„Die Opferrolle nicht aus dem historischen Kontext herauslösen“

Als „Opfernationalismus“ deutet der Historiker Jie-Hyun Lim geschichtspolitische Narrative, die sich in den vergangenen Jahrzehnten sowohl in Europa als auch in Asien etabliert haben. Im Interview ordnet er die deutsche Erinnerung an das Kriegsende am 8. Mai ein.

Der Historiker Jie-Hyun Lim ist Professor für Transnationale Geschichte an der Sogang-Universität in Seoul, Südkorea. In diesem Jahr ist sein erstes deutschsprachiges Buch, „Opfernationalismus. Erinnerung und Herrschaft in der postkolonialen Welt“, erschienen.

Herr Lim, in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Buch bieten Sie das Interpretament des „Opfernationalismus“ für die Analyse geschichtspolitischer Diskurse an. Welche Phänomene beschreiben Sie hiermit?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass der ursprüngliche Begriff im Englischen nicht „victim nationalism“, sondern „victimhood nationalism“ lautet. Dieser Unterschied scheint trivial zu sein, ist aber bedeutsam. Es geht nicht um den möglichen Nationalismus der eigentlichen Opfer, sondern um den mnemonischen Nationalismus der nachgeborenen Generation bzw. Generationen. Jedoch befürchte ich, dass die deutsche Übersetzung „Opfernationalismus“ den nuancierten Unterschied zwischen beiden Übersetzungsmöglichkeiten verwischen könnte. Als die polnische Zeitschrift Więź einen meiner Artikel ins Polnische übersetzte, tauschte ich einige E-Mails aus, um eine angemessene Formulierung im Polnischen zu finden. Die endgültige Fassung lautete: „Nationaler Größenwahn der Opfer“. Nicht zufriedenstellend, aber es gab keine andere Möglichkeit. Jede Übersetzung steht vor solchen Herausforderungen. Dabei setzt sich das Übersetungsproblem beim Begriff des „Opfers“ fort.

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Erschienen am 8. Mai 2014 auf cicero.de.

„Man darf seine Sicherheit niemals als selbstverständlich ansehen“

Vor 25 Jahren begann die NATO-Osterweiterung – heute erweist sie sich als überlebenswichtig für Europa

Nie mehr sollten deutsche Soldaten in solchen Staaten präsent sein, die zur Zeit des Dritten Reichs von der Wehrmacht besetzt waren. Diese sogenannte „Kohl-Doktrin“ dominierte die bundesdeutsche Verteidigungspolitik nach Ende des Kalten Krieges. Wenn diese Festlegung auch bereits im Zuge der jugoslawischen Nachfolgekriege brüchig geworden war, hat sich seither das geo- und sicherheitspolitische Lagebild noch fundamentaler gewandelt: Heute tragen deutsche Streitkräfte gemeinsam mit einst von Deutschland okkupierter Staaten gemeinsam Verantwortung für die Freiheit und den Frieden – insbesondere, aber nicht nur des östlichen – Europas.

Möglich wurde dies durch die NATO-Osterweiterungen, deren erste sich am 12. März zum 25. Male gejährt hat. Damals traten Polen, Tschechien und Ungarn dem westlichen Verteidigungsbündnis bei. Fünf Jahre später folgten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, vor 15 Jahren Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro sowie 2020 Nordmazedonien. In Prag wurde das Jubiläum mit einer Konferenz unter dem Titel „Unsere Sicherheit kann nicht als selbstverständlich angesehen werden“ begangen. In seinem Eröffnungsvortrag hob der seinerzeitige US-Präsident Bill Clinton die Bedeutung des historischen Ereignisses für das gesamte Verteidigungsbündnis ebenso hervor wie die Notwendigkeit, das Erreichte weiterzuentwickeln: „Ich denke, dass es eine gute Investition war. Es war ein gutes, vernünftiges Risiko, und es hat die NATO immens gestärkt. Und das Motto dieser Konferenz ist heute genauso wahr wie damals, vielleicht sogar noch wahrer: Man darf seine Sicherheit niemals als selbstverständlich ansehen. Wir wissen, dass wir mehr Netzwerke der Zusammenarbeit brauchen.“

Die Zusammenarbeit innerhalb der NATO schließt die Präsenz deutscher Waffenträger gerade auch im östlichen Europa ein – nicht als notwendiges Übel, sondern als Ausdruck gemeinsamer Wehrhaftigkeit. Dies gilt auch für das diesjährigen NATO-Manöver „Steadfast Defender 2024“ mit insgesamt ca. 90.000 Soldaten, mit dem Stärke und Verteidigungsbereitschaft gegenüber Russland bezeugt werden sollen. Dieses größte NATO-Manöver seit 35 Jahren und der deutsche Beitrag hierzu dokumentieren damit nicht nur ein weiteres Mal die Abkehr von der Kohl-Doktrin, sondern ebenso die Überwindung der lange grassierenden sicherheitspolitischen Naivität gegenüber dem Kreml.

Die Bundeswehr beteiligt sich mit 12.000 Soldaten, 3.000 Fahrzeugen und vier Teilