„In dieser Welt bleibt nur der Heuchler sauber“

Der evangelische Militärpfarrer Klaus Beckmann widmet sich in einer bedenkenswerten Streitschrift der theologischen Perspektive auf den Soldatenberuf in Zeiten der sicherheitspolitischen Neuorientierung

Von Tilman Asmus Fischer

Als „Erinnerungs- und Streitschrift“ markiert der evangelische Theologe Klaus Beckmann – 2011 bis 2020 Militärseelsorger, zuletzt persönlicher Referent von Militärbischof Sigurd Rink – sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch. Inhaltlich freilich liegt der Akzent eher auf dem streitbaren Debattenbeitrag als auf anekdotischen Berichten – und dies gereicht „Dienstweg – kein Durchgang?“ nur zum Vorteil. Denn was der Autor bietet, ist – bei aller Sättigung durch die Praxiserfahrung eines Militärpfarrers – eine friedensethische wie pastoraltheologische bzw. kirchentheoretische Standortbestimmung auf höchstem Reflexionsniveau.

Unter einer friedensethischen Perspektive liest sich Beckmanns Buch als einer der profundesten Beiträge zur die sogenannte „Zeitenwende“ begleitenden theologischen Debatte, die sich zwischen einem Aufbegehren fundamentalpazifistischer Positionen und Spekulationen über eine Wiederkehr der Lehre vom „gerechten Krieg“ bewegt. „In dieser Welt bleibt nur der Heuchler sauber“, kann der Autor am Schluss konstatieren – und diese Einsicht verdichtet wie in einem Brennglas seine Argumentation, die sich gegen unaufrichtige Positionen eines Radikalpazifismus wendet, den Beckmann in seiner deutschen Spielart wiederholt als Wiedergänger eines Nationalpazifismus mit Wurzeln in den dunkelten Kapiteln der Geschichte unseres Landes identifiziert. Für eine aufrichtige Perspektive tritt Beckmann demgegenüber ein, indem er vom Faktum der unerlösten Welt ausgehend zu einer verantwortungsethischen Herleitung der Notwendigkeit der Institution Militär gelangt.

Dabei betont Beckmann den hohen Wert, welcher der Gestalt des Militärischen zukommt, wie sie sich in der Bundeswehr mit den Prinzipien der „Inneren Führung“ bzw. des „Staatsbürgers in Uniform“ herausgebildet hat. Gewiss stellt der Autor mit dem Bild des gebildeten, verantwortungsbewussten und kritischen Subjekts hohe Ansprüche an den Beruf des Soldaten. Jedoch bilden ebendiese Ansprüche das logische Korrelat zur inhaltlichen Begründung der Existenz von Streitkräften, wie Beckmann sie vornimmt: zur Sicherung von Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit sowie zur Wahrnehmung internationaler Verantwortung unter dem Vorzeichen der Idee des „gerechten Friedens“.

Nicht minder bedenkenswert sind Beckmanns Ausführungen, liest man sie in einer postoraltheologischen bzw. kirchentheoretischen Blickrichtung: Ebenso klar, wie der Autor eine ethische Würdigung des Soldatenberufs vornimmt, tritt er für die Unabhängigkeit der Seelsorger wie der Institution Kirche im System Bundeswehr ein. Denn – eine grundsätzliche Problematik, die auch aus anderen Bereichsseelsorgen prinzipiell bekannt ist, sich aber im Falle der Militärseelsorge in besonderer Weise zeigt – das Bezugssystem, in dem die Militärpfarrer wirken, hat eine deutliche Tendenz dazu, die Geistlichen zu vereinnahmen. Dem stellt der Autor die Erwartungen der Soldaten an Militärseelsorger gegenüber – und hier mag eine implizite Kritik an einzelnen Amtsbrüdern anklingen:

„Nach meiner Erfahrung verfügen Soldaten über ein hohes Maß an kritischer Sensibilität gegenüber Anbiederungsversuchen. Sie wünschen sich durchaus nicht, dass ein Seelsorger in ‚Grünzeug‘ durch die Kaserne marschiert; militärisches Grüßen wird beim Militärpfarrer als unstatthaft empfunden – nicht allein, weil dieser nun eben einen zivilen Status hat, sondern auch und gerade, weil den meisten Soldaten bewusst ist, welchen Schatz der Seelsorger in seiner Sonderstellung für sie darstellt. Gleitet er in das militärische ‚grüne‘ Milieu ab, geht ein Stück Freiheit im militärischen Alltag verloren.“

Dieses „Stück Freiheit“ beginnt beim von den Seelsorgern als Raum freier Aussprache gestalteten Lebenskundlichen Unterricht und reicht über ihre Unabhängigkeit von der militärischen Hierarchie bis hin zum Beicht- und Seelsorgegeheimnis, das Militärseelsorger von Truppenpsychologen unterscheidet und einen Raum des geschützten Gesprächs selbst in Extremsituationen garantiert. Zur Absicherung ebendieser Freiheit und Unabhängigkeit mahnt der Autor wiederholt Strukturreformen innerhalb der evangelischen Militärseelsorge an: „Ein Verbesserungsansatz für die Militärseelsorge kann in verfassten Basisvertretungen liegen, die es dem Seelsorger ermöglichen, sich in Entscheidungen und Äußerungen abzustimmen und abzusichern. Handlungen der Militärseelsorge würden so nach außen nicht vom Pfarrer allein, sondern durch ein legitimiertes Gremium vertreten.“

Dabei greift der Verfasser interessanterweise auf die katholische Organisationsstruktur als Vorbild zurück: „Beachtenswert finde ich die Tatsache, dass die katholische Militärseelsorge bislang in der Beteiligung der Basis mehr zu bieten hat als die evangelische Seite. Dort existieren bei den Standortpfarrämtern verfasste“ – wenn auch, wie Beckmann einschränkt, vom Pfarrer berufene und nicht gewählte – „Mitarbeiterkreise und Pfarrgemeinderäte; über mehrere Ebenen hinweg sind die katholischen Soldatinnen und Soldaten bis ins Zentralkomitee der deutschen Katholiken repräsentiert.“

Diese Bezugnahme ist nur einer von zahlreichen Aspekten, die „Dienstweg – kein Durchgang?“ für eine ökumenische Leserschaft und nicht nur für den kleinen Kreis der an Fragen der evangelischen Militärseelsorge Interessierten äußerst lesenswert macht. Mithin in Monaten, da sich die gesamte Gesellschaft neu über Grundkoordinaten von Sicherheitspolitik und Friedensethik orientieren muss, stellen diese Reflexionen, die an Erfahrungen als „Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr“ anknüpfen, unangenehme Fragen und bieten Thesen, die in einer aufrichtigen öffentlichen Debatte nicht ausgeklammert werden sollten. Dass Deutschland diese Debatte vor dem Hintergrund seiner historischen Verantwortung ebenso wie gegenüber seinen heutigen Uniformträgern schuldig ist, macht Beckmann eindrücklich klar.

