„Die Opferrolle nicht aus dem historischen Kontext herauslösen“

Als „Opfernationalismus“ deutet der Historiker Jie-Hyun Lim geschichtspolitische Narrative, die sich in den vergangenen Jahrzehnten sowohl in Europa als auch in Asien etabliert haben. Im Interview ordnet er die deutsche Erinnerung an das Kriegsende am 8. Mai ein.

Der Historiker Jie-Hyun Lim ist Professor für Transnationale Geschichte an der Sogang-Universität in Seoul, Südkorea. In diesem Jahr ist sein erstes deutschsprachiges Buch, „Opfernationalismus. Erinnerung und Herrschaft in der postkolonialen Welt“, erschienen.

Herr Lim, in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Buch bieten Sie das Interpretament des „Opfernationalismus“ für die Analyse geschichtspolitischer Diskurse an. Welche Phänomene beschreiben Sie hiermit?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass der ursprüngliche Begriff im Englischen nicht „victim nationalism“, sondern „victimhood nationalism“ lautet. Dieser Unterschied scheint trivial zu sein, ist aber bedeutsam. Es geht nicht um den möglichen Nationalismus der eigentlichen Opfer, sondern um den mnemonischen Nationalismus der nachgeborenen Generation bzw. Generationen. Jedoch befürchte ich, dass die deutsche Übersetzung „Opfernationalismus“ den nuancierten Unterschied zwischen beiden Übersetzungsmöglichkeiten verwischen könnte. Als die polnische Zeitschrift Więź einen meiner Artikel ins Polnische übersetzte, tauschte ich einige E-Mails aus, um eine angemessene Formulierung im Polnischen zu finden. Die endgültige Fassung lautete: „Nationaler Größenwahn der Opfer“. Nicht zufriedenstellend, aber es gab keine andere Möglichkeit. Jede Übersetzung steht vor solchen Herausforderungen. Dabei setzt sich das Übersetungsproblem beim Begriff des „Opfers“ fort.

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Erschienen am 8. Mai 2014 auf cicero.de.

Glaube – Heimat – Verständigung

Zum Tod von Helmut Sauer

Am 10. Januar ist Helmut Sauer, langjähriger CDU-Bundestagsabgeordneter und Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen (BdV), im 79. Lebensjahr in Braunschweig verstorben. Das Licht der Welt erblickte er am Heiligabend 1945 im schlesischen Quickendorf (Kreis Frankenstein). Im April des Folgejahres wurden er und seine Familie – die Eltern und seine Schwester Renate – aus ihrer Heimat vertrieben. Dem Schulabschluss folgte eine kaufmännische Ausbildung in der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft in Salzgitter.

Insbesondere im politischen Ehrenamt blieb Sauer der Heimat seiner Familie und Geburt verbunden. Im Alter von nur 19 Jahren trat Sauer 1965 der CDU bei, deren Kreisvorsitzender er 1971 wurde. Bereits 1967 reiste er erstmals – gemeinsam mit dem Stadtjugendring Salzgitter – nach Schlesien. Dieser Reise sollten noch viele weitere in unterschiedlichen Funktionen folgen. Von den sich dabei zutragenden Begegnungen – sowohl mit Heimatverbliebenen als auch polnischen Gesprächspartnern – wusste er stets mit einer großen Begeisterung zu berichten. 1972 wurde Sauer – als zu diesem Zeitpunkt jüngster Abgeordneter – in den Deutschen Bundestag gewählt. Diesem sollte er bis 1994 angehören – 22 Jahre, in denen er sich nicht nur um die deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedler – dann Spätaussiedler –, sowie die Deutschen im östlichen Europa verdient machte, sondern ebenso um weitergehende Menschenrechtsfragen und die deutsch-polnischen Beziehungen. Über die Zeit als Parlamentarier hinaus war Sauer zudem bis 2017 Bundesvorsitzender der Ost- und Mitteldeutschen Vereinigung der CDU; das Amt hatte er seit 1989 inne.

Helmut Sauer, der 1982 zum Landesvorsitzenden der Landsmannschaft Schlesien in Niedersachsen gewählt worden war, amtierte zudem von 1984 bis 1992 und von 2000 bis 2014 als Vizepräsident des BdV. Zum Tod Sauers erklärte BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius: „Fast vier Jahrzehnte war Helmut Sauer nicht nur einer der wichtigsten Verantwortungsträger in unserem Verband, sondern auch Freund und Wegbegleiter sowie hochgeschätzter Mitstreiter in vielen unserer Anliegen.“ Sauer bleibe, so Fabritius, für alle Verantwortungsträger des BdV „in seiner Sachorientiertheit, seiner Menschlichkeit und seiner Motivation Vorbild und Antrieb zugleich“.

Zugleich erinnerte Fabritius an den engen Zusammenhang zwischen Sauers Heimatverbundenheit und seiner Religiosität: „Glaube und Heimat – so hat er es selbst immer wieder betont – waren wichtige Leitmotive seines Lebens. Im katholischen Glauben Schlesiens tief verwurzelt, hatte er sich eine gesunde Volksfrömmigkeit bewahrt.“ Eine zentrale Rolle kam dabei dem aus der mütterlichen Verwandtschaft stammenden katholischen Priester und Reichstagsabgeordneten der Zentrumspartei Carl Ulitzka zu, der ebenso in der Weimarer Republik für die Demokratie eintrat, wie er sich in der Zeit des Dritten Reichs gegen die nationalsozialistische Rassen- und Kirchenpolitik stellte. Man darf in Ulitzka wohl nicht umsonst ein Vorbild nicht nur für die dezidiert christliche, sondern zudem tiefst proeuropäische Orientierung Sauers sehen.

Der diesem Erbe entsprechende gesellschaftliche und politische Einsatz Sauers wurde auf vielfältige Weise gewürdigt: mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ebenso wie mit dem Schlesier-Kreuz der Landsmannschaft Schlesien sowie der Verdienstmedaille des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen. Mit der – aus tiefster Überzeugung erwachsenen – Verbindung von Heimatverbundenheit und Passion für die Völkerverständigung hat Helmut Sauer die Vertriebenen- sowie die deutsch-polnische Partnerschaftspolitik nachhaltig geprägt. Hier wie jenseits von Oder und Neiße wird man ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Westpreußen – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2024.

