soldaten“.

Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, wie sich die westpreußische Denkmal-Landschaft im Zeitraum einer Generation pluralisiert hat. Dabei sind die oft von deutschen und polnischen Initiatoren gewählten Themen und Gestaltungsformen nicht zuletzt auch ein Zeugnis der grenzüberschreitenden Verständigung. Inzwischen finden sich sogar auch solche Denkmäler, die auf wichtige Akteure ebendieses Verständigungs- und Versöhnungsprozesses selbst verweisen. So erinnert in Elbing etwa am ehemaligen Gymnasium eine Gedenktafel an den Publizisten Erich Brost als einen „Mann der deutsch-polnischen Verständigung – geboren in Elbing“. Insofern Verständigung immer weiter gemeinsamer Anstrengungen bedarf, dürfte das gleiche auch für die Aushandlungsprozesse um die erinnerungskulturelle Gestaltung des öffentlichen Raums im historischen Westpreußen gelten. Ihre weitere Entwicklung gilt es mit Interesse abzuwarten.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“

Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“ der Deutschen Gesellschaft e.V. – in Kooperation mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen sowie der Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland – für junge Spätaussiedler, Nachfahren von Heimatvertriebenen und Angehörige der deutschen Minderheiten. In der Veranstaltung werden die Beiträge der Preisträgerinnen und Preisträger vorgestellt und gewürdigt. Durch den Abend führt Tilman A. Fischer.

Zur Definition des Völkermords

Der Historiker Manfred Kittel analysiert den Genozid-Begriff des polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin

Von Tilman Asmus Fischer

Der Begriff des Völkermords kann im politischen Diskurs der Bundesrepublik auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken. Wurde er in den frühen Jahren der Bonner Republik breiter verwendet, geschah dies späterhin – im Bewusstsein für das nicht relativierbare Menschheitsverbrechen der Shoa – zunehmend restriktiv. Unter dem Vorzeichen identitätspolitischer Bewegungen erfolgte dann jedoch in den vergangenen Jahren eine neue Öffnung – und erhielt der Begriff mithin seit dem Angriffskrieg der Russischen Föderation auf die Ukraine eine neue Brisanz.

Die dabei identifizierbaren „Unschärfen des Völkermordbegriffs in der deutschen Erinnerungskultur“ nimmt der Regensburger Historiker Manfred Kittel zum Ausgangspunkt seines neuen Buches. „Die zwei Gesichter der Zerstörung“ stellt den polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin mit dem von ihm entwickelten Genozid-Begriff ins Zentrum und zeichnet dessen Rezeption seit Konventionsbeitritt der Bundesrepublik 1954 nach. Den roten Faden stellt dabei die Frage nach der Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs dar, die von Lemkin selbst noch als Völkermord eingestuft worden war.

Entscheidend hierfür war sein Verständnis des Völkermords als der „Zerstörung einer ‚Gruppe als solcher‘“, die nicht erst mit der physischen „Ausrottung“ ihrer Mitglieder begann – es umfasste also, in Kittels Diktion, „Ausrottungsgenozide“ und „Zerstörungsgenozide“. Ganz in diesem Sinne definiert dann auch die UN-Genozidkonvention von 1948 Völkermorde als „eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: Tötung von Mitgliedern der Gruppe; Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“ sowie Maßnahmen der Geburtenverhinderung und die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.

Auf dem Weg zu dieser Definition hatte Lemkin sich bereits, wie Kittel nachzeichnet, mit Bedenken der Vertragspartner des Potsdamer Abkommens auseinanderzusetzen, die mit Blick auf die innereuropäischen – aber auch außereuropäischen – Bevölkerungstransfers dieser Jahre Komplikationen befürchteten. Und so mussten Lemkin und seine Mitstreiter dann auch in Fragen eines „kulturellen Völkermordes“ sowie der Verfolgung politischer Gruppen Abstriche in ihrer – ursprünglich noch umfassenderen – Genozid-Defintion hinnehmen. Der von Kittel gebotene Einblick in die Lemkinsche Position gewinnt besondere Tiefe durch ihre biographische Herleitung. Dabei macht der Verfasser deutlich, dass für Lemkin nicht nur die Shoa, sondern ebenso die älteren Erfahrungen des „defizitären Minderheitenschutz der Völkerbundszeit“ in Mitteleuropa prägend waren. In Reaktion hierauf glaubte Lemkin „an die Einzigartigkeit menschlicher Kulturen und die Notwendigkeit ihres Schutzes, ob es sich dabei um jiddische Schtetl oder die Ureinwohner beider Amerikas handelte“.

Daher konnte er, wie Kittel anhand von detaillierter Quellenarbeit zeigt, in der Diskussion um den Beitritt der Bundesrepublik zur Genozidkonvention dezidiert damit argumentieren, dass diese sich nicht zuletzt auch auf die Vertreibung der Deutschen anwenden ließe – was seinerzeit den Bundestag von SPD bis CDU/CSU überzeugte. Zur Gesamtheit des von Kittel rekonstruierten Bildes gehört dann freilich auch, dass – nicht zuletzt unter dem Vorzeichen der neuen Ostpolitik – die Bundesrepublik von einer „systematische Ermittlung“ der im Zusammenhang mit der Vertreibung begangenen Verbrechen absah.

Vor dem Hintergrund dieser Ausgangslage vollzieht Kittels Studie die zunehmende diskursive „Gleichsetzung von Völkermord und Holocaust“ und die dazu komplementäre „Randposition der Vertreibung in der neuen Genozidforschung seit den 1980er Jahren“ nach. Dabei geht er hinsichtlich der Debatte im deutschsprachigen Raum sowohl auf rechtsradikale Versuche einer Instrumentalisierung des Völkermord-Begriffs als auch auf Diskursverengungen durch politisch linksstehende Akteure ein und weitet sodann den Blick auf die Lemkin-Rezeption in der globale Genozidforschung, die sich zwischen „sachlicher Kritik und moralpolitischer Zensur“ bewege.

Anhand der – freilich nicht einheitlichen – juristischen Bewertung der „ethnischen Säuberungen“ auf dem Balkan in den 1990er Jahren veranschaulicht Kittel das Fortbestehe eines „breite[n] Begriff des Völkermords in der deutschen und internationalen Rechtsprechung“. Erst durch den „Wandel des Genozidbegriffs“ im Kontext der Kolonialgeschichtsforschung und der hieraus resultierenden „Anerkennung des Völkermordes an den Herero 2021“ – bzw. zuvor bereits durch diejenige des Völkermordes an den Armeniern – sieht Kittel Bewegung in die erinnerungskulturelle Debatte kommen. Dass diese weiterhin nicht frei von Ambivalenzen ist, zeigt die Anerkennung des Holodomor als Völkermord bei gleichzeitiger Zurückhaltung, diesen Begriff auf das gegenwärtige Vorgehen Putins anzuwenden.