Klaus Beckmann: Dienstweg – kein Durchgang? Als Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr. Eine Erinnerungs- und Streitschrift. Miles-Verlag, Berlin 2022, 264 Seiten, ISBN 978-3967760439, EUR 19,80.

Erschienen am 20. April 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Nach dem Ende der Illusionen

Die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Gwendolyn Sasse hat bereits acht Monate nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine eine fundierte Überblicksdarstellung der Hintergründe und Entwicklungen des Krieges vorgelegt. Im Interview mit Tilman A. Fischer spricht die Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin über die Implikationen für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik.

Frau Professor Sasse, Sie üben wiederholt Kritik an der – teils überwundenen – Perspektive „des Westens“ auf Russland. Welche westlichen Illusionen sind mit und seit dem 24. Februar 2022 zertrümmert worden?

Zum einen ist das die Illusion, dass man Russland von außen verändern kann. Allerdings hatten sich vielleicht auch schon weniger Menschen in der deutschen und europäischen Politik dieser Illusion hingegeben; aber die Illusion, die es noch gab, war die Vorstellung, dass man das Verhältnis managen und die einseitige Energieabhängigkeit ausbalancieren könnte. Zwischen diesen Ideen von „Wandel durch Handel“ oder zumindest „sicherheitspolitischer Stabilität durch Handel“ bewegt sich diese Hauptillusion, die am 24. Februar 2022 zerbrach. Zum anderen gehört dazu, dass man in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit gar kein klares Bild von der Ukraine als Staat und Gesellschaft hatte. Nur so erklärt sich, wie überrascht man nach Kriegsbeginn hierzulande über die militärische, politische und gesellschaftliche Resilienz der Ukraine war.

Was lehrt uns dieser Befund über den vor dem Angriffskrieg eingeübten Blick Deutschlands und Europas auf Ost- und Ostmitteleuropa?

Dazu gehört wieder zweierlei: Einerseits hat man zu lange das gesprochene und geschriebene Wort Putins und einiger seiner Eliten über die Ukraine nicht ernstgenommen – selbst das, was er in deutschen Zeitungen veröffentlicht hat. Man hat sich nicht vorstellen können, dass das wirklich in Politik umgesetzt werden könnte. Daraus folgt die Lehre, dass man Rhetorik – und vor allem staatliche Rhetorik – ernstnehmen muss. Andererseits hat man vor allem in Deutschland, aber auch in Europa, die Sowjetunion als Russland fortgeschrieben. Viele ostmitteleuropäische Staaten kamen in dieser Wahrnehmung gar nicht vor und es gab keinen differenzierten Blick auf Staaten wie die Ukraine; gleiches gilt für Moldau und Belarus. Es liegt eine große Schwäche darin, dass es nicht gelungen ist, den eigenen Blick den politischen Wirklichkeiten anzupassen, sondern sich vielmehr die Wahrnehmung – bewusst oder unbewusst – auf Russland verengt hat.

Vor welchen Herausforderungen steht die EU nun nach dem Ende der Illusionen?

Was ganz deutlich wird, ist, dass die EU außenpolitisch, aber auch im Innern, an die Grenzen ihrer Funktionsfähigkeit gestoßen ist. Es stehen außen- und sicherheitspolitische Grundsatzfragen im Raum, aber auch interne Reformen, die u.a. für einen ukrainischen EU-Beitritt unerlässlich sind.

Lassen Sie uns vielleicht zunächst die innere Verfasstheit der EU fokussieren! Mit Russland befindet sich die EU in einem offenen Konflikt mit einem autoritären Staat. Welche Konsequenzen hat dies für autoritäre Tendenzen in einzelnen EU-Mitgliedsstaaten – mithin für die Spannungen zwischen der Visegrád-Gruppe und dem Westen der EU?

Wir sehen keine so klare Ost-West-Spaltung der EU, und das ist auch gut so. Aber natürlich bleiben die autoritären Tendenzen und Regime, die es in der EU gibt, bestehen – vor allem in Ungarn, welches ein schwieriger Partner in Fragen der Russland-Politik ist. Allerdings war vor Februar letzten Jahres klar, dass Polen und Ungarn sich gegenseitig unterstützen und die wenigen Sanktionsmöglichkeiten in der EU aushebeln würden. Das ist jetzt gebrochen, weil Polen sich mit Blick auf die Ukraine anders positioniert als Ungarn. Das heißt aber nicht, dass sich innenpolitisch in Polen irgendetwas verändert hätte. Vielleicht kommt das noch. Aber im Moment ist das nicht zu erkennen. Die Herausforderung im Moment ist, zu sehen: Wo gibt es Solidarität, um in dieser Situation als EU zu funktionieren und die Bedingungen für eine Beitrittsperspektive für einen ukrainischen EU-Beitritt zu schaffen? Denn, wenn es eine glaubwürdige Perspektive sein soll, setzt das voraus, dass sich auch die EU reformiert. Die Probleme innerhalb der EU – und die inneren Gefährdungen für die Demokratie – bleiben bestehen, vielleicht aber schärft die Auseinandersetzung mit dem autoritären Regime in Moskau den Blick für sie.

Wie wird sich wiederum die Außen- und Sicherheitspolitik der EU verändern müssen?