Eine Chance für Bildung und Verständigung

Die Union Evangelischen Kirchen plant die Rückkehr eines Kunstschatzes nach Danzig. Ein Gastkommentar

Von Tilman A. Fischer

Bereits seit Jahrzehnten zeigt das Lübecker Annen-Museum wechselnde Einzelstücke aus dem Danziger Paramentenschatz – kunsthistorisch bedeutende liturgische Gewänder aus vorreformatorischer Zeit, die sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Besitz der evangelischen Marienkirchengemeinde in Danzig befunden hatten. Deren letzter Pfarrer, Gerhard Gülzow, rettete die kostbaren Textilien vor der Kriegszerstörung. Deren einer Teil landete in Thüringen, von wo er bereits kurz nach dem Krieg nach Danzig verbracht wurde – freilich nicht in die Marienkirche, sondern rechtswidrig in den staatlichen Besitz des Nationalmuseums Danzig. Der andere Teil gelangte – ebenso wie übrigens viele vertriebene Danziger – nach Lübeck. Hier wird er im Annen-Museum als Leihgabe der Union Evangelischer Kirchen (UEK), der Rechtsnachfolgerin der Danziger Gemeinde, öffentlich präsentiert – ebenso wie Einzelstücke im Germanische Nationalmuseum in Nürnberg.

Am 8. Dezember 2022 teilte die UEK über eine Pressemitteilung mit, sich mit der heute katholischen Marienkirchengemeinde in Danzig in einem „Letter of Intent“ auf eine Rückkehr der Paramente an ihren Herkunftsort und in das Eigentum der katholischen Gemeinde verständigt zu haben – unter der Auflage einer adäquaten Präsentation sowie konservatorischen Betreuung und bei fortgesetzter Präsenz von Einzelstücken als Leihgaben in Lübeck und Nürnberg. Diese Entscheidung bietet eine große Bildungschance: Am historischen Ort kann ausgehend von dem Paramentenschatz die Bedeutung des gemeinsamen deutsch-polnischen Kulturerbes – sowie die gemeinsame bzw. geteilte Geschichte beider Nationen – der Öffentlichkeit sichtbar gemacht und erschlossen werden.

Überrascht von der Entscheidung wurden im vergangenen Jahr die noch lebenden Vertriebenen aus Danzig und dessen Umland – dem früheren Westpreußen – sowie ihre historisch interessierten Nachfahren, die von dieser Vereinbarung erst durch die Presse erfuhren. Umso erfreulicher war es, dass die UEK ein Jahr später, am 8. Dezember 2023, die Öffentlichkeit zu einer Informations- und Diskussionsveranstaltung ins Haus Hansestadt Danzig in Lübeck eingeladen hat. Hier kamen neben Mitgliedern des deutsch-polnischen Beirats, der die Rückkehr der Paramente begleitet, auch Vertreter der Vertriebenen und ihrer Nachfahren zu Wort. Aus deren Reihen wurden kritische Anfragen – teils auch eine klare Ablehnung des Vorhabens –, jedoch auch weiterführende Vorschläge formuliert wie die Schaffung einer europäischen Institution, die für Bewahrung und Präsentation der Paramente in Danzig verantwortlich sein solle.

Erfreulich klar bekannten sich sowohl der Prälat der Marienkirche, Ireneusz Bradtke, als auch der Danziger Kunsthistoriker Tomasz Torbus zur gemeinsamen deutsch-polnischen – mithin europäischen – Prägung der kulturellen Identität Danzigs. Der von deutscher Seite her den Beirat koordinierende Oberkirchenrat Martin Evang betonte in seinem Statement, dass die UEK seit jeher wiederholt erhobene Eigentumsansprüche des polnischen Staates auf Sakralkunst evangelischer Gemeinden aus den früheren, heute zu Polen gehörenden, Kirchenprovinzen stets abgelehnt habe. Die anvisierte Schenkung erfolge aus voller Freiheit – dies werde auch durch den zu unterzeichnenden Schenkungsvertrag nochmals festgeschrieben.

Der Autor dieses Beitrags selbst würdigte als Vertreter der Westpreußischen Gesellschaft die beabsichtigte Rückkehr der Paramente als Beitrag sowohl der deutsch-polnischen Verständigung im obigen Sinne als auch als einen solchen der Ökumene. Der Gesichtspunkt, dass die UEK ihr rechtmäßiges Eigentum aus freiem Willen schenke, sei dabei insofern bedeutsam, als diese Klarstellung davor bewahre, die Schenkung mit gegenwärtigen Diskurse um die Restitution von Raubkunst zu vermischen.

Zu hoffen ist, dass die Einbindung der Vertriebenen und ihrer Nachfahren auf dem weiteren Weg hin zur Rückkehr der Paramente fortgesetzt wird. Eine solche Einbindung ist theologisch gut begründet: zum einen als Ausdruck der seelsorgerlichen Verantwortung gegenüber den betroffenen Mitgliedern der UEK-Gliedkirchen, zum anderen vom Selbstverständnis einer Kirche her, die sich als zivilgesellschaftlicher Akteur im Austausch mit anderen Kräften der Zivilgesellschaft versteht. Sollte dem Rechnung getragen werden, besteht Aussicht, dass die Rückkehr der Paramente tatsächlich zu Verständigung und Versöhnung beiträgt.

Tilman Asmus Fischer ist Vorstandsbeauftragter der Westpreußischen Gesellschaft – Landsmannschaft Westpreußen e.V. Der evangelische Theologe ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig.

Unter ähnlichem Titel erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 2/2024. Eine Kurzfassung erschien in: Evangelisch Zeitung (Schleswig Holstein) 2/2024.