Wenn Kittel dezidiert für die Einstufung ethnischer Vertreibungen als Zerstörungsgenozide plädiert, eröffnet dies den Weg, unter diesen Begriff sowohl die historischen Verbrechen an den Herero als auch folgerichtigerweise die Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs zu fassen, ohne den Ausrottungsgenozid der Shoa hierdurch zu relativieren. Letztlich verfolgt Kittels Buch jedoch nicht nur ein erinnerungs-, sondern mithin auch ein menschenrechtspolitisches Anliegen – nicht zuletzt mit Blick auf die Ukraine und eingedenk der IS-Gräueltaten an den Jesiden. So betont er bereits einleitend:  Der „originäre Genozidbegriff Lemkins [besitzt] nicht zuletzt den Vorteil, eher bereits präventiv zum Schutz ethnischer oder religiöser Gruppen ‚als solcher‘ gegen drohende oder laufende Angriffe eingesetzt werden zu können, selbst wenn diese nicht auf eine vollständige körperliche Ausrottung abzielen.“

Manfred Kittel: Die zwei Gesichter der Zerstörung. Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen (Forschungen zur Geschichte ethnischer Vertreibung, Band 1). Dunker & Humblot, Berlin 2023, 181 Seiten, EUR 19,90.

Erschienen am 19. Oktober 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Verstehen und Verständigung

Bundestagspräsidentin a. D. Rita Süssmuth – Zeitzeugin im Gespräch

Rita Süssmuth war eine der prägenden Gestalten der späten Bonner und frühen Berliner Republik, zumal als Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit von 1985 bis 1988 sowie insbesondere als Präsidentin des Deutschen Bundestages von 1988 bis 1998. Zudem ist die 1937 in Wuppertal geborene CDU-Politikerin bis heute – neben anderen Themenfeldern – intensiv mit Fragen der deutsch-polnischen Beziehungen befasst: nicht nur als Präsidentin des Deutschen-Polen-Instituts, sondern ebenso als Kuratoriumsvorsitzende der Deutsch-Polnische Gesellschaft und Vorstandsmitglied der im Geiste des Weimarer Dreiecks arbeitenden Stiftung Genshagen. Dies macht sie zum einen zu einer Zeitzeugin der Deutschland- und Ostpolitik der Jahre ihrer Verantwortung in Regierung und Parlament und zum anderen zu einer erfahrenen Beobachterin der gegenwärtigen Phase intensiver Herausforderungen für den Zusammenhalt Europas. In einem Gespräch mit Tilman A. Fischer gab sie Einblick in ihre historischen Erfahrungen wie in ihre Gegenwartsanalysen. Entstanden ist so das intellektuelle Porträt einer zentralen Persönlichkeit im deutsch-polnischen Dialog.

Frau Professor Süssmuth, Sie sind in Westdeutschland geboren und aufgewachsen. In welchem Zusammenhang wurde hier ‚der Osten‘ für Sie erstmals thematisch?

Das war in der Nachkriegszeit. Wir waren evakuiert in einem Dorf auf dem Lande und da wurden samstagsmorgens immer die Backplatten – die einen mit Brot, die anderen mit Kuchen – zum Bäcker gebracht, um da abgebacken zu werden. Da habe ich erlebt, dass die Platten der Flüchtlinge immer als letzte drankamen. Da habe ich zuhause gefragt: „Was machen die da eigentlich? Warum heißt es, ‚der Ofen ist voll‘? Da flackerte in mir etwas auf. Das hat zwar nicht zum Polen-Interesse geführt, hat mich aber sensibilisiert: Warum werden die Flüchtlinge – und das waren Deutsche aus dem Osten – anders behandelt als Einheimische. Es gibt Zugehörige und solche, die an den Rand gedrängt werden. Das Flüchtlingsproblem habe ich erst viel später tiefer verstanden; denn meine Kindheit dominierte die Frage nach dem eigenen Überleben: Man sorgte für sein Überleben, ging hamstern, alles Mögliche sammeln, Eier zu bekommen und so weiter.

Dennoch gewann der Themenkreis Deutschland und Ostmitteleuropa für Sie an Bedeutung. Wie kam es dazu?

Als ich zur höheren Schule kam zu den „Schwestern der Christlichen Liebe“ – oder auch der Strenge – in Lippstadt, habe ich mich sehr für Geschichte interessiert und war da auch entsprechend begabt. In dieser Zeit war mein Vater – ein Pädagoge – am Wiederaufbau der Lehrerbildung beteiligt. Und auf seinem Schreibtisch sah ich immer die „Frankfurter Hefte“ – rote Hefte mit bestimmten Themen. Das hat mich interessiert: Was macht Dein Vater da? Das war eine Mischung aus politisch-kritischen, sozialen und Bildungsfragen – und so weiter. Das hat mich wach gemacht. Dann kam die Mittlere Reife und ich wollte von der Schule abgehen, um Krankenschwester zu werden. Da sagte mein Vater: „Rita, mach doch wenigstens Abitur!“ Als ich dann das Abitur in Rheine gemacht hatte, sagte er: „Und jetzt studier‘ bitte Jura!“ – „Oh Schand‘!“, dachte ich da und ich sagte ihm: „Nein, das kann ich nicht – ich habe keine Beziehung dazu. Ich muss etwas machen, wovon ich schon jetzt was erlebt und Ahnung haben. Ich werde Romanistik und Geschichte studieren.“ Ich war entschlossen, als Lehrerin in die Schule zu gehen. Diese Fächer habe ich zunächst in Münster, dann in Tübingen, dann in Paris an der Sorbonne studiert.

Dies freilich klingt eher nach einer Westorientierung.

In dem Studium stieß ich dann aber nicht nur auf den Westen, sondern entdeckte plötzlich auch die reiche Geschichte Ostmitteleuropas: Da war ein Mediävistik-Professor, und der beschäftigte sich eben gerade mit Mittel- und Osteuropa. Ich besuchte seine Seminare und er lud mich dann ein, als ich 1961 das Examen gemacht hatte, mit auf eine Studienfahrt zu kommen.. Zunächst habe ich sein Oberseminar auch noch mitgemacht, aber ich hatte dann das Angebot für einer Dissertation und promovierte über die „Anthropologie des Kindes“. Mit der Anstellung als Assistentin von Robert Spaemann an der Universität in Osnabrück folgte dann auch der berufliche Durchbruch an die Universität. Jedoch habe ich parallel zur Universität immer auch andere Themen verfolgt: Ich betrieb weiter Geschichtsstudien, obwohl ich ja das Examen in Alter und mittelalterlicher Geschichte bereits hatte – aber ich muss sagen: Das war mehr ein Auswendiglernen gewesen. Verstehen der Geschichte habe ich erst durch die Franzosen gelernt – abstrakt gesprochen durch die Strukturalisten, denen es darum ging, nicht nur politische, sondern auch Sozial- und Kulturgeschichte zu betreiben. Das eröffnete auch einen neuen Blick auf unsere östlichen Nachbarn.

In welcher Beziehung steht Ihr persönlicher Perspektivwechsel zu den Umbrüchen in der deutschen Politik – mithin der politischen Kultur – in den 1960er und 1970er Jahren?

Dies waren für mich die entscheidenden Entwicklungsjahre. Ich war damals zwar durch meinen Berufseinstieg zur Kämpferin für Frauen geworden, aber noch nicht zu einer richtigen Kritikerin. Dies geworden zu sein, verdanke ich den 68ern. Meine Partei freut sich nicht, wenn ich sowas sage. Was kann denn an den 68ern gut gewesen sein? Ja, die haben die Fragen gestellt – auch im Parlament. Die 68er-Bewegung klärte die Menschen auf – im Sinne Kants: ihren eigenen Verstand zu gebrauchen. Und das ist ja das Entscheidende, so entsteht Verstehen und erst durch Verstehen kommt dann die Verständigung zustande – eben auch mit Völkern, zu denen eine historisch belastete Beziehung besteht.