Das ist eine offene Frage – aber die EU muss sich verändern und muss auch die Politik gegenüber ihrer sogenannten Nachbarschaft anpassen. Denn es ist einiges in Bewegung: in der Ukraine ohnehin – und Ukraine und Moldau haben jetzt eine konkrete Beitrittsperspektive. Hier wird es darum gehen, diese glaubwürdig zu gestalten und mit notwendigen Reformen – und im Falle der Ukraine mit dem Wiederaufbau – zu verknüpfen. Das wird eine sehr große Herausforderung sein. Darüber hinaus wird die Politik, die sich an die weitere Nachbarschaft richtet, Anpassungen erfahren müssen. Auch Beziehungen in den Südlaukasus werden stärker als bisher differenziert werden müssen – insbesondere, wenn wir an das autoritäre Aserbaidschan denken. Regional verändern sich in dieser Gegend die Machtverhältnisse, nicht zuletzt, da Russland sich momentan auf den Krieg in der Ukraine konzentrieren muss, was Ressourcen bindet. Das hat Folgen für Akteure wie Aserbaidschan, die im  militärischen Konflikt mit Armenien um Bergkarabach den neuen Spielraum austesten, aber auch für die Rolle der Türkei oder des Irans in der Region. Daraufhin muss die EU sich in Ihrer Politik anpassen.

Was ist hierzu notwendig?

Sie muss generell präsenter werden, auch über die Länder der östlichen Partnerschaft hinaus, und klarer formulieren, was sie in Beziehungen mit Ländern etwa in Zentralasien, aber auch in Asien oder Afrika anzubieten hat. Das ist bisher eher diffus geblieben. Bedingungen wie die Regelungen zur Beschlussfassung innerhalb der EU müssen verändert werden, wenn sie ein glaubwürdiger Akteur in der Außen- und Sicherheitspolitik sein will, was von ihr erwartet wird: in der EU, in der Ukraine ohnehin, aber auch in Washington. Die USA erwarten schon seit langem, dass die EU souveräner wird. Es gibt noch nicht einmal einen Konsens, was für ein sicherheitspolitischer Akteur die EU sein will und ob dazu auch eine gemeinsame militärische Dimension gehört, wie der französische Atomschirm. Auch der derzeitige Konsens hinter der militärischen Unterstützung für die Ukraine könnte sowohl in Teilen der EU als auch in den USA brüchig werden.

Gwendolyn Sasse, Der Krieg gegen die Ukraine. Hintergründe, Ereignisse, Folgen, C. H. Beck, München 2022. 128 Seiten, 4 Karten; 12,00 €; ISBN 978-3-406-79305-9.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2023.

Gefährdete Unabhängigkeit

Welche Leitlogik prägt die Militärseelsorge? Ein ökumenisches Gespräch offenbart theologische Leerstellen

Von Tilman Asmus Fischer

Als die beiden evangelischen Theologen Isolde Karle und Niklas Peuckmann 2020 ihren Sammelband „Seelsorge in der Bundeswehr. Perspektiven aus Theorie und Praxis“ herausgaben, betonten sie in ihrer Einleitung in besonderer Weise die Herausforderung, „die stets gefährdete Unabhängigkeit der Militärseelsorge zu erhalten und zu fördern“: „Jede ‚Bereichsseelsorge‘, mithin jede Seelsorge, die in einer nicht-religiösen Institution angesiedelt ist, steht in der Gefahr, von der Leitlogik der gastgebenden Institution absorbiert zu werden. Das Soziale ist in aller Regel stärker als das Bewusstsein, deshalb lassen sich Seelsorgerinnen und Seelsorger leicht in den Sog der Systemlogik ziehen, die in einer Institution vorherrschend ist, – ob das die Schule, das Krankenhaus oder die Bundeswehr ist. In der Bundeswehr scheint diese Dynamik besonders ausgeprägt zu sein.“

Anschauungsmaterial dieser ‚Dynamik‘ bot am 7. Februar ein vom „Berlin Center for Intellectual Diaspora“ an der Katholischen Akademie veranstaltetes Hintergrundgespräch unter dem Titel: „Seele und Moral der Truppe – was tut und was soll Militärseelsorge heute?“ Eingeladen hatte das Center, dessen Leiterin Dr. Gesine Palmer den Abend moderierte, drei ‚Strausberger‘: die Leiter des Evangelischen bzw. Katholischen Militärpfarramts Strausberg, die Militärdekane Otto Adomat und Siegfried Weber, sowie den im Kommando Heer mit Sitz in Strausberg für Fragen der Inneren Führung zuständigen Oberst York Buchholtz.

Auf dem Podium
Auf dem Podium (v.l.n.r.): Militärdekan Siegfried Weber, Dr. Gesine Palmer, Militärdekan Otto Adomat, Oberst York Buchholtz (Foto: Ting-Chia Wu).

Gewiss, alle drei betonten dezidiert den hohen Wert der rechtlich verbrieften Unabhängigkeit der Militärseelsorge in der Bundeswehr: Die Bindung der Geistlichen an das Beicht- bzw. Seelsorgegeheimnis, ihre Stellung jenseits der militärischen Hierarchie und den damit gewährten Schutz vor einer Indienstnahme der Seelsorge durch die militärische Führung. Dennoch stimmten die Kurzvorträge sowie die Diskussion nachdenklich mit Blick auf das zur Sprache gebrachte pastorale Selbstverständnis bzw. theologische Hintergrundannahmen, bei denen sich wiederholt die Frage aufdrängte, welche ‚Leitlogik‘ für sie ausschlaggebend ist: eine militärische oder eine kirchliche bzw. theologische.

Am deutlichsten war die Prägung durch eine kirchliche ‚Leitlogik‘ beim katholischen Militärdekan Weber zu erkennen, der das Aufgabenprofil eines Militärgeistlichen prinzipiell als demjenigen des Priesters in einer Zivilgemeinde gleichgestaltet beschrieb. Weber sprach als bodenständiger Praktiker, als zugewandter Seelsorger, der – Grundvoraussetzung seines Dienstes – „Menschen mag“ und „Soldaten mag“. Durch ihn – wie durch die anderen Podiumsteilnehmern – wurde jedoch kaum die Ebene einer kritischen Hinterfragung des militärseelsorgerlichen Wirkens im von Karle und Peuckmann skizzierten Sinne erreicht. Die Diskussion verblieb weitestgehend in einer positivistischen Darstellung des selbsterlebten Ist-Zustandes der Pastoral unter Soldaten.

Hellhörig konnte man freilich werden, als Weber seinen evangelischen Amtskollegen als „Kamerad Adomat“ titulierte. Dass Militärgeistliche – zumal im Kontext und vor dem Hintergrund gemeinsam erlebter Einsatzerfahrungen – für die ihnen anbefohlenen Soldaten die Bezeichnung des Kameraden verwenden, ist nachvollziehbar und mag womöglich auch unter poimenischen Gesichtspunkten legitim sein. Was aber sagt es über die hinter dem eigenen Dienst als Pfarrer stehenden Überzeugungen aus, wenn man im Miteinander unter Amtsbrüdern – und eben nicht im Austausch mit der ‚gastgebenden Institution‘ – eine Selbstbezeichnung verwendet, die sich gerade nicht aus dem gemeinsamen kirchlichen Dienst, sondern aus der ‚Systemlogik‘ des Militärischen speist?