Stein gewordene Erinnerung

Westpreußische Denkmäler nach dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft – eine Spurensuche

„Und Jakob nahm einen Stein und richtete ihn auf als Denkmal.“ (Gen 31,45) Bereits das Alte Testament bezeugt das urmenschliche Bedürfnis, existenziellen Erlebnissen und Erfahrungen sichtbaren und dauerhaften Ausdruck zu verleihen, sie durch das Errichten von Gedenksteinen – später Denkmälern – in das Gesicht der Landschaft einzuschreiben. Im Moment erleben wir vielfältige Debatten um die symbolische Gestaltung des öffentlichen Raums in Form von Straßennamen oder Denkmälern. Solche Diskussionen, wie wir sie in freiheitlichen Demokratien führen, waren und sind in autoritären Systemen nicht möglich. In ihnen ist der öffentliche Raum den Narrativen der politischen Führung unterworfen. Dies galt auch für die Volksrepublik Polen – mit der Folge, dass in den historischen deutschen Ostgebieten Erinnerungen an die früheren Bewohner eliminiert, die verbliebene deutsche Bevölkerung mangels der Möglichkeit politischer Artikulation von der Gestaltung des öffentlichen Raums ausgeschlossen und ein sichtbares Gedenken an deutsche Kriegsopfer per se tabuisiert war.

Mit dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft fand nicht nur eine Demokratisierung des politischen Systems, sondern ebenso eine solche der Erinnerungskultur und des öffentlichen Raums statt. Bisher unterdrückte Positionen hatten die Möglichkeit, sich zu artikulieren. Was bedeutet dies für die Denkmal-Landschaft einer Region? Dies sei im Folgenden für das Land an der unteren Weichsel nachvollzogen. Hier kam es seit 1990 zu vielfältigen Initiativen, das deutsche Erbe als Teil gemeinsamer deutsch-polnischer Geschichte sowie das Schicksal der deutschen Vertreibungsopfer öffentlich bewusst zu machen. Initiatoren waren sowohl Angehörige der deutschen Volksgruppe und Heimatvertriebene als auch Kirchengemeinden oder weitere zivilgesellschaftliche und kommunale Akteure. Welche historischen Phänomene werden mit den von ihnen errichteten Denkmälern auf welche Weise thematisch? Und welche gestalterischen Akzente setzen die unterschiedlichen Denkmäler?

Für eine Spurensuche bietet sich der von Gisela Borchers erstellte und 2013 von der Landsmannschaft Westpreußen herausgegebene Katalog „Erinnerungsstätten in Westpreußen“ als Ausgangspunkt an. Auch wenn diese Zusammenschau – schon ob der Tatsache, dass sie vor zehn Jahren erschienen ist – keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, vermag sie doch eine grundlegende Orientierung zu geben über die Entwicklungen der westpreußischen Denkmal-Landschaft nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Versucht man, aus den zusammengetragenen 134 Erinnerungsstätten eine Typologie westpreußischer Denkmäler zu entwickeln, ergeben sich auf den ersten Blick zwei große Kategorien: Es sind dies zunächst Denkmäler, die sich auf die Geschichte der Region vor Flucht und Vertreibung beziehen, und sodann solche, die ebendiese im Rahmen des Zweiten Weltkriegs thematisieren.

Verschwundene Friedhöfe

Die bedeutendste Gruppe der auf die Geschichte Westpreußens bezogenen Denkmäler bilden Gedenksteine und Erinnerungstafeln für frühere städtische sowie evangelische, katholische, mennonitische und jüdische Friedhöfe (im Einzelfall auch von Familiengräbern) bzw. zur Erinnerung an die deutsche Vorgeschichte von Friedhöfen, die heute noch bestehen. Diese Dominanz verwundert nicht – stellt das Grabmal selbst bereits eine der ältesten und in unterschiedlichen Kulturen verbreitete Form des Denkmals und des Personengedächtnisses dar. Die an zerstörte Friedhöfe erinnernden Gedenksteine greifen naheliegenderweise die Form von Grabsteinen auf – in der Regel dürften sie wohl auch von ortsansässigen Steinmetzen gefertigt worden sein. Dies gilt auch für die Gestaltung von Gedenksteinen, die – wie in Graudenz oder Marienburg – an mehrere Friedhöfe einer Gebietskörperschaft oder im ländlichen Raum vielfach an sämtliche Friedhöfe eines Kirchspiels erinnern. Dementsprechend wurde auch von der Deutschen Minderheit auf dem Garnisonsfriedhof am Hagelsberg ein Gedenkstein errichtet, und zwar im Jahre  2001, d.h. nur ein Jahr bevor der seitens der Stadt geschaffene „Friedhof der nicht existierenden Friedhöfe“ entstand. Dieser stellt – so die offizielle Interpretation durch die Stadt Danzig – eine „Form der Wiedergutmachung für die Verwüstung und Auflösung der ehemaligen Danziger Friedhöfe nach dem Krieg“ dar, „eine Form der Erinnerung an alle die, die keine Gräber bzw. keinen Grabstein mehr haben“ – wobei dezidiert die religiöse Dimension des Totengedächtnisses akzentuiert wird:

„Neben den sich dort befindlichen original Grabplatten von aufgelösten Friedhöfen, befindet sich dort an zentraler Stelle ein ‚Altar‘ mit der Inschrift ‚Denen, die keine Namen haben‘. Er ragt aus den Trümmern zerbrochener Grabplatten empor, die Embleme verschiedener, im alten (wie auch im heutigen) Danzig vertretener Religionsgemeinschaften tragen.“ (gdansk.pl)

Die Gestaltung des „Altars“ verwendet dabei eine spezifische Motivik, die nicht nur der Bruchstückhaftigkeit des sie umgebenden Lapidariums entspricht, sondern die sich zugleich als theologische Aussage über den unvollständig-fragmentarischen Charakter der menschlichen Existenz lesen lässt. Kann dieses Moment als anthropologische Konstante in der Lebensgeschichte und Identität jedes Menschen aufgefunden werden, so tritt sie doch in den Schicksalen, die sich mit Krieg und Vertreibung verbinden, in besonderer Weise hervor. Insofern funktioniert das Denkmal nicht nur als Verweis auf die verlorenen Friedhöfe, sondern eröffnet zugleich eine Bildsprache, die von den Angehörigen der dort Bestatteten zu Erfahrungen aus der eigenen Lebens- oder Familiengeschichte in Beziehung gesetzt werden kann. Auch in Elbing wurden überkommene Grabsteine zerstörter Friedhöfe in vergleichbarer Weise in einem Lapidarium zusammengetragen.