Welche Bedeutung kam dieser Verknüpfung zwischen Verstehen und Verständigung gerade mit Blick auf den damaligen Ostblock zu?

Die Spaltung Europas hat nicht nur in Form von physischen Grenzen existiert, sondern auch in den Köpfen. Das waren immer „die Anderen“. Wir haben jahrelang den Westen positiv gesehen und den Osten als die zu Befreienden. Polen, die Tschechoslowakei – in all diesen Ländern gab es auch eigene Bewegungen, deren Denken wir eigentlich viel zu wenig zur Kenntnis genommen habe.

In Ihrer Partei sind sie auch als eine Unterstützerin der „Neuen Ostpolitik“ – und in diesem Kontext durchaus auch als eine Kritikerin der Vertriebenenverbände – in Erscheinung getreten. Wie haben Sie diese Konstellation wahrgenommen?

Für manche in der Union war ich nie eine richtige Parteizugehörige – wahrscheinlich auch nicht genug Parteisoldat. Ich habe Schwierigkeiten, das gebe ich zu, mit so einem unmittelbaren Gehorsam. Da hatten meine Eltern schon Schwierigkeiten. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte – das kriegte man nicht so schnell da wieder raus. Es gab damals eine Hauptunterstützung von den reformerischen Kräften. An der Spitze Heiner Geißler. Heiner Geißler war ein Kämpfer, der auch manchmal über seine Grenzen ging, auch in der Verletzung anderer Menschen. Später hat er sich dann immer wieder entschuldigt.

Aber es gab in der Union doch auch genug meinungsstarke Kritiker Ihrer Position.

Ja, aber Herbert Czaja und einige der Hauptmatadore der Vertriebenenverbände haben im Laufe der Zeit auch gelernt. Wir haben einerseits die „große Zeit“ der Vertriebenenverbände vor Augen, die die deutsche Politik sehr beeinflusst haben, auch wegen ihrer Wählerstimmen – mit denen man sich gutstellen musste. Wir haben aber auch die heutige Zeit vor Augen, in denen viele Akteure aus den Vertriebenenverbänden ganz wesentlich zur Verständigung in Europa beitragen. Dort, wo heute die Vertriebenen wieder in ihr altes Heimatland kommen und die heute dort Lebenden sie bitten: „Kommt doch mal rauf und wir trinken eine Tasse Kaffee zusammen!“, da erleben wir heute, dass gerade eine Region wie Oberschlesien die Region der Verständigung ist – inmitten des von der PiS dominierten Polen. Ähnliches gilt für Danzig. Umso schlimmer sind die Reparationsforderungen aus Warschau, die keiner mehr bezahlen kann..

Lassen Sie uns gerne später auf diesen Punkt zurückkommen – hier aber noch kurz in der Retrospektive verweilen! Wie entwickelten sich in den sogenannten Wendejahren Ihre persönlichen Beziehungen nach Polen?

Ich habe in der Geschichte ja viel erfahren, von den furchtbaren Dingen, die im Zweiten Weltkrieg und danach auch passiert sind. Nach Polen war ich noch nicht gekommen, aber wir hatten wenigstens Informationen aus zweiter Hand. Polen hat sich für mich eigentlich erst ab den frühen 1980er Jahren eröffnet und eine führende Persönlichkeit war Władysław Bartoszewski, ein Widerständler und ein wunderbarer Mensch. Auch wenn er, wie ich jetzt im Augenblick, nicht aufhören konnte zu reden. Aber durch ihn habe ich viel über Polen verstanden. Vorher habe ich studiert, dies sicherlich auch engagiert – aber ich habe noch nicht viel verstanden. Gewusst habe ich eine Menge, aber das ist weniger als Verstehen.

Wann sind sie ihm, Bartoszewski, das erste Mal begegnet?

Ich bin ihm das erste Mal 1985 begegnet. Aber da war er mir natürlich bereits bekannt: Er gehört zu den Personen, die schon vorher die Kontakte hergestellt haben, gerade über den religiösen Austausch; denn natürlich hatte ich die Diskussion um die neue Ostpolitik, in welcher der „Botschaft der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder zur Versöhnung“ von 1965 eine große Bedeutung zukam, intensiv verfolgt – und in dieser Zeit war Bartoszewski bereits im von den Kirchen betriebenen Dialog engagiert. Eine zentrale Rolle kam damals den jungen Menschen von Aktion Sühnezeihen zu, die jüdische Opfer pflegten (es gab ja noch keinen Ausgleich und keine Versorgung für sie). Über diese kirchlichen Kontakte bekam er Reiserecht nach Deutschland und hat seitdem die Verständigung wirklich auch in unserem Land betrieben.

Dies taten Sie selbst dann auch vor Ort in Polen. Wie waren Ihre ersten Eindrücke von unserem östlichen Nachbarland?

Als die Solidarność stärker wurde, und als sich dann 1989 die Grenzen öffneten, war meine erste Wahrnehmung: In der DDR hatte man Angst gehabt, überhaupt hineinzufahren – wahnsinnige Kontrollen; und wenn man nach Polen fuhr, brauchte man kaum den Kofferraum aufzumachen. Auch in der Akademie der Wissenschaften ein völlig anderer Ton als bei den Kollegen in der DDR. Und bei den Reisen in diesen Jahren habe ich die ersten Solidarność-Leute in Warschau kennengelernt. Das geschah abends in der Botschaft ohne großes Aufsehen – einfach zum vertraulichen Gespräch. Da war Adam Michnik, heute Chefredakteur der Gazeta Wyborcza – ein etwas schwieriger Typ, aber ich habe ihn sehr geschätzt wegen seiner Einstellung, aber auch wegen seines Wissens. Ich habe heute noch Kontakt mit Lech Wałęsa in Danzig. Er ist jetzt älter geworden und etwas gebrechlich, nimmt aber weiterhin an den Demonstrationen der heutigen polnischen Opposition teil. Sie sehen, da ist was geblieben.

Welche Fragen und Themen sind Ihnen heute in den Beziehungen Deutschlands zu den Nachbarn in Ostmitteleuropa bedeutsam?

Im Augenblick kämpfe ich zum einen für Ungarn – ziemlich auf einsamem Posten. Wir Deutschen sind manchmal sehr lehrmeisterhaft und restriktiv: Ihr seid nicht gehorsam und haltet die Rechtsordnung nicht ein, die Gewaltenteilung – und jetzt fordern wir Sanktionen. Die Analyse ist zutreffend, ja aber statt zu sanktionieren müssen wir besonders viel mit den Andersdenkenden sprechen. Wichtig ist mir heute zum anderen und insbesondere seit dem totalen Bruch in der West-Ost-Beziehungen: Ich höre nur von morgens bis abends: „Die Ukrainer müssen den Krieg gewinnen.“ Es kommt nie die Frage auf: Was machen wir eigentlich, wenn sie ihn nicht gewinnen? Wir werden gleichsam alle plötzlich zu Konformisten. Die andere Seite – was machen wir, wenn nicht – muss doch auch bedacht werden und die fehlt mir heute, auch in meiner eigenen Partei. Ja, Engagement für die Ukraine – aber wir müssen immer auch bedenken: Es könnte anders kommen, als wir es erhoffen. Wir können ja nicht sagen: keinerlei Kontakt mehr – weder wissenschaftlich noch ökonomisch. Das kann ich mir nicht vorstellen. Da muss wieder Neues entstehen, wie es entstanden ist nach dem Zweiten Weltkrieg.