Diese Anrede mag aber vielleicht auch dadurch getriggert worden sein, dass „Kamerad Adomat“ sich selbst recht rustikal in Szene setzte. So klar er sein Wirken auch durch konsequenten Bezug auf Seelsorge und Verkündigung als ein geistliches profilierte, erstaunt doch, dass er in seinem Eingangsstatement als persönliche Motivation zum Dienst als Militärseelsorger den Wunsch fokussierte, „meinem Land – der Bundesrepublik – etwas zurückzugeben“. Dies entspricht dem legitimen soldatischen Selbstverständnis „Wir dienen Deutschland“ – fraglich ist hingegen, ob diese Akzentsetzung dem Proprium entspricht, welches der Wahlspruch der Evangelischen Militärseelsorge insinuiert: „domini sumus“. Werden Militärseelsorger in der theologischen Fachliteratur gerne als „outstanding insiders“ bezeichnet, so konnte man bei Adomat eher den ‚insider‘ als das ‚outstanding‘ betont sehen. So wird er gewiss mit der Beobachtung recht haben, dass die Einsatzwirklichkeit mit erlebter Auftragserfüllung, Kameradschaft und der Begegnung mit Soldaten befreundeter Armeen über geistige Ressourcen für den soldatischen Dienst verfügt. Seine Stilisierung der religiösen Dimension von Kriegserfahrungen ließ jedoch eine kritische Haltung gegenüber der Lebenswirklichkeit der ihm anvertrauten Soldaten vermissen. Dabei täte man dem evangelischen Militärdekan unrecht, ihn als Militaristen misszuverstehen – konnte er doch andererseits etwa die Bedeutung der Versöhnungsliturgie von Coventry im Militärgesangbuch und damit Versöhnung als Zielperspektive auch soldatischen Handelns hervorheben.

Karle und Peuckmann sehen den Trend zur ‚Absorbierung‘ von Militärgeistlichen durch das System Bundeswehr nicht zuletzt darin begründet es sich hierbei um eine Institution handelt, „die ausgeprägter als andere Institutionen, in denen Seelsorgerinnen und Seelsorger tätig sind, durch hierarchische Strukturen bestimmt ist und zugleich dazu tendiert, Seelsorgerinnen und Seelsorger als fest integrierte Bestandteile des Systems zu begreifen.“ Diese Tendenz klang auch bei Oberst Buchholtz an, der in seinem Eingangsstatement von der Militärseelsorge auch als „Führungsinstrument“ sprechen konnte, zu dessen Nutzung er jeden militärischen Führer nur ermuntern könne. Bereits zuvor hatte er betont, dass viele der Angehörigen von Kampfverbänden zwar keine Christen seien, aber der mit Einsatzrealität konfrontierte Soldat dennoch eine Person brauche, die ihm sagt: „Du kämpfst für das richtige.“ Diese Engführung der Seelsorge auf die moralische Legitimierung des kriegsvölkerrechtlich Legalen mag der Systemlogik einer Armee entsprechen – und die Offenheit, in der sich Oberst Buchholtz zu dieser Haltung bekannte, verdient Anerkennung. Bemerkenswert ist jedoch, dass keiner der anwesenden Militärseelsorger sie theologisch begründet hinterfragte.

In anderer Form erschienen am 16. Februar 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

„Putins Intention war klar gescheitert“

Ein Blick auf die Hintergründe und Folgen des Kriegs in der Ukraine

Von Tilman Asmus Fischer

„Warum dieser Krieg? Warum jetzt?“ Diese Fragen prägten den Tenor des medialen Echos auf den russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 – und mit ihnen überschreibt Gwendolyn Sasse das erste Kapitel ihres Ende desselben Jahres in der Reihe „C. H. Beck Wissen“ erschienen Buches, welches dem „Krieg gegen die Ukraine“ eine prägnante Überblicksdarstellung und Analyse widmet. Dabei erwartet den Leser mehr als eine Ereignisgeschichte der vergangenen fast zwölf Monate, nämlich eine kluge und weitsichtige Einordnung ebendieser in historische und politische Prozesse seit dem Untergang der Sowjetunion und insbesondere ab 2014. Denn der Krieg beginnt für die Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien begründetermaßen bereits mit der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion und geht nach dem unmittelbar hieran anschließenden Krieg im Donbas mit dem Angriffskrieg 2022 bereits in seine dritte Phase.

Das Geschehen seit 2014, sowie seine Folgen sind Gegenstand des zweiten Teils des Buches, während sich der erste der Vorgeschichte annimmt und Entwicklungen sowohl in der Ukraine als auch in Russland fokussiert. Dabei vermeidet Sasse explizit eine Verengung auf das Narrativ von „Putins Krieg“, sondern bietet zur Erklärung der Eskalation seit Februar 2022 vielmehr ein „Geflecht von miteinander verbundenen Entwicklungen“ an, welches seine Mitte findet in „Russlands autoritäre[m] Systemerhalt samt seiner neo-imperialen Machtprojektion“ hat. Hinzu treten als weitere entscheidende Faktoren „die Durchdringung der russischen Gesellschaft mit staatlicher Geschichtspolitik und Propaganda“, „die Demokratisierung und Westorientierung der Ukraine“, „die Stärkung einer staatszentrierten ukrainischen Identität“, „die zunehmende Diskrepanz zwischen westlichen und russischen Sicherheitswahrnehmungen“, „die wachsenden Widersprüche in der westlichen Russland-Politik“ sowie „die Sukzessive Ausweitung des Krieges seit 2014“.