Anwesenheit des Abwesenden

Von den der (zumeist christlich konnotierten) Sepulkralkultur eng verbundenen Erinnerungsformen an verschwundene Friedhöfe und die dort Begrabenen lassen sich Linien ziehen zu den weiteren Typen von Denkmälern, die wir hier betrachten wollen. Dies betrifft zum einen das Bedürfnis, an nicht mehr existente historische Gebäude und die mit ihnen verbundenen Menschen zu erinnern. Auch hier werden zumeist Gedenksteine aufgestellt, um auf Abwesendes zu verweisen, es in der Betonung seiner Abwesenheit wieder anwesend zu machen. Auffällig ist, dass es sich hierbei vor allem um Kirchen handelt und somit, wie bei den Friedhöfen, abermals um religiöse Erinnerungsorte; im Falle der Kirchen um solche, mit denen sich nicht nur die Feste des Jahreskreises bzw. Kirchenjahres, sondern ebenso biographische Passagenriten (Taufe, Kommunion bzw. Konfirmation, Trauung und ggf. Trauerfeiern) verbinden. Ästhetisch interessant ist die Gestaltung eines Gedenksteins für die 1967 abgerissene evangelische Kirche in Heidemühl (Kreis Konitz). Dieser besteht nicht aus bearbeitetem Naturstein, sondern stellt das Imitat einer Gemäuerruine dar, in die ein einzelner Stein des ursprünglichen Gebäudes als Relikt bewahrt bleibt. Damit wird in besonderer Weise sowohl das Verlorene symbolisch vergegenwärtigt als auch – ähnlich wie im Falle des „Friedhofs der nicht existierenden Friedhöfe“ – auf das Fragmentarische der menschlichen bzw. historischen Existenz verwiesen. In diesen Zusammenhang gehören im Übrigen Erinnerungstafeln, die an entwidmeten oder anderen Konfessionen übertragenen Kirchengebäuden auf die ursprünglich dort ansässige Gemeinde verweisen, wie etwa auf den Sitz des ersten Betsaals der Mennonitengemeinde in Elbing.

Andere Gedenktafeln erinnern an Institutionen, die zwar nicht von religiöser, jedoch von allgemein lebensweltlicher oder biographischer Bedeutung waren: Dies gilt für die frühere Wache der Elbinger Berufsfeuerwehr, auf die in der Hindenburgstraße ein klassischer Gedenkstein verweist, ebenso wie für Schulen. So macht an der Henryk-Sienkiewicz-Schule in Marienburg eine Tafel deren Geschichte als Luisenschule bis 1945 kenntlich. Dass Denkmäler nicht nur mit Verlust in Verbindung stehen, sondern sich auch der Motivation verdanken, kulturelle Traditionen einer gesellschaftlichen Gruppe wie der deutschen Minderheit öffentlich zu exponieren, zeigt ein Beispiel aus Rehdorf (Kreis Stuhm): Hier erinnert ein von der Deutschen Minderheit Stuhm-Christburg gestifteter Naturstein mit Metalltafel an den dort bis Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden „Hammerkrug“ , eine Schmiede mit Wirtshaus. Ergänzen ließe sich hier noch eine Reihe von Gedenksteinen und -tafeln, die an Geburts- und Wohnhäusern auf Persönlichkeiten von lokalhistorischer bzw. regionalhistorischer wie zeitgeschichtlicher und überregionaler Bedeutung hinweisen. Auch diese erfüllen die Funktion, bis zum Ende der kommunistischen Diktatur bestehende Lücken in der Erinnerungslandschaft zu schließen.

Erinnerung an Krieg und Vertreibung

Eine Zwitterposition zwischen den beiden Kategorien der kulturhistorischen Denkmäler und jener, die Flucht und Vertreibung sowie den Zweiten Weltkrieg als ihren Kontext thematisieren, nehmen wiederhergestellte und neu errichtete Kriegerdenkmäler bzw. Gedenksteine für Gefallene des Krieges 1870/71 sowie des Ersten Weltkrieges ein, insofern sie einerseits die Geschichte Westpreußens vor der Vertreibung dokumentieren, andererseits jedoch Gestaltungsformen prägen, die nach 1945 aufgegriffen werden. Dabei knüpfen auch sie sämtlich an den Archetypus des Grabmals an. Zu einer gewissen einheitlichen Anmutung der Denkmäler für Gefallene verschiedener Epochen trägt zudem der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei, der etwa in Danzig auf dem Hagelsberg um das Jahr 2000 sowohl die Grabstätte deutscher Soldaten aus dem deutsch-französischen Krieg als auch diejenige der Gefallenen des Ersten Weltkrieges in schlichter moderner Gestalt wiederherstellte. Der Krieger-Gedenkstein aus dem Ersten Weltkrieg in Baumgarth (Kreis Stuhm)  wiederum wurde gemäß dem historischen Vorbild und somit in traditioneller Gestalt auf Initiative von Heimatkreis und deutscher Minderheit rekonstruiert. Gemeinsam ist sämtlichen Kriegerdenkmälern die Gestaltung in strengen Formen und zumeist in Schwarz- wie Grautönen.