Schwingen in der Hoffnung auf die Möglichkeit von Verständigung noch Erfahrungen aus der Ära Gorbatschow mit?

Damals gab es einen anderen Geist. Ich habe die Suche nach Gesprächen mit Gorbatschow unterstützt und unsere Regierung hat sie gefunden. Ohne Gorbatschow hätten wir keine deutsche Einheit. Das ist meine Position. Es gab damals eine Zeit, in der Gorbatschow auch die Armut in Russland sah, die Unfreiheit der Russen, und ihnen mehr Freiheit gegeben hat. Putin hat nur dasEine gesehen: Er hat unser Land verkleinert. Anders als Gorbatschow ist Putin nicht zu einer größeren europäischen Perspektive in der Lage. Fehler sind aber natürlich auf allen Seiten gemacht worden. So stand das Baltikum in der Phase seines Freiheitskampfes für den Wunsch nach einer Verständigung zwischen Ost und West! Später sind dann die russischsprachigen Minderheiten ausgegrenzt worden, was zur Verschlechterung der Beziehungen beitrug.

Verständigung mit Russland, Fehler auf Seiten der westlichen Staatenwelt – sind das Fragen, die heute im Austausch mit Partnern in Polen, wo man zu Recht mit Sorge auf Russland blickt, angesprochen werden können?

Ja, sicher. Aber nicht mit der PiS-Regierung. Gewiss lässt sich die Haltung Jarosław Kaczyńskis gegenüber Russland auch aus dem dramatischen Schicksal des Verlusts seines Bruders erklären, aber im Sinne Bartoszewski gesprochen: Es muss jederzeit nach christlichem Verständnis möglich sein, wieder aufeinander zuzugehen. Aber für Kaczyński ist der Bruder von Russen ermordet worden. Und das treibt ihn bis heute um und er will es rächen.

Sie hatten die PiS – und auch die polnischen Reparationsforderungen – bereits angesprochen. Was für eine Entwicklung des politischen Diskurses erleben wir da gerade in unserem Nachbarland?

Dass solche Reparationsforderungen artikulierbar sind, hat die PiS erreicht, indem sie eine absolut polarisierte Atmosphäre geschaffen hat. Deshalb bin ich über all die deutlichen Manifestationen der politischen Opposition glücklich, denn da geht nicht einfach ein kleines Grüppchen auf die Straße, sondern Tausende von Menschen, die sich etwa gegen die Gesetzesinitiative gegen Tusk richten, die ihm das Wahlrecht nehmen und alle Schuld auf seinem Haupt versammeln soll. Dabei wird ihm von der PiS insbesondere seine Haltung gegenüber Russland vorgeworfen. Hierzulande wird die Zivilcourage der polnischen Opposition ja teilweise relativiert. Dann heißt es mit Blick auf Demonstrationen: Es war die Stadt und nicht das Land. Ist alles wahr, aber die Demonstrationen zeigen: Da ist ein Volk, das denkt: Was müssen wir an demokratischen Errungenschaften erhalten? Was sind die Grundlagen unserer Freiheit?

Sehen Sie die Perspektive, dass durch die gemeinsame Bewältigung der Krise des russischen Angriffskriegs mit all ihren humanitären Folgen auch die Ost-West-Spannungen in der EU abgebaut werden können – oder ist der Konfliktaustrag nur in einem momentanen Burgfrieden ausgesetzt?

Angesichts des Krieges in der Ukraine versuchen wir heute, gute, oder zumindest normale Beziehungen zwischen Deutschland und Polen zu pflegen. Polen engagiert sich ungeheuer. Sie haben – das kommt noch hinzu – immer eine enge Beziehung zur Ukraine gehabt. Auf der einen Seite ist Europa zusammengewachsen: Die Staaten merken, wir müssen zusammenstehen, nur gemeinsam können wir der Ukraine helfen. Auf der anderen Seite haben wir ständig Entwicklungen, bei denen der eine oder der andere sagt: Wir sind anders. Das betrifft etwa die Gewaltenteilung – in Polen, in Ungarn. Das heißt: auf der einen Seite Annäherung und Zusammenschluss, um ein stärkeres Europa zu schaffen – auf der anderen Seite bleibende Abgrenzungen. Diese Spannungen gilt es klug auszubalancieren.

Welche Streitfragen stehen dabei im Fokus?

Polen vertritt klare politische Standpunkte, was die militärische Aufrüstung betrifft. Manchmal habe ich dabei das Gefühl: Wenn Ihr uns Deutschen jeden Tag neue Dinge abverlangt, denkt Ihr auch daran, welche Risiken das für uns mit sich bringt? Und nicht nur für uns Deutsche – für ganz Europa? Wir müssen doch vielmehr gemeinsam eine Kriegsbeseitigung, einen Stopp der Waffen herbeiführen – und nicht nur für uns, sondern für Europa, wenn diese Idee des Staatenbundes noch eine Chance haben soll.Im Kalten Krieg ging es immer darum: Welche Waffen schützen uns? Welche Abwehrkräfte schützen uns? Und jetzt sind wir wieder in einer solchen Situation: Haben wir überhaupt noch Schutz? Und wir sagen, dieses Europa muss sich retten. – Wir sind aber im hohen Maße abhängig von Amerika. Amerika hat uns geholfen, ganz entscheidend geholfen bei der Wiedervereinigung. Das waren ja Hoffnungsjahre. Im Augenblick aber leben wir in einer Zeit der Unfälle und Enttäuschungen…

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 3/2023.

Versöhnung durch Wahrheit

Andreas Kalckhoff zeigt anhand des Postelberg-Massakers, wie Aufarbeitung von Vertreibungsverbrechen und ein gemeinsames „Entlügen“ der Geschichte gelingen können.

Die Forderung, gemeinsam die Geschichte zu „entlügen“, ist seit Jahrzehnten prägend für zivilgesellschaftliche Dialoge zwischen Deutschland und seinen ostmitteleuropäischen Nachbarn. Dies gilt, seitdem das bedeutungsgleiche Schlagwort „odkłamanie“ in der Oppositionsbewegung während der Zeiten der Volksrepublik aufkam, insbesondere für Polen. Aufgrund der (geschichts)politischen Rahmenbedingungen östlich der Oder gelingt dort das „Entlügen“ der eigenen Geschichte mit Blick auf die Ereignisse im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung der Deutschen am und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den vergangenen Jahren jedoch nicht in gleicher Weise, wie dies in Tschechien zu beobachten ist. Prominentestes Beispiel hierfür ist der – auch über einschlägig interessierte Kreise hinaus bekannte – Gedenkmarsch, mit dem die Stadt Brünn seit 2015 jährlich des Brünner Todesmarsches gedenkt. Ein weiteres Zeugnis dieser Entwicklungen ist das im vergangenen Jahr erschienene Buch „Was geschah in Saaz und Postelberg im Juni 1945? Geheime Dokumente und Zeitzeugenberichte enthüllen das Unfassbare“ von Andreas Kalckhoff.