In Aufgriff einzelner dieser Faktoren vertieft Sasse die Perspektive auf die Ukraine und Russland in einzelnen Kapiteln zu drei zentralen Aspekten: Hinsichtlich der Ukraine nimmt sie einerseits unter den Schlagwörtern „Unabhängigkeit und Territorium“ die Diskurse um die territoriale Integrität und Identität der Ukraine nach dem Ende der Sowjetunion in den Blick. Andererseits entwirft sie eine stimmige Geschichte der politischen Transformation der Ukraine seit ihrer Eigenständigkeit, in der aufgrund des „enge[n] Zusammenhang[s] von Protest und Transformation“ die „Gesellschaft zur Hauptfigur“ wird. Russland tritt nochmals unter den Gesichtspunkten des „Autoritarismus und (Neo-)Imperialismus“ in Erscheinung. Dabei schlägt die Autorin, die selbst den Lehrstuhl für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin bekleidet, als Interpretament für das gegenwärtige russische Regime den Begriff „digitaler Autoritarismus“ vor. Dieser „erfasst die miteinander verwobenen Aspekte von Überwachungsmechanismen, der Omnipräsenz staatlicher Propaganda und der Medienaufsicht, eine bewusste Verunsicherung der Bevölkerung durch unterschiedliche Darstellungen internationaler Ereignisse und die teilweise Kontrolle des Internets auf dem Weg zum deklarierten Ziel eines spezifisch russischen ‚souveränen Internets‘“.

Der nüchtern-klarsichtige Zugriff, der bereits den ersten Teil des Buchs prägte, kommt ebenso im zweiten, die Jahre ab 2014 erörternden, Teil auf wohltuende Weise zu Geltung. Denn die Autorin zeichnet sich ebenso durch ‚Mut zur These‘, wie durch sachliche Unvoreingenommenheit in der Begründung aus. So benennt Sie mehrfach und ohne Umschweife dass aus allen Befunden ihrer Analyse sprechende Kriegsziel Russlands, wie es sich in den vergangenen Jahren entwickelt hat: „Es geht um die Zerstörung des ukrainischen Staats und der Idee einer eigenständigen ukraininischen Nation.“ Die deutliche Einschätzung der verbrecherischen Kriegsführung durch den Kreml verleitet Sasse jedoch nicht dazu, in anti-russische Narrative zu verfallen. So vermag sie etwa auf die Schwarzmeer-Halbinsel bezogene historische Narrative und Ansprüche krimtatarischer, russischer wie ukrainischer Provenienz gleichermaßen zur Geltung zu bringen – unbeschadet der Feststellung, dass es sich bei der Krim vor 2014 soziokulturell wie -politisch um einen „typischen Teil des Südostens der Ukraine“ handelte.

Dabei betont die Autorin wiederholt die faktische Relativierung ethnischer Identitätsmarker durch die Herausbildung einer staatlich orientierten Identität unter den Bürgern der Ukraine – bei gleichzeitiger Akzentuierung der regionalen Diversität innerhalb der ukrainischen Identitätsbildungsprozesse. Ausgehend von Ergebnissen der empirischen Sozialforschung zeigt Sasse dann gar auch, dass „Russlands Krieg gegen die Ukraine […] schon in seinen ersten zwei Phasen eine übergeordnete staatliche [ukrainische; TAF] Identität gestärkt [hatte], anstatt intern polarisierend zu wirken. Putins Intention war klar gescheitert.“ Exklusiv mit der dritten Phase des Krieges – also ab dem 24. Februar 2022 – befassen sich lediglich gut 20 Seiten, die in dichter Weise die zurückliegenden fast zwölf Monate rekapitulieren und analysieren. Dabei wird die Bereitschaft der Ukraine zu Verhandlungen ebenso deutlich wie Russlands gänzlich gegenläufige Haltung. Zurückhaltend ist Sasses Einschätzung zur kurzfristigen Wirksamkeit der westlichen Sanktionspolitik – mit Blick auf das Abstimmungsverhalten der VN-Gremien im Fall des Krieges, warnt sie gar, „dass Russland bei weitem nicht so international isoliert ist, wie im Westen oft betont wird“.

Es ist zu erwarten, dass der bereits vorliegenden zweiten Auflage von Sasses lesenswertem Buch noch weitere folgen werden, die dann womöglich als „korrigiert“, „überarbeitet“ oder „erweitert“ gekennzeichnet sein werden. Dies wird jedoch lediglich Daten, Karten, Frontverläufe und Prognosen betreffen. Keiner Revision bedürfen wird Sasses Plädoyer für einen neuen Blick des Westens auf die Ukraine – bzw. den gesamten ostmitteleuropäischen Raum. Die Autorin fordert – und dies zurecht – nicht weniger als „die Anerkennung (post-)imperialer Denkmuster, die zu lange die Sowjetunion mit Russland gleichsetzten und die Länder Ostmitteleuropas in ihrer politischen und kulturellen Vielfalt von unserer Wahrnehmung abkoppelten“. Wiederholt entlarvt Sasse an verschiedenen Stellen die Wirkmächtigkeit derartiger Denkmuster, die – etwa im Falle der lange Jahre in die Irre gehenden deutschen Russlandpolitik – fatale Konsequenzen zeitigten. Man kann nur hoffen, dass die ‚Zeitenwende‘ nicht nur für die militärische Infrastruktur und eine geostrategische Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik, sondern ebenso für westliche Narrative über ‚den Osten‘ nachhaltige Wirkung entfaltet. Gwendolyn Sasse leistet hierzu jedenfalls einen wesentlichen Beitrag.  

Gwendolyn Sasse: Der Krieg gegen die Ukraine. Hintergründe, Ereignisse, Folgen. C.H. Beck München 2022, 128 Seiten, ISBN-13: 978-340679-305-9, EUR 12,–

Erschienen am 2. Februar 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

„Breite Kreise haben die Bedeutung der Ukraine erkannt“

Welche Einsichten eröffnet der Krieg in der Ukraine über Russland? Und wie nachhaltig wird er die politische Landschaft in der Ukraine verändern? Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien, gibt Antworten.

Gwendolyn Sasse ist Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien. Jüngst veröffentlichte sie die Gesamtdarstellung „Der Krieg gegen die Ukraine“ (C.H. Beck).

Frau Sasse, in Ihrem kürzlich erschienenen Buch bieten Sie eine schlüssige Darstellung und Deutung des bisherigen Krieges Russlands gegen die Ukraine. Waren die Ereignisse seit dem 24. Februar 2022für Sie in den vorangegangenen Jahren vorhersehbar?