An die moderne und schlichte Gestalt der älteren Kriegerdenkmäler auf dem Hagelsberg kann die dortige – gleichfalls vom Volksbund errichtete – Grablege für deutsche Gefallene des Zweiten Weltkriegs anknüpfen. Sie wird durch ein Totenbuch ergänzt, das den dort erinnerten Schicksalen Namen gibt. Weniger standardisiert sind die teils aus privater Initiative entstandenen Denkmäler, die sowohl an die Opfer des Nationalsozialismus als auch an die Opfer von Flucht und Vertreibung erinnern. Ein Alleinstellungsmerkmal kommt dem [bekannten] Denkmal zur Erinnerung an die Eisenbahntransporte jüdischer Kinder aus der Freien Stadt Danzig nach England 1938/1939 auf dem Vorplatz des Danziger Hauptbahnhofs zu, insofern es plastisch die Betroffenen – Kinder am Bahnsteig – als Gerettete zeigt. Besondere Erwähnung verdient zudem ein Gedenkstein aus dem Jahr 1996 in Tiegenhof (Kreis Großes Werder), der mit der zweisprachigen Beschriftung „Gedenket der Toten – Frieden dieser Stadt“ und mithin ohne eine differenzierende Benennung einzelner Opfergruppen des Krieges auskommt. Andere Denkmäler hingegen konkretisieren sehr detailliert die Personen und Ereignisse, auf die sie Bezug nehmen. So heißt es etwa auf einer 1999 von der Truso-Vereinigung an der Dorfkirche Lenzen (Kreis Elbing) installierten zweisprachigen Erinnerungstafel: „An die bei Kriegsende 1945 in Lenzen ermordeten und an den Folgen des Krieges gestorbenen und gefallenen 286 Dorfbewohnern und den in Lenzen erschossenen deutschen Soldaten“.

Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, wie sich die westpreußische Denkmal-Landschaft im Zeitraum einer Generation pluralisiert hat. Dabei sind die oft von deutschen und polnischen Initiatoren gewählten Themen und Gestaltungsformen nicht zuletzt auch ein Zeugnis der grenzüberschreitenden Verständigung. Inzwischen finden sich sogar auch solche Denkmäler, die auf wichtige Akteure ebendieses Verständigungs- und Versöhnungsprozesses selbst verweisen. So erinnert in Elbing etwa am ehemaligen Gymnasium eine Gedenktafel an den Publizisten Erich Brost als einen „Mann der deutsch-polnischen Verständigung – geboren in Elbing“. Insofern Verständigung immer weiter gemeinsamer Anstrengungen bedarf, dürfte das gleiche auch für die Aushandlungsprozesse um die erinnerungskulturelle Gestaltung des öffentlichen Raums im historischen Westpreußen gelten. Ihre weitere Entwicklung gilt es mit Interesse abzuwarten.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

Proeuropäischer Geist aus Danzig

Polens alter und neuer Ministerpräsident Donald Tusk weckt Erwartungen

Zum zweiten Mal in seiner politischen Laufbahn ist Donald Tusk am 13. Dezember als polnischer Ministerpräsident vereidigt worden. Diesem für die polnische wie europäische Politik – und mithin die deutsch-polnischen Beziehungen – bedeutsamen Ereignis waren unwürdige Versuche der seit 2015 regierenden Partei „Prawo i Sprawiedliwość“ [Recht und Gerechtigkeit] (PiS) und des aus ihren Reihen stammenden Staatspräsidenten Andrzej Duda vorangegangen, die rechtspopulistische Partei an der Macht zu halten. Diese berief sich aufgrund des Ergebnisses der Parlamentswahl vom 15. Oktober als mit 35,4 Prozent stärkste Partei auf das Recht zur Regierungsbildung – obwohl die mit Tusks liberal-konservativer „Platforma Obywatelska“ [Bürgerplattform] (PO) verbündeten Oppositionsparteien gemeinsam eine deutliche Mehrheit errungen hatten. Getragen wird die gemeinsam mit Tusk vereidigte Regierung neben der PO von den linksliberalen Parteien Nowoczesna [Die Moderne] und „Inicjatywa Polska“ [Initiative Polen], den christdemokratischen Parteien „Polska 2050“ und „Polskie Stronnictwo Ludowe“ [Polnische Volkspartei] () sowie den sozialdemokratischen Parteien „Nowa Lewica“ [Neue Linke] () und „Lewica Razem“ [Linke Gemeinsam].

An die neue proeuropäische Koalition richten sich vielfältige Hoffnungen, nicht nur aus der Republik Polen, sondern auch aus der Europäischen Union. In dieser genoss Tusk einen derartigen Rückhalt, dass er den Posten des Präsidenten des Europäischen Rates, zu dem er 2014 gewählt worden war, bis zu seiner Rückkehr in die polnische Politik 2019 auch gegen die Widerstände der in Warschau regierenden PiS innehatte. Seine tiefe proeuropäische Überzeugung ist bei Polens altem und neuem Ministerpräsidenten durchaus auch biographisch begründet, stammt der 1957 in Danzig Geborene doch aus einer auf dem Gebiet der Freien Stadt ansässigen kaschubischen Familie und ist insofern geprägt vom Geist der weltoffenen und vielfältigen europäischen Metropole. Dass einer seiner Großväter, Józef Tusk, kurz vor Kriegsende als Angehöriger der Deutschen Volksliste zur Wehrmacht einberufen wurde, wird von polnischen Nationalisten bis heute zur Verunglimpfung Tusks als eine „deutschen Agenten“ instrumentalisiert – in Absehung von der Tatsache, dass beide Großväter zeitweise Häftlinge der Konzentrationslager Stutthof bzw. Neuengamme waren.

Es ist davon auszugehen, dass die Rufmordkampagnen der einstigen Machthaber und heutigen Opposition in Polen gegen ihren Erzfeind Tusk künftig an Intensität eher zunehmen werden, da ihnen der europapolitische Kurs hierzu genug Anlass geben wird. Bereits in der ersten Regierungserklärung bekannte sich Tusk zu den Grundwerten Europas: „Was wirklich eine Gemeinschaft formt, sind Rechtsstaatlichkeit, die Verfassung, die Regeln der Demokratie, sichere Grenzen und ein sicheres Staatsgebiet – das sind die Dinge, über die wir uns nicht streiten dürfen.“ Polen sei, so Tusk, „umso stärker, umso souveräner, je stärker die Europäische Gemeinschaft ist“.