Es befasst sich mit dem Massaker, das in den ersten Juni-Tagen des Jahres 1945 im nordböhmischen Postelberg an 763 deutschen Zivilisten – Männern, Frauen und Kindern – verübt wurde. Die Opfer stammten hauptsächlich aus Saaz und waren im Rahmen der Vertreibungsmaßnahmen nach Postelberg verschleppt worden. Zunächst zwei Jahre später von einer tschechischem Parlamentskommission untersucht, wurde das Massaker in den Jahren der kommunistischen Gewaltherrschaft tabuisiert. Erst mehrere Jahre nach der Demokratisierung Tschechiens wurden die – inzwischen verstorbenen und juristisch nicht zur Rechenschaft gezogenen – Verantwortlichen ermittelt. Sowohl in der deutschen als auch in der tschechischen Medienöffentlichkeit fand das historische Verbrechen gleichwohl große Aufmerksamkeit. Dies dokumentiert das Buch ebenso wie Quelletexte, Berichte von Zeitzeugen und umfangreiches Bildmaterial.

Mit dem nun erschienenen Band werden einer breiten Öffentlichkeit die Forschungsergebnisse des Autors Andreas Kalckhoff zugänglich gemacht, die 2013 unter dem Titel „Versöhnung und Wahrheit. Der ‚Fall Postelberg‘ und seine Bewältigung 1945-2010“ durch den Heimatkreis Saaz herausgegeben worden waren. Die nun erschienene neubearbeitete Dokumentation bietet die Texte sowohl deutschsprachig als auch in einem von Otokar Löbl und Petr Šimáček übersetzten und redigierten tschechischen Teil (bzw. im tschechischen Original). Durch diese strikte Zweisprachigkeit erhält das Anliegen der historischen Wahrhaftigkeit eine besondere Überzeugungskraft, da das Buch so in die erinnerungskulturellen Diskurse sowohl des deutschen als auch des tschechichen Sprachraums hineinzuwirken und dort Diskussionen anzuregen vermag. Faszinierend an dem Buch ist das von ihm eröffnete und fruchtbar gemachte Spannungsfeld, das dadurch entsteht, dass dreierlei miteinander ins Gespräch gebracht wird: staatliche tschechische Quellen, Berichte Überlebender sowie Dokumente der Aufarbeitung und Verständigung in den vergangenen Jahrzehnten.

In seinem Vorwort arbeitet der tschechische Publizist Jiří Padevět die Tragweite der historischen Ereignisse sowie die inneren Wiedersprüche heraus, die beim Umgangs mit ihnen in den folgenden Jahren deutlich geworden sind:

„In Postelberg ging es weder um den Ausbruch des Volkszorns noch um Hinrichtungen, die ein Gericht angeordnet hatte, sondern um Morde, ausgeführt durch Armeeangehörige. Um Morde, zu denen Offiziere Befehle erteilen mussten. Es ist paradox, dass derselbe Staat, dem diese Offiziere unterstanden, die Umstände des Massakers zwei Jahre später zu untersuchen begann und die sterblichen Überreste der Opfer exhumieren ließ. Bemühungen um [eine] Erklärung für das Geschehene, das wir in der heutigen Terminologie unzweifelhaft als ethnische Säuberung bezeichnen würden, wurden im Februar 1948 mit der Machtübernahme durch die Kommunisten beendet. Über den Toten und den Mördern aus Postelberg schlossen sich die Wasser des Vergessens und wurden vom allumfassenden kommunistischen Schlamm des Schweigens aufgesaugt.“

Der erste und umfangreichste Teil – „‚Tatsächliche Gräueltaten‘: Die Massenexekutionen nach Kriegsende im Mai / Juni 1945“ – stellt sechs Quellentexte aus dem Kontext der innertschechisches Ermittlungen zu den Vorkommnissen in Saaz und Postelberg ins Zentrum. Deren Mehrheit steht im Zusammenhang mit der parlamentarischen Untersuchung im Juli des Jahres 1947. Das früheste dieser Dokumente ist ein Bericht zum polizeilichen wie nachrichtendienstlichen Kenntnisstand über die Ereignisse für Innenminister Václav Nosek vom 2. Juli 1947. Auf den 28. Juli datiert ist wiederum ein „Vorbericht zum Fall Postelberg und Saaz“, welcher der parlamentarischen Untersuchungskommission bei ihren am 30. und 31. des Monats durchgeführten Verhören vorlag. Dabei ist der Begriff „parlamentarisch“ irreführend, insofern sich die Kommission „aus fünf Abgeordneten aus den Fraktionen der Volksfrontregierung, sechs Beratern aus den Ministerien und von der Volkspolizei sowie drei Geheimdienstleuten zusammensetzte“. Die unter Vorsitz von Dr. Bohuslav Bunža durchgeführten Verhöre sind in der Langfassung des stenographischen Protokolls dokumentiert. In Auszügen eröffnet das Buch – als viertes Dokument – Einblicke in das auf dessen Grundlage erstellte „Aussageprotokoll der Parlamentskommission“, das die einzelnen Aussagen zusammenfasst.

Neben den die parlamentarische Untersuchung dokumentierenden Texten steht zum einen ein am 13. August desselben Jahres an das Innenministerium ergangener Untersuchungsbericht zu den „Nachrevolutionsereignissen in Postelberg“. Zum anderen bietet die Dokumentation das Protokoll eines vier Jahre später – am 2. Mai 1951 – geführten Verhörs mit Vasil Kiš, das die Rolle von General Bedřich Reicin und Leutnant Jan Čubka beim Massaker von Postelberg beleuchtete: Letzterer – so der Zeuge – habe die Massenhinrichtungen befohlen und selbst durchgeführt, Ersterer habe von Ihnen Kenntnis gehabt. Beigegeben sind den Dokumenten einführende Aufsätze von Peter Klepsch und Herbert Voitl, von dem überdies zusätzliche kommentierende und kontextualisierende Texte stammen. Mit den Texten dieser beiden Autoren, die der Ermordung in Postelberg entgingen, dokumentiert Kalckhoff zugleich die Aufarbeitung des Massakers seitens der organisierten deutschen Heimatvertriebenen, was das von ihm aufgespannte Panorama um eine weitere Facette ergänzt.