Es ist wichtig, den Beginn des Krieges auf 2014 zu datieren: Mit der Krim-Annexion beginnt der Krieg Russlands gegen die Ukraine, er setzt sich dann im Donbass-Krieg, den es ohne Russlands militärische und finanzielle Unterstützung nicht gegeben hätte, fort, und das ganze kulminiert dann in der dritten Phase dieses Krieges mit der großen Invasion ab letztem Februar. Ich habe die Krim-Annexion nicht vorhergesehen – und ich bin jemand, der sich seit den 90er Jahren mit der Krim beschäftigt hat – und ich würde soweit gehen, zu sagen: Auch die Krim-Bevölkerung, die ukrainische Bevölkerung und Politik ohnehin, aber auch die Bevölkerung in Russland sind von dem Akt überrascht worden.

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„Beziehungen auf allen Ebenen ausbauen“

In den vergangenen Wochen zerbrach sich Europa den Kopf über Nancy Pelosis Taiwan-Reise und deren Folgen für den Pazifikraum. Die Perspektive der Taiwaner selbst kam kaum zu Wort. Der auf Taiwan lebende deutsche Schriftsteller Stephan Thome („Pflaumenregen“ und „Gebrauchsanweisung für Taiwan“) spricht im Interview über die politische Stimmung in der taiwanischen Öffentlichkeit – und deren skeptische Haltung gegenüber der europäischen Chinapolitik. 

Herr Thome, wie sind die politischen Entwicklungen und die militärische Gefahrenlage der letzten Wochen in der taiwanischen Öffentlichkeit diskutiert worden? 

Grundsätzlich war der Tonfall nicht so alarmiert und aufgeregt wie in der westlichen Berichterstattung. Es gibt hier eine lange Gewöhnung an und Vertrautheit mit dieser Bedrohungssituation. Die Regierung in Peking droht seit über 70 Jahren damit, die Insel einzunehmen, und es gab in der Vergangenheit schon mehrfach krisenhafte Zuspitzungen und drohende Eskalationen. Man sagt nicht umsonst, dass es sich gegenwärtig um die vierte Krise in der Taiwanstraße handelt. Die dritte war 1995/96, und davor gab es noch zwei, bei denen teilweise auch Raketen auf die Taiwan vorgelagerten Inseln abgeschossen wurden. Also, wenn man das ein bisschen kontextualisiert, dann ist das nichts so ganz Außergewöhnliches.  

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Letzte Gelegenheit für Verhandlungen?

„Waffenstillstand jetzt! Verhandlungen so schnell wie möglich“ forderten verschiedene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in einem Ende Juni in der Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlichten Appell. Einer der Mitverfasser ist Erich Vad, Brigadegeneral im Ruhestand. Er war von 2006 bis 2013 Militärischer Berater der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im Interview spricht er über Friedensperspektiven für die Ukraine sowie über Impulse des gleichfalls Ende Juni erschienenen „Friedensgutachtens 2022“ der führenden deutschen Friedensforschungsinstitute.

Von Tilman A. Fischer

Herr Vad, die Konstellation ist nicht frei von Ironie: Ein Ex-General fordert von einer linksliberalen Bundesregierung militärpolitische Mäßigung. Was treibt Sie gegenwärtig um?

Bereits als 16jähriger bekam zufälligerweise ein Buch des israelischen Historikers Jehuda Wallach – der ein paar Jahre später mein Doktorvater werden sollte – in die Hand: „Das Dogma der Vernichtungsschlacht“. Darin schildert er das deutsche militärische Denken nach Clausewitz, das sich von dessen „Primat der Politik“ immer weiter entfernte und dann schließlich militärischen Erwägungen den Vorrang vor politischen Erwägungen einräumte. Das führte bereits im Ersten Weltkrieg zur Katastrophe, weil die Politik gänzlich militärischen Interessen untergeordnet wurde. Es hat bei mir einen Nerv getroffen, dass heute deutsche Politiker wieder von „ultimativen militärischen Lösungen“ reden, auf nichts anderes als militärischen Sieg setzen – und auf Waffenlieferungen ohne Wenn und Aber. Das gehört dazu, greift aber für sich zu kurz und führt allein nicht zur Lösung.

Worauf zielt in dieser Situation Ihr Appell ab?

Im Grunde geht es darum, aus dieser militärischen, waffenbezogenen Eskalationslogik herauszukommen. Ein Sieg über die Nuklearmacht Russland ist nicht möglich, ein auch nur regionaler Sieg der Ukraine äußerst unwahrscheinlich, weil die Russen halt die militärische Dominanz im Operationsraum haben, die Eskalationsdominanz, die Luftherrschaft – und vor allem die logistische Basis im unmittelbaren Hinterland. Die Ukrainer hingegen haben eigentlich nur die Perspektive, den Krieg in einen lang andauernden militärischen Konflikt zu überführen – guerillaartig mit Hit-and-Run-Einsätzen und begrenzten lokalen Offensiven. Damit könnten Sie am Ende sogar ‚siegreich‘ sein, aber sie hätten ihr Land verwüstet und wären weiterhin einer massiven Konfrontation mit Russland ausgesetzt. Dies kann nur durch Verhandlungen verhindert werden.

Diese fordert Ihr Appell „so schnell wie möglich“. Über welches Zeitfenster sprechen wir?

Momentan besteht vielleicht die letzte Gelegenheit für Verhandlungen. Die Russen werden Donezk sicherlich in Bälde auch militärisch kontrollieren und besetzen. Dann werden sie Zeit brauchen zur Umgruppierung ihrer Kräfte. Ich schließe nicht aus, dass sie anschließend bis zum Dnepr weitermarschieren und die gesamte Schwarzmeerküste einschließlich Odessas besetzen. Wenn man dem zuvorkommt und jetzt diplomatische bzw. politische Initiativen startet, kommt man vielleicht doch noch in Verhandlungen und findet zu vernünftigen Lösungen. Hingegen würde das Weiterfahren auf rein militärischen Lösungswegen dazu führen, dass sich Russland am Ende die ganze Ostukraine einverleibt.

Dem Risiko einer zumal nuklearen Eskalation begegnen die Verfasser des „Friedensgutachtens 2022“ mit der Forderung, die NATO möge offiziell auf die Möglichkeit eines atomaren Erstschlages verzichten. Halten Sie auch dies als einen diplomatischen Vorstoß für sinnvoll?

Nein, davon halte ich nichts. NATO-Europa ist zwar insgesamt betrachtet durch das hohe amerikanische Engagement konventionell überlegen. Aber die Russen können regional – vor allem im Ostseeraum – sehr schnell eine gewaltige militärische Überlegenheit erzeugen, der etwa die baltischen Staaten unterlegen wären. In dieser Situation offiziell auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen zu verzichten, erhöht die russische Bereitschaft zu einer militärischen Aggression mit konventionellen Mitteln, da sie nicht mehr das unbestimmte Risiko eines westlichen Nuklearwaffeneinsatzes einkalkulieren müssen. Andere Empfehlungen des Gutachtens sind da zielführender.