Mit Interesse abzuwarten wird sein, wie sich vor diesem Hintergrund der außenpolitische Kurs gegenüber Deutschland gestaltet. Dies gilt an erster Stelle für die seitens der PiS in den vergangenen Jahren betriebenen – juristisch höchst fragwürdigen – Entschädigungsforderungen gegenüber der Bundesrepublik. Tusk dürfte weder Interesse an einer Fortsetzung dieser symbolpolitischen Angriffe auf Berlin haben noch daran, dass man sich dort genötigt sehen sollte, in Entgegnung hierauf deutlich auf die deutschen Gebietsabtretungen an Polen und die seit jeher offenen Fragen privater Eigentumsansprüche einzugehen. Auch innenpolitisch besteht, will Tusk seinem Anspruch als proeuropäischer Politiker gerecht werden, dringender Handlungsbedarf, der die deutsch-polnischen Beziehungen tangiert. Dabei dürfte es – neben einer Abkehr vom lähmenden, durch die Nationalisten bei allen Fragen der Erinnerungspolitik in den Wissenschafts- und Kulturbetrieb hereingetragenen Kulturkampf – primär um die von den Rechtspopulisten vorgenommene Streichung von Geldern für den Deutschunterricht an staatlichen Schulen gehen, die einen massiven Angriff auf die kulturelle Identität und Existenz der deutschen Volksgruppe sowie ihre verbrieften Minderheitenrechte darstellt.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

„Einfach Tacheles reden“

Abschied von Karl Fürst von Schwarzenberg

Es war vor 75 Jahren, dass der am 10. Dezember 1937 geborene Karl von Schwarzenberg mit seiner Familie nach der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei seine böhmische Heimat in Richtung Schweiz verließ, deren Staatsbürgerschaft die Familie bereits seit Generationen innehatte. Vor wiederum fast 35 Jahren kehrte der Unternehmer, Landwirt und Politiker – der seit 1979 Oberhaupt der Familie Schwarzenberg war – in sein Heimatland zurück, wo er in den vergangenen Jahrzehnten eine der prägenden politischen Gestalten sein sollte und als solche zu einem Brückenbauer zwischen dem Osten und Westen Europas wurde. Am 12. November 2023 ist Karl von Schwarzenberg in Wien gestorben.

Dort hatte er nach der Übersiedlung aus der Tschechoslowakei die Schule abgeschlossen und – ebenso wie in Graz und München – Rechts- und Landwirtschaftswissenschaften studiert. Schon bald übernahm der junge Adlige Verantwortung für die der Familie in Österreich sowie Deutschland verbliebenen Besitzungen. Nach dem Untergang des Kommunismus sollte er dies auch für das Schwarzenbergsche Grundeigentum in Tschechien tun können, das zu großen Teilen zurückerstattet wurde. Der Freiheit ganz Europas galt von Schwarzenbergs politischer Einsatz bereits in den vorangegangenen Jahren, insbesondere ab 1984, als er zum Präsidenten der Internationalen Helsinki Föderation für Menschenrechte gewählt wurde, die sich als Nichtregierungsorganisation für die Einhaltung der Menschenrechte in den KSZE-Staaten einsetzte.

2018 erinnerte sich von Schwarzenberg in einem Interview für diese Zeitung daran, wie er die Ereignisse des Jahres 1989 erlebt hatte: „Im Prinzip gespannt, was passieren wird. Man merkte, dass das sowjetische Reich in sich zusammenbricht. Bloß wie schnell dem so sein wird, haben wir alle nicht geahnt. Aber natürlich, die Ereignisse in Ungarn, dann in der DDR usw. waren hoch interessant. Am 17. November war ich nicht in Prag, sondern in Ungarn, oben bei Debrezin. Plötzlich kommt jemand zu mir und sagt: ‚Im slowakischen Fernsehen senden sie, es tut sich was in Prag.‘ Am nächsten Morgen bin ich losgefahren und habe schon von unterwegs angerufen, man soll mir ein Visum für Prag geben. Das wurde zunächst einmal abgelehnt, und mir wurde mitgeteilt, ich sollte wissen, dass ich in Prag nicht willkommen bin. Eine Woche später war das alles längst Vergangenheit. In den vorangegangenen Jahren war ich – als Vorsitzender der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte – in sehr vielen Staaten Mitteleuropas unterwegs gewesen und man sah, dass sich etwas entwickelt; aber wie schnell das ging, habe ich selbst nicht geahnt.“

Diese rasanten Entwicklungen katapultierten den Fürsten bereits zu Beginn des Jahres 1990 in den Beraterstab Václav Havels. Nach dessen Wahl zum tschechoslowakischen Staatspräsidenten leitete er bis 1992 die Prager Präsidentschaftskanzlei. 1997 wirkte er an der Entstehung der Deutsch-Tschechischen Erklärung mit. Die Versöhnung zwischen Deutschen (bzw. Österreichern) und Tschechen – sowie die Verständigung zwischen Ostmitteleuropa und den Staaten Westeuropas – waren nicht nur ein zentrales Anliegen seiner Politik. Vielmehr war kaum jemand anders wie er dazu befähigt, der er aufgrund seines Lebensweges und der daraus resultierenden Beziehungen mit östlichen wie westlichen Perspektiven und Paradigmen vertraut war. So entschieden, wie er selbst für Rechtsstaat, Demokratie und gegen Nationalismus und Populismus eintrat, war es ihm doch zugleich möglich, eine vermittelnde Position zwischen den Visegrád-Staaten und den westlichen EU-Mitgliedsstaaten einzunehmen. Als wir vor fünf Jahren auf die Lage in der Republik Polen zu sprechen kamen, setzte er seiner Kritik an der damals regierenden PiS hinzu:

„Aber, bitte: Gibt es einen politischen Gefangenen in ganz Polen? Ein politischer Bekannter aus Deutschland hat im Gespräch mit mir furchtbar auf die Polen geschimpft. Da habe ich ihn angesehen und gesagt: Ich bin ein sehr alter Mann. Ich erinnere mich an die Politik der 1950er Jahre. […] Zu dieser Zeit waren in einem Teil der Führungskreise der Bundesrepublik durchaus ähnliche Vorstellungen vertreten wie heute in der PiS. Nur hat sich Deutschland bis heute weiterentwickelt. Polen aber ist erst vor 30 Jahren frei geworden und befindet sich in einem Nachholprozess – auch Polen muss sich weiterentwickeln.“

Dem tschechischen Parlament gehörte von Schwarzenberg ab 2004 als Senator und seit 2010 als Mitglied des Abgeordnetenhauses an. Nach Gründung der Mitterechtspartei „Top 9“ im Jahre 2009 war er für sechs Jahre ihr Vorsitzender. Bereits 2007 bis 2009 und dann nochmal von 2010 bis 2013 war von Schwarzenberg zudem Außenminister der Tschechischen Republik. In diese Zeit fiel die erste EU-Ratspräsidentschaft seines Heimatlandes. Europapolitisch trat er dafür ein, dass der Staatenbund „wesentlich“ werde, wie er in unserem Gespräch erläuterte: „Heute noch sind die Außenpolitik, Verteidigungspolitik, Sicherheitspolitik und Energiepolitik national. Und was bestimmt man in Brüssel? – Was ein Naturschutzgebiet werden soll; ob ich einen Brotaufstrich ‚Marmelade‘ nennen darf oder nicht; oder ob ein köstlicher Käse aus der Tatra, Ostipok, unter dem slowakischen oder polnischen Namen auf dem Markt geführt wird. Wir sollten radikal, aber wirklich radikal Veränderungen vornehmen: Alle diese Dinge, die nicht unbedingt notwendig gemeinsam gelöst werden müssen, sollten wir zurückgeben an die Staaten, manchmal sogar Regionen. Demgegenüber müssen Außen-, Verteidigungs-, Sicherheits- und Energiepolitik vergemeinschaftet werden, damit die EU wesentlich wird.“

Diese Politik auch als Staatspräsident vorantreiben zu können, war von Schwarzenberg nicht vergönnt: Bei der Präsidentschaftswahl           2013 unterlag er dem Populisten Miloš Zeman. Davon ließ sich der Fürst jedoch nicht entmutigen und setzte sein politisches Wirken fort – bis 2021 im Parlament und darüber hinaus als Ratgeber und öffentlicher Denker. Dass er dabei oft auch deutliche Worte finden konnte, durfte auch der Autor dieser Zeilen erfahren, als er ihn auf das oft bemühte Plädoyer ansprach, ein verstärktes Bewusstsein für die kulturellen und geistigen Wurzeln Europas zu entwickeln: „Ich hasse diese Phrasen. Wichtig wäre, dass wir nüchtern überlegen: Was bringen wir durch? Wie können wir Europa vereinigen? Wo sind die wirklichen Schwierigkeiten? Einfach Tacheles reden, statt große Reden zu halten. Die Lage ist viel zu ernst, als dass wir noch Zeit verlieren könnten.“ So ist die Lage weiterhin und im Todesjahr des Fürsten vielleicht noch mehr als im Jahr 2018. Nun erst recht keine Zeit zu verlieren und Tacheles zu reden – das dürfte es sein, was dem Vermächtnis Karls von Schwarzenberg angemessen ist. 

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“

Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“ der Deutschen Gesellschaft e.V. – in Kooperation mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen sowie der Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland – für junge Spätaussiedler, Nachfahren von Heimatvertriebenen und Angehörige der deutschen Minderheiten. In der Veranstaltung werden die Beiträge der Preisträgerinnen und Preisträger vorgestellt und gewürdigt. Durch den Abend führt Tilman A. Fischer.

Buchvorstellung „Die zwei Gesichter der Zerstörung. Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen“ (von Prof. Dr. Manfred Kittel)

Programm:

Grußworte: Thomas Konhäuser, Geschäftsführer der Kulturstiftung Dr. Florian R. Simon, Verleger (Duncker & Humblot)

Einführung: Tilman A. Fischer, Theologe und Journalist, Berlin

Buchvorstellung: Manfred Kittel, Professor für Neuere und Neueste Geschichte und ehem. Gründungsdirektor der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Berlin/Regensburg

Kommentar: Dr. Christean Wagner, Hessischer Kultus- und Justizminister a. D. und Vorsitzender der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, Wiesbaden

Diskussion: „Ethnische Vertreibungen zwischen Erinnerungskultur und Völkerrecht“

Moderation: Tilman A. Fischer

Schlussworte: Thomas Konhäuser

„Der Begriff wird instrumentalisiert“

Der Historiker Manfred Kittel sagt, die militärische Reaktion Israels sei kein Völkermord – egal, wie man es dreht und wendet

Die Hamas wirft Israel Völkermord vor – das ist nicht der Fall, sagt der Regensburger Zeithistoriker Manfred Kittel. Im Interview mit Tilman A. Fischer erläutert er, wie die Rezeptionsgeschichte des Genozidbegriffs in Deutschland die Wahrnehmung militärischer Konflikte beeinflusst – nicht zuletzt auch in der Ukraine.

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In: Berliner Zeitung, 1. November 2023, S. 11.

Zur Definition des Völkermords

Der Historiker Manfred Kittel analysiert den Genozid-Begriff des polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin

Von Tilman Asmus Fischer

Der Begriff des Völkermords kann im politischen Diskurs der Bundesrepublik auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken. Wurde er in den frühen Jahren der Bonner Republik breiter verwendet, geschah dies späterhin – im Bewusstsein für das nicht relativierbare Menschheitsverbrechen der Shoa – zunehmend restriktiv. Unter dem Vorzeichen identitätspolitischer Bewegungen erfolgte dann jedoch in den vergangenen Jahren eine neue Öffnung – und erhielt der Begriff mithin seit dem Angriffskrieg der Russischen Föderation auf die Ukraine eine neue Brisanz.