Umso mehr gilt dies für das Mittel- und (so wird man zurecht sagen dürfen) Herzstück der Dokumentation, kommen hier doch die Opfer – Überlebende des Massakers – zu Wort: neben acht Saazern sind dies vier weitere Deutschböhmen aus dem Kreis Aussig. Während einer der Berichte – von Ottokar Kremen – nur fünf Jahre nach dem Massaker entstand, wurden die elf weiteren Berichte erst in den 2000er-Jahren, also mit einem größeren zeitlichen Abstand zu den Ereignissen aufgezeichnet bzw. verschriftet. Ergänzt werden die zwölf namentlich autorisierten Berichte um einen anonymen Text, der die Ermordung des Saazer Kapuzinerpaters Maximilian Hilbert am 7. Juni 1945 thematisiert. In seiner Vorbemerkung betont Kalckhoff den gewandelten Stellenwert, der den Zeitzeugenberichten –  dem zuvor einzigen und überdies aufgrund seines emotionalen und teils politisch aufgeladenen Charakters misstrauisch betrachteten Zeugnis der Ereignisse – durch die Auffindung und Publizierung der im ersten Teil dokumentierten Akten zukommt: „Sie sind nicht mehr umstrittene historische Primärquellen, denen man mit gemischten Gefühlen begegnet, weil ihre Behauptungen unbewiesen sind, sondern bildhafte und emotional bewegende Lebenszeugnisse, die nüchterne Akten farbig illustrieren – wenn auch auf schreckliche Weise.“ In ganz anderer, aber ebenso schrecklicher Weise leistet dies auch die – den zweiten Teil abschließende – Liste der Todesopfer im Saazer Land nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Hierbei bleibt Kalckhoff jedoch nicht stehen. Vielmehr stellt er, wie eingangs bereits erwähnt, den ersten beiden einen dritten Hauptteil zur Seite: „‚Diese Erniedrigung des Menschen‘: Scham, Gedenken und Versöhnung“. Hier kommt der Prozess des „Entlügens“ und der Versöhnung durch Wahrheit anhand der Jahre 1995 bis 2010 selbst explizit in den Blick. Dieser begann im Oktober 1995 mit der Veröffentlichung eines zweiteiligen umfangreichen Beitrags zum Massaker in der Zeitung „Svoboný HLAS“ und führte über vielfältige deutsch-tschechische Begegnungen – und immer wieder auch gegen Widerstände – bis zur Enthüllung einer Gedenktafel für die Opfer am 6. Juni 2010 in Postelberg. Man mag es bedauern, dass die Neuauflage der Dokumentation von Kalckhoff nicht genutzt wurde, um den letzten Hauptteil um Zeugnisse aus dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu ergänzen. Diese Lücke zur Gegenwart hin wird jedoch zumindest teilweise durch eine als „Nachlese“ in das Buch aufgenommene Reportage des tschechischen Historikers Jan Novotný aus dem Jahre 2017 geschlossen, der anlässlich des politisch fragwürdigen Abrisses der Postelberger Reiterkaserne, des Tatorts des Massakers, einen durchaus kritischen Blick auf den gegenwärtigen Stand des Postelberg-Gedenkens wirft: „An dem Ort, an dem Hunderte von Sudetendeutschen vor ihrem Tod konzentriert wurden und an dem sich nach Aussagen einiger Zeugen noch immer die Gräber der Opfer befinden, werden Familienhäuser mit Gärten stehen.“ Angesichts derartiger Entwicklungen zeigt sich die besondere Bedeutung von aktiven Prozessen des „Entlügens“ der Geschichte und einer daran anknüpfenden, auf Versöhnung zielenden Erinnerungsarbeit. Dokumentationen wie diejenige von Andreas Kalckhoff können hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten und Anregung geben – nicht zuletzt auch für entsprechende Initiativen in Polen.

Tilman Asmus Fischer

Andreas Kalckhoff, Was geschah in Saaz und Postelberg im Juni 1945? Geheime Dokumente und Zeitzeugenberichte enthüllen das Unfassbare / Co se stalo v Žatci a Postoloprtech v červnu 1945? Tajné dokumenty a svědecké odhalují nesrozumitelné události, Leipzig 2022, 529 Seiten, 49,80 Euro. ISBN 978-3-00-070731-5

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 3/2023.

Im Windschatten der Danziger Paramente

Anmerkungen zur Übergabe west- und ostpreußischer Kirchenglocken an ihre Heimatgemeinden durch die Diözese Rottenburg-Stuttgart

Im Windschatten der Auseinandersetzung um die beabsichtigte Übertragung des Danziger Paramentenschatzes durch die Union Evangelischer Kirchen an die Danziger Marienkirchengemeinde, kam es zu einem vergleichbaren Vorgang seitens der katholischen Kirche – konkret des Bistums Rottenburg-Stuttgart. Ende Juni übergab Bischof Dr. Gebhard Fürst in Begleitung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann drei Kirchenglocken an ihre west- und ostpreußischen Ursprungsgemeinden: in Dietrichsdorf (Kreis Stuhm), Frauenburg (Kreis Braunsberg) und Siegfriedswalde (Kreis Heilsberg). Diese waren auf Anordnung des nationalsozialistischen Regimes während des Zweiten Weltkriegs der Rüstungsindustrie zugeführt worden. Letztlich nicht eingeschmolzen, wurden sie – so wie ca. 1.300 andere Glocken – aus den deutschen Ostgebieten an westdeutsche Gemeinden verliehen.

Dass dieser Vorgang – wenn auch nicht in der Intensität wie im Fall der Paramente – auf Kritik aus den Reihen der deutschen Heimatvertriebenen und ihrer Nachfahren gestoßen ist, mag insbesondere an der Kommunikation seitens der Diözese liegen. Zwar werden in dem entsprechenden Bericht, den das Bischöfliches Ordinariat am 25. Juni online veröffentliche, die historischen Zusammenhänge präzise erläutert – insbesondere, dass es sich um Glocken „aus den ehemals deutschen Ostgebieten“ handelt. Dies wird jedoch – zumindest für den oberflächlichen Leser – dadurch verstellt, dass der Untertitel erklärt, Bischof und Ministerpräsident hätten die Glocken „zurück nach Polen“ gebracht. Mit der Rückkehr in ihre Heimatkirchen kommen die Glocken nun zwar selbstredend in das heutige Polen. Nach Polen kommen die Glocken jedoch nicht „zurück“, sondern erstmals. In einem Bericht vom Folgetag war dann dezidiert von „Glockenrückgaben“ die Rede. Im Falle der Paramente hatte die UEK demgegenüber explizit festgehalten, dass „nicht von einer Rückgabe, Rückführung oder Restitution die Rede, sondern von ihrer Rückkehr oder auch Heimkehr zur Marienkirche Danzig“.

Dass die Übergabe der Glocken dadurch motiviert ist, einen Beitrag zur Versöhnung zwischen Deutschen und Polen zu leisten, wird aus den entsprechenden Veröffentlichungen der Diözese deutlich. (Und hierzu gehörte für Bischof Fürst dann auch ein Gedenken an die deutschen Vertreibungsopfer am für sie errichteten Gedenkstein in Frauenburg.) Umso wichtiger wäre es, in diesen Zusammenhängen ebensolche Formulierungen zu vermeiden, die einen Akt der Versöhnung in Wiedergutmachungs- und Entschädigungsdiskurse einzulesen erlauben. Gelegenheit dazu, hier für mehr Klarheit zu sorgen, wird das Bistum in den kommenden Jahren haben, in denen es beabsichtigt, im Rahmen des Projekts „Friedensglocken für Europa“ „weitere Glocken in ihre Heimatgemeinden im heutigen Polen und Tschechien“ zu übergeben.

Tilman Asmus Fischer

Weitere Informationen zum „Friedensglocken“-Projekt finden sich hier: https://www.drs.de/friedensglocken.html

Erschienen in: Der Westpreuße – Unser Danzig. Landsmannschaftliche Nachrichten 3/2023.

„Rückkehr“ – nicht: „ Rückgabe“

Zur Diskussion um den Danziger Paramentenschatz

Von Tilman Asmus Fischer

Am 8 Dezember 2022 hatten die Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK), das Erzbistum Danzig und die Gemeinde der Danziger Marienkirche in Hannover einen „Letter of Intent“ unterzeichnet, dessen Inhalt nach Bekanntwerden durch eine offizielle Pressemitteilung zu anhaltenden kontroversen Diskussionen geführt hat: Die im Besitz der UEK befindlichen Stücke des Danziger Paramentenschatzes sollen durch Schenkung in den Besitz der Marienkirche übergehen. Parallel zur – teils mit verbitterten Stellungnahmen geführten – öffentlichen Debatte, kam es in inzwischen zu konstruktiven Gesprächen zwischen der UEK bzw. EKD und Vertretern aus dem Bereich der Vertriebenenpolitik. – Der in diesem Zusammenhang gewonnene Kenntnisstand, der die Gesamtlage in einem deutlich veränderten, klareren Licht erscheinen lässt, soll hier dokumentiert und zudem auf die hiermit verbundenen kulturpolitischen Perspektiven hin befragt werden.