Welche zum Beispiel?

Richtig finde ich den Ansatz: Waffenlieferungen in einem Ausmaß, das sicherstellt, dass die Ukraine bei künftigen Verhandlungen nicht aus der Position des Verlierers verhandeln muss. Mit dieser Zielsetzung haben die Waffenlieferungen für mich einen Nutzen. Und dementsprechend halte ich auch die gegenwärtigen besonnen dosierten Lieferungen der Bundesrepublik für richtig. Es ist allerdings inkonsequent, auf Waffenlieferungen in die Ukraine zu setzen, aber die Frage der eigenen Wehrfähigkeit auszuklammern.

Inwiefern?

Zentral ist für mich der Abschreckungsgedanke: dass man sich so aufstellt, dass man durch militärische Stärke Kriege verhindern kann. Das muss die NATO jetzt machen – und vor allem Deutschland, da wir eine nicht einsatzbereite Armee haben. Wir bekommen jetzt als Teil der Zeitenwende die Kurve, aber wir werden Jahre brauchen, um wieder verteidigungsfähig zu sein.

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 29/2022.

Die Debatte steht noch aus

Michael Lüders mahnt eine öffentliche Evaluierung des Afghanistan-Einsatzes an

Rezension von Tilman Asmus Fischer

Mit einem meinungsstarken Buch hat Michael Lüders den Abzug der NATO aus Afghanistan bedacht. Der Inhalt von „Hybris am Hindukusch“ liest sich so eingänglich wie der alliterierende Titel, der zugleich das Narrativ des Autors auf den Punkt bringt: die Vermessenheit der Besatzungsmächte Afghanistans seit der Kolonialzeit – und insbesondere von USA und NATO seit Beginn des „Kriegs gegen den Terror“. Vermessenheit im Sinne sowohl von Überheblichkeit als auch wortwörtlich von grundsätzlichen Fehleinschätzungen über Land und Lage. Insofern erklärt das Buch plausibel, wie es aufgrund solch doppelter Vermessenheit zur gegenwärtigen Situation eines erneut unter Taliban-Herrschaft befindlichen Afghanistans kommen konnte.

Plausibel macht das Buch – aus deutscher Perspektive – gleichfalls, was immer wieder gerade auch aus den Reihen christlicher Friedensethiker gefordert wurde: dass Ansatz, Strategie und Praxis des Afghanistaneinsatzes einer grundsätzlichen parlamentarischen Evaluation und öffentlichen Debatte bedürfen. Zu sehr ist der Einsatz von Beginn an durch ein Strategiedefizit und über seine Dauer hinweg durch militärpraktische wie völkerrechtliche Fragwürdigkeiten geprägt. Zweifelhaft ist freilich, ob Lüders Buch – abgesehen davon, dass es die Thematik womöglich in die eine oder andere Schlagzeile befördern dürfte – zu einer versachlichten Debatte beiträgt. Hierfür ist die – in vielen Punkten durchaus berechtigte – Kritik am Westen zu holzschnittartig.

Dies verdeutlicht insbesondere das Einstimmen des Autors in die aggressive Verurteilung des späteren Generals Georg Klein, der als Oberst am 4. September 2009 den Luftangriff bei Kundus befehligte. Für die hier in tragischer Weise sichtbar werden ethischen Ambivalenzen der Einsatzrealität zeigt sich Lüders nicht sensibel – und eine ausgebliebene Verurteilung stellt in seinen Augen sodann die Unabhängigkeit der zuständigen Gerichtsbarkeit infrage. An diesen Stellen zeigt sich: Frei von Hybris ist auch der Verfasser nicht.

Michael Lüders, Hybris am Hindukusch. Wie der Westen in Afghanistan scheiterte, München 2022.

Erschienen in: ZUR SACHE BW 1/2022, S. 88.

Das Querfurter Papier: Im Visier der Stasi

Am 29. April 1977 unterzeichneten systemkritische Theologen der evangelischen und katholischen Kirche in Querfurt/Sachsen-Anhalt ein Memorandum über „Frieden und Gerechtigkeit“. Der Theologe Lothar Tautz, damals als Theologiestudent Mitverfasser des Dokuments, sprach mit Tilman A. Fischer über die Entstehung und die Bedeutung des Querfurter Papiers.

Herr Tautz, wie kam es zu Ihrer Beteiligung an dem von der Stasi als „Querfurter Papier“ bezeichneten Memorandum „Frieden und Gerechtigkeit heute“?

Ich studierte Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Naumburg. Die Themen Frieden und Menschenrechte waren für mich und eine ganze Menge anderer, vor allem Theologiestudenten, besonders wichtig – für uns persönlich ganz existenziell, aber auch mit Blick auf die politische Situation in Europa. 1975 hatte die DDR die KSZE-Schlussakte von Helsinki unterzeichnet. Ihr „Korb 3“ beinhaltete wesentliche menschen- und bürgerrechtliche Zusicherungen. Daraus folgerten wir: Dann muss das für uns auch irgendwie gelten!

Was folgte für Sie und Ihre Gleichgesinnten hieraus?

In Naumburg trafen wir uns in der Studentengemeinde, lasen die UN-Charta der Menschenrechte und arbeiteten heraus, dass viele von diesen Rechten bei uns nicht einmal ansatzweise verwirklicht waren. In diese Zeit fallen zwei Ereignisse, die uns alle schockierten: die Selbstverbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz, den wir in Naumburg persönlich kannten, sowie die Ausweisung von Wolf Biermann und Teilen seines Freundeskreises. In dieser Situation haben wir uns gesagt: Jetzt versuchen wir erstmal, in Naumburg eine Gruppe zu etablieren, die sich intensiv mit den Menschenrechten befasst und das Ziel hat, dazu etwas zu formulieren. Die Charta 77 war dafür unser Vorbild.

Wie fand diese Initiative Anschluss an weitere kirchliche Kräfte, mit denen sie dem Papier seine letztliche Gestalt gaben?