Die dabei identifizierbaren „Unschärfen des Völkermordbegriffs in der deutschen Erinnerungskultur“ nimmt der Regensburger Historiker Manfred Kittel zum Ausgangspunkt seines neuen Buches. „Die zwei Gesichter der Zerstörung“ stellt den polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin mit dem von ihm entwickelten Genozid-Begriff ins Zentrum und zeichnet dessen Rezeption seit Konventionsbeitritt der Bundesrepublik 1954 nach. Den roten Faden stellt dabei die Frage nach der Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs dar, die von Lemkin selbst noch als Völkermord eingestuft worden war.

Entscheidend hierfür war sein Verständnis des Völkermords als der „Zerstörung einer ‚Gruppe als solcher‘“, die nicht erst mit der physischen „Ausrottung“ ihrer Mitglieder begann – es umfasste also, in Kittels Diktion, „Ausrottungsgenozide“ und „Zerstörungsgenozide“. Ganz in diesem Sinne definiert dann auch die UN-Genozidkonvention von 1948 Völkermorde als „eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: Tötung von Mitgliedern der Gruppe; Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“ sowie Maßnahmen der Geburtenverhinderung und die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.

Auf dem Weg zu dieser Definition hatte Lemkin sich bereits, wie Kittel nachzeichnet, mit Bedenken der Vertragspartner des Potsdamer Abkommens auseinanderzusetzen, die mit Blick auf die innereuropäischen – aber auch außereuropäischen – Bevölkerungstransfers dieser Jahre Komplikationen befürchteten. Und so mussten Lemkin und seine Mitstreiter dann auch in Fragen eines „kulturellen Völkermordes“ sowie der Verfolgung politischer Gruppen Abstriche in ihrer – ursprünglich noch umfassenderen – Genozid-Defintion hinnehmen. Der von Kittel gebotene Einblick in die Lemkinsche Position gewinnt besondere Tiefe durch ihre biographische Herleitung. Dabei macht der Verfasser deutlich, dass für Lemkin nicht nur die Shoa, sondern ebenso die älteren Erfahrungen des „defizitären Minderheitenschutz der Völkerbundszeit“ in Mitteleuropa prägend waren. In Reaktion hierauf glaubte Lemkin „an die Einzigartigkeit menschlicher Kulturen und die Notwendigkeit ihres Schutzes, ob es sich dabei um jiddische Schtetl oder die Ureinwohner beider Amerikas handelte“.

Daher konnte er, wie Kittel anhand von detaillierter Quellenarbeit zeigt, in der Diskussion um den Beitritt der Bundesrepublik zur Genozidkonvention dezidiert damit argumentieren, dass diese sich nicht zuletzt auch auf die Vertreibung der Deutschen anwenden ließe – was seinerzeit den Bundestag von SPD bis CDU/CSU überzeugte. Zur Gesamtheit des von Kittel rekonstruierten Bildes gehört dann freilich auch, dass – nicht zuletzt unter dem Vorzeichen der neuen Ostpolitik – die Bundesrepublik von einer „systematische Ermittlung“ der im Zusammenhang mit der Vertreibung begangenen Verbrechen absah.

Vor dem Hintergrund dieser Ausgangslage vollzieht Kittels Studie die zunehmende diskursive „Gleichsetzung von Völkermord und Holocaust“ und die dazu komplementäre „Randposition der Vertreibung in der neuen Genozidforschung seit den 1980er Jahren“ nach. Dabei geht er hinsichtlich der Debatte im deutschsprachigen Raum sowohl auf rechtsradikale Versuche einer Instrumentalisierung des Völkermord-Begriffs als auch auf Diskursverengungen durch politisch linksstehende Akteure ein und weitet sodann den Blick auf die Lemkin-Rezeption in der globale Genozidforschung, die sich zwischen „sachlicher Kritik und moralpolitischer Zensur“ bewege.

Anhand der – freilich nicht einheitlichen – juristischen Bewertung der „ethnischen Säuberungen“ auf dem Balkan in den 1990er Jahren veranschaulicht Kittel das Fortbestehe eines „breite[n] Begriff des Völkermords in der deutschen und internationalen Rechtsprechung“. Erst durch den „Wandel des Genozidbegriffs“ im Kontext der Kolonialgeschichtsforschung und der hieraus resultierenden „Anerkennung des Völkermordes an den Herero 2021“ – bzw. zuvor bereits durch diejenige des Völkermordes an den Armeniern – sieht Kittel Bewegung in die erinnerungskulturelle Debatte kommen. Dass diese weiterhin nicht frei von Ambivalenzen ist, zeigt die Anerkennung des Holodomor als Völkermord bei gleichzeitiger Zurückhaltung, diesen Begriff auf das gegenwärtige Vorgehen Putins anzuwenden.

Wenn Kittel dezidiert für die Einstufung ethnischer Vertreibungen als Zerstörungsgenozide plädiert, eröffnet dies den Weg, unter diesen Begriff sowohl die historischen Verbrechen an den Herero als auch folgerichtigerweise die Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs zu fassen, ohne den Ausrottungsgenozid der Shoa hierdurch zu relativieren. Letztlich verfolgt Kittels Buch jedoch nicht nur ein erinnerungs-, sondern mithin auch ein menschenrechtspolitisches Anliegen – nicht zuletzt mit Blick auf die Ukraine und eingedenk der IS-Gräueltaten an den Jesiden. So betont er bereits einleitend:  Der „originäre Genozidbegriff Lemkins [besitzt] nicht zuletzt den Vorteil, eher bereits präventiv zum Schutz ethnischer oder religiöser Gruppen ‚als solcher‘ gegen drohende oder laufende Angriffe eingesetzt werden zu können, selbst wenn diese nicht auf eine vollständige körperliche Ausrottung abzielen.“

Manfred Kittel: Die zwei Gesichter der Zerstörung. Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen (Forschungen zur Geschichte ethnischer Vertreibung, Band 1). Dunker & Humblot, Berlin 2023, 181 Seiten, EUR 19,90.

Erschienen am 19. Oktober 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).