Nachdem es am 28. April 2023 in Hannover zu einem Gespräch zwischen dem Präsidenten des BdV, Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius, und dem Präsidenten des EKD-Kirchenamtes, Dr. Hans Ulrich Anke, über grundsätzliche Fragen der Beziehung zwischen beiden Institutionen gekommen und dabei auch die Problematik des Paramentenschatzes angesprochen worden war, wandte sich am 16. Mai Bischöfin Petra Bosse-Huber in einem Brief an den BdV – und bezog die Westpreußische Gesellschaft wie den Bund der Danziger in die Korrespondenz mit ein. In ihrem Schreiben erläutert die Vizepräsidentin des Kirchenamtes und Leiterin des Amtsbereichs der UEK das Vorhaben zum Danziger Paramentenschatz. Diese bisher umfassendste offizielle kirchliche Stellungnahme sei hier mit Erlaubnis der Verfasserin dokumentiert.

Die Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) ist als Rechtsnachfolgerin der früheren Evangelischen Kirche der Union (EKU) bzw. der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union (ApU) Eigentümerin der (vorwiegend liturgischen) Gegenstände, die aus den am Ende des Zweiten Weltkriegs untergegangenen deutschen Evangelischen Kirchengemeinden im heutigen Polen von Mitgliedern dieser Gemeinden auf ihrer Flucht nach Westen mitgenommen und auf diese Weise häufig vor Verlust und Zerstörung gerettet worden sind. Diese Gegenstände sind von der EKU erfasst und in regulären Verfahren entweder an Evangelische Kirchengemeinden in Deutschland zu kirchlichem Gebrauch ausgeliehen worden oder werden als Dauerleihgaben der EKU/UEK in Museen in Deutschland aufbewahrt und ausgestellt. Ersuchen des polnischen Staates zur „Rückführung“ solcher Gegenstände nach Polen wurden seit Jahrzehnten (und werden grundsätzlich weiterhin) von der EKU/UEK abschlägig beschieden; dies wird zum einen mit den Eigentumsrechten begründet, die durch ein Urteil des Berliner Kammergerichts aus dem Jahr 1970 der EKU zugesprochen wurden, zum anderen mit dem Hinweis auf ausstehende zwischenstaatliche Gesamtregelungen zur Rückführung von Kulturgütern.

Allerdings wurden bereits in früheren Jahren in Einzelfällen Gegenstände – so ein Abendmahlskelch aus Jauer und einige historische Kirchenbücher aus Schweidnitz – an die betreffenden Kirchen, die heute zur Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen gehören, übergeben; dies war jeweils mit persönlichen Begegnungen der Beteiligten und mit gemeinsamen Gottesdiensten verbunden.

Auf Initiative des damaligen Bischofs der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Dr. Dr. h. c. Markus Dröge, und auf Beschluss des Präsidiums der UEK nahm die UEK im Jahr 2018 über das Erzbistum Danzig Kontakt zur Marienkirche Danzig auf, um wegen einer möglichen Rückkehr des von dort stammenden Dreifaltigkeitsaltars zu sondieren; dessen Retabel und Predella waren seit Jahrzehnten von der EKU/UEK an die Gemäldegalerie Berlin und an die St. Johannis-Kirchengemeinde Berlin Moabit ausgeliehen. Auf der Grundlage eines zwischen der UEK und der Marienkirche Danzig abgeschlossenen Schenkungsvertrages (und damit unter Anerkennung der vormaligen Eigentümerstellung der UEK) kehrte der Altar im März 2020 in seine Heimatkirche zurück. Aus Anlass einer Ökumenischen Vesper, die zum Trinitatisfest 2022 vom Erzbistum und der Marienkirche Danzig und von der UEK vor diesem Altar gemeinsam gefeiert wurde, wurde die Erarbeitung eines Letter of Intent zum „Danziger Paramentenschatz“ in Aussicht genommen. In ihm sollte – analog zum beim Dreifaltigkeitsaltar gewählten Verfahren – vereinbart werden: (1) die förmliche Schenkung der aus der Marienkirche Danzig stammenden, von Mitgliedern der dortigen Evangelischen Kirchengemeinde gegen Kriegsende bei der Flucht in den Westen geretteten und seit Jahrzehnten in Museen in Lübeck und Nürnberg aufbewahrten Stücke des „Danziger Paramentenschatzes“ von der UEK an die Marienkirche Danzig; (2) ihre Rückkehr zur Marienkirche Danzig zu einem Zeitpunkt, zu dem sie dort museologisch adäquat aufbewahrt und ausgestellt werden können. Ein solcher „Letter of Intent“ wurde am 8. Dezember 2022 in Hannover vom UEK-Vorsitzenden, Kirchenpräsident Dr. Dr. h. c. Volker Jung, vom Danziger Erzbischof Dr. Tadeusz Wojda und vom Pfarrer der Marienkirche Danzig, Prälat lreneusz Bradtke, unterzeichnet. Die Absichtserklärung sieht außer der Eigentumsübertragung durch Schenkung und der Rückkehr der Paramente nach Danzig vor, dass, wie es schon gegenwärtig der Fall ist, auch künftig in Lübeck und Nürnberg einzelne Paramente – dann als Leihgaben der Marienkirche Danzig – ausgestellt sein werden und dass ein gemeinsamer Fachbeirat die Umsetzung des Vorhabens begleitet.

Die auch künftige, dauerhafte Präsenz von Danziger Paramenten in Lübeck und Nürnberg soll gewährleisten, dass die dankbare Erinnerung an die Rettung des Danziger Paramentenschatzes vor Kriegsverlust und -zerstörung durch die aus Danzig geflüchteten und vertriebenen Evangelischen weiterhin in Deutschland lebendig bleibt und gepflegt wird. Diese Erinnerung gehört aber – und das erscheint uns genauso wichtig – zu der Narration, die mit der Rückkehr der Paramente an ihren Ursprungsort, die Marienkirche Danzig, auch dort erzählt werden soll und erzählt werden wird: die Narration von einer gemeinsamen deutschen und polnischen, evangelischen und katholischen Geschichte an der Marienkirche Danzig, die zur Entwicklung einer gemeinsamen europäischen und ökumenischen Zukunftsperspektive herausfordert. Für diese heute mehr als in früheren Jahrzehnten mögliche Sicht, dass auf der Grundlage geschichtlicher Verbundenheit gemeinsame Verantwortung erwächst, muss, das ist der UEK sehr bewusst, auf beiden Seiten von Oder und Neiße geworben werden. Ich werde mich bei meinem Besuch in Danzig Anfang Juni, der wieder mit einem ökumenischen Gottesdienst verbunden sein wird, bei meinen dortigen Gesprächspartnern persönlich dafür einsetzen. Bitte betrachten Sie auch dieses Schreiben als Ausdruck meines Wunsches – und des Anliegens der UEK –, auch bei denen, für die die deutsch-polnische und die evangelisch-katholische Beziehung durch schmerzliche persönliche und familiäre Erinnerungen belastet ist, um Zustimmung zu dem Vorhaben, das ich Ihnen geschildert habe, zu werben.