Es war naheliegend, zu fragen, wer in der Kirche – gerade bei denjenigen, die bereits im Pfarramt waren – „auf unserer Seite“ ist. Denn wir wussten, dass die oberen Kirchenfunktionäre eher zurückhaltend waren, was oppositionelle Bestrebungen anbetraf. Da lernte ich Pfarrer Wolfram Nierth kennen, der damals Pfarrer in Schraplau war und mir davon berichtete, dass es in Querfurt einen ökumenischen Arbeitskreis von Pfarrerinnen und Pfarrern gebe, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, ein Papier zu Menschenrechtsfragen zusammenzustellen.

Ich staunte, welche Themen dort verhandelt wurden – im positiven Sinne alltagslastig aus der Situation der Gemeinden heraus: Ausschluss von Jugendlichen, die sich nicht an der Jugendweihe beteiligten, vom Studium; Ausschluss von beruflicher Karriere für Menschen ohne Mitgliedschaft in einer der Blockparteien; Beschwernisse der Reisefreiheit. Letztes Stichwort kommt dann auch im Querfurter Papier vor.

Dies klingt auf den ersten Blick aber nicht unbedingt nach den ‚großen‘ Themen, die Sie in Naumburg umtrieben.

Ich schlug dem Querfurter Kreis vor, dass wir seitens der Naumburger Gruppe Inhalte aus der Friedensthematik einbringen könnten. Wir haben dann selbst Thesen aufgestellt, die ins Querfurter Papier Eingang gefunden haben. Dabei haben wir das Thema Frieden unter das Stichwort der Versöhnung gestellt und von der individuellen über die gesellschaftliche bis hin zur internationalen Ebene durchdekliniert. Das gipfelt in der Fundamentalkritik: „Friede ohne Versöhnung ist kein echter und bleibender Friede. Er stellt nur die Fortsetzung des Kampfes mit anderen Mitteln dar. Wir können dem Prinzip des Klassenkampfes nicht zustimmen, weil es die Versöhnung mit dem Gegner von vornherein ausschließt.“

Welchen Einfluss konnten Ihre Ideen in der kirchlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit erreichen?

Das Papier war von Beginn an mit einer Unterschriftensammlung unter Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kirchen verbunden, die sich mit seinem Inhalt solidarisierten. Wir hatten gehofft, dass die beiden leitenden Geistlichen – der katholische Bischof Braun und der evangelische Bischof Krusche – sich das Papier zu eigen machen und es über die offiziellen kirchlichen Kanäle, etwa auf Synoden, verbreiten würden. Das alles gelang nicht, vor lauter Angst – wie Krusche selbst eingestand –, Einschränkungen des kirchlichen Gemeindelebens zu riskieren. Hinzu kam, aufgrund der Beteiligung von uns Naumburger Studenten, die Sorge um die Existenz der Kirchlichen Hochschule.

War damit das Querfurter Papier gänzlich wirkungslos?

Nein. Unsere Botschaft gelangte in viele Kirchengemeinden und vor allem Initiativgruppen wie dem Aktionskreis Halle mit Joachim Garstecki. Wichtig war z. B. auch, dass Wolfgang Ullmann, damals Rektor unserer Hochschule, das Papier in die Hand bekommen hatte. Denn gut zehn Jahre später war er an der Ausformulierung derjenigen Programmschrift beteiligt, in der die Initiative „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ von der SED Dialog und Reformen forderte. Damit wurde aufgegriffen, was wir bereits in Querfurt formuliert hatten: „Statt Einübung in den Hass brauchen wir Tränen in Toleranz, statt Abgrenzung Brücken der Verständigung, statt geistiger und materieller Aufrüstung Bereitschaft, füreinander Opfer zu bringen.“

Auch in weiteren programmatischen Papieren vom Ende der 1980er Jahre finden sich Gedanken und Formulierungen, die auf Querfurt zurückgehen. Das zeigt, dass unser Papier zwar keine Massenwirksamkeit entfalten konnte, aber an die richtigen Menschen gelangte, die die Gedanken weiterentwickelten.

Wenn wir heute, weitere 35 Jahre später auf das Querfurter Papier blicken – was sagt es uns im „Heute“ des Jahres 2022?

Versöhnung muss die Grundlage jeglichen menschlichen Zusammenlebens sein. Wenn sie dies nicht ist, kommt es zu Tot und Zerstörung. Wir haben es nach 1990 versäumt, dem Wort der Versöhnung den nötigen Raum zu geben. Menschlich wie politisch hätten wir mit Blick auf den früheren Ostblock viel mehr Kontakte aufbauen und Netzwerke knüpfen müssen. Wir haben ein Versöhnungshandeln versäumt, das vielleicht Kriege hätte verhindern können.

Heute wiederum müssten wir symbolisch eine Pflugschar zu einem Schwert umschmieden; und zwar auch als Friedenshandeln, da es jetzt mit Bonhoeffer gilt, nicht nur die Verletzten unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad in die Speichen zu greifen.

Erschienen in: Glaube + Heimat. Mitteldeutsche Kirchenzeitung 25/2022 und Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 26/2022.

Zwischen China und Russland: Warum Taiwan deutsche Staatsinteressen verteidigt

Welche geopolitischen Konsequenzen zieht das von China wiederholt bedrängte Taiwan aus dem russischen Überfall auf die Ukraine? Bestärkt das Agieren Russlands Peking in seinen Invasionsbestrebungen? Hierüber sprach der Repräsentant Taiwans in der Bundesrepublik Deutschland, Professor Dr. Jhy-Wey Shieh, mit Tilman A. Fischer.

Exzellenz, der Überfall Russlands auf die Ukraine hat in den westlichen Medien zu mehr Sensibilität für die Bedrohung Taiwans durch China geführt. Hat er zugleich auch die Politik Pekings und damit die tatsächliche Bedrohungslage Taiwans verändert?

Xi Jinping hat schon lange vor Putins Invasionskrieg gegen die Ukraine immer wieder – und immer stärker – Taiwan mit Krieg gedroht und provoziert. Dabei geht es um mehr als Säbelrasseln und Marinemanöver in der Taiwanstraße, die Peking – entgegen der völkerrechtlichen Realität – gerne als chinesisches Binnengewässer behandeln möchte. Scharenweise lassen die Chinesen ihre Kampfjets in den Luftverteidigungstraum Taiwans eindringen und spekulieren darauf, dass irgendein taiwanischer Pilot aus Nervosität die Kontrolle verliert und Feuer gibt. Dann wäre die Hölle los. China braucht keine Begründung für eine Invasion, sondern nur einen Anlass.

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