Einige Tage später, am 25. Mai, nahm die UEK zudem in einer öffentlichen Erklärung zu Vorwürfen Stellung, die das Kirchenamt seit Publik-Werden des „Letter of intent“ erreichten.[1] Dieses Dokument ist auch deshalb bedeutsam, weil es – zugespitzter als der Brief von Bischöfin Bosse-Huber – Befürchtungen zu zerstreuen vermag, welche die Pressemitteilung im Dezember des Vorjahres hatte wecken können.[2]

So wird zum einen der politische Kontext des Vorhabens erhellt und betont, dass die „Initiative zu dem Projekt […] nicht von polnischer Seite, sondern allein von der UEK“ ausgegangen sei und bei ihrer Umsetzung – wie bereits im Falle des Dreifaltigkeitsaltars – „für die UEK nur die Kirche, namentlich die Marienkirche und das Erzbistum Danzig, als Gegenüber auf polnischer Seite in Betracht“ komme. Dabei zieht sich die UEK nicht darauf zurück, dass es sich bei diesen Vorgängen um eine rein „kirchliche“ Angelegenheit ohne politische Implikationen handelt, sondern zeigt sich gerade dafür sensibel: So sei „vor der Rückkehr des Dreifaltigkeitsaltars in die Marienkirche Danzig die Zustimmung zuständiger Stellen der deutschen Bundesregierung eingeholt worden“ und es hätten „an den aus diesem Anlass stattfindenden Feierlichkeiten auch Vertreterinnen und Vertreter der deutschen und der polnischen Politik teilgenommen. Zudem wurde im ‚Letter of Intent‘ zum Danziger Paramentenschatz festgelegt, dass zu den Aufgaben des gemeinsamen Fachbeirats auch die Klärung politischer Fragen gehört, die sich bei diesem Vorhaben stellen.“ Dabei wäre es – so ließe sich anschließen – wünschenswert, dass die Klärung politischer Fragen über den Kreis eines Beirates hinaus auch in die deutschen und polnischen Öffentlichkeiten hineinwirken möge; denn zwischen beiden Staaten und Zivilgesellschaften sind bei allen Fortschritten der letzten Jahrzehnte weiterhin gewichtige Fragen offen. Sie betreffen sowohl die in beiden Ländern betriebenen Erinnerungspolitiken als auch die von Bosse-Huber benannte „ausstehende zwischenstaatliche Gesamtregelungen zur Rückführung von Kulturgütern“. Vielleicht – so eine leise Hoffnung – können die Bemühungen um die Zukunft des Paramentenschatzes den Ausgangspunkt für eine grundsätzliche Diskussion um Perspektiven des deutsch-polnischen Umgangs mit dem gemeinsamen Kulturerbe sein. Dabei – und das muss deutlich gesagt werden – besteht Klärungsbedarf hinsichtlich der (bewusst in den Plural gesetzten) Erinnerungspolitiken – nicht nur zwischen Deutschland und Polen, sondern auch innerhalb Deutschlands. Denn mit den Regelungen zum Verbleib „nur“ einiger Stücke der Paramente in der Bundesrepublik stellt sich – ganz unabhängig von Fragen der Besitzstandswahrung – die Frage, welche Bedeutung und Aufmerksamkeit dem ostdeutschen Kulturerbe im bundesrepublikanischen „Kulturbetrieb“ zukommt. Die UEK mit ihrer jetzigen Entscheidung für hier ganz offensichtlich bestehende gesamtgesellschaftliche Defizite in Geiselhaft nehmen zu wollen, geht am Ziel vorbei. Wenn wir jedoch über den Fall der Paramente darüber ins Gespräch kommen können, welchen Platz ostdeutsches Kulturgut in deutschen Museen und Kultureinrichtungen hat und haben soll, wäre das nur zu begrüßen.

Zum anderen wendet sich die EKU gegen Spekulationen, „als seien die Paramente unrechtmäßig nach Lübeck bzw. Nürnberg und ins Eigentum der UEK, der Rechtsnachfolgerin der untergegangenen evangelischen Marienkirchengemeinde Danzig, gelangt oder als würden sie auf eine Forderung hin zurückerstattet“. Dementsprechend sei „nicht von einer Rückgabe, Rückführung oder Restitution die Rede, sondern von ihrer Rückkehr oder auch Heimkehr zur Marienkirche Danzig“. Die UEK stelle „den Gedanken in den Mittelpunkt, dass die Paramente als historische Objekte und als kulturelles Erbe untrennbar mit der Marienkirche Danzig verbunden sind und dorthin zurückkommen“. Dass dies seitens der UEK so deutlich benannt wird, ist in doppelter Hinsicht zu begrüßen. Erstens steuert eine solche Klarstellung der Gefahr, das Vorhaben in den derzeit in Deutschland populären postkolonialen Restitutionsdiskurs einzulesen – und damit die Geschichte der vertriebenen Danziger Evangelischen in einer Weise zu beschädigen, die nicht nur erinnerungspolitisch fatal, sondern vor allem auch unter pastoralen Gesichtspunkten unverantwortlich wäre. Zweitens tragen die klaren Worte der UEK dazu bei, das Vorhaben auch davor abzusichern, wiederum in Polen von politischen Akteuren (jenseits der unmittelbaren Kooperationspartner) in die dort geführten Restitutionsdiskurse eingelesen zu werden, dessen Forderungen fortwährend an Deutschland adressiert werden. Das Problembewusstsein hierfür scheint bei der UEK in jedem Fall vorhanden zu sein. So schließt die Erklärung mit den Worten: „Den Partnern ist bewusst, dass eine solche neue Erzählung und die sie begleitenden Zeichen der Versöhnung sowohl in Deutschland als auch in Polen ernsten Vorbehalten begegnen, die aus den geschichtlichen Belastungen zwischen beiden Ländern und Konfessionen herrühren. Sie fühlen sich verpflichtet, diesen Vorbehalten verständnisvoll zu begegnen und gleichwohl für die gemeinsam gewonnene Einsicht zu werben.“ Eine aktive Einbeziehung der vertriebenen Danziger (und dabei im Sinne der Ökumene nicht nur der Protestanten) bzw. ihrer Nachfahren und deren Organisationen und Institutionen – wie der Westpreußischen Gesellschaft oder der Kulturstiftung Westpreußen – kann zum Gewinnen von Verständnis gewiss nur beitragen. In jedem Fall ist dem gesamten Fachbeirat, der sich am 2. und 3. Juni in Danzig konstituiert hat, zu wünschen, dass es ihm gelingt, an der von den Initiatoren angestrebte „Narration“ festzuhalten, sie zu stärken und gegen politische Angriffe wie Instrumentalisierungsversuche zu verteidigen, die es gewiss diesseits wie jenseits der Oder geben wird.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 2/2023.


[1] Erklärung zur beabsichtigten Rückkehr des Danziger Paramentenschatzes zur Marienkirche Danzig: https://www.uek-online.de/3-5-artikel-content-1054-erklaerung-danziger-paramentenschaftz-1054.php

[2] „Danziger Paramentenschatz“ kehrt zurück, EKD, 9. Dezember 2022: https://www.ekd.de/ruckkehr-danziger-paramentenschatz-76569.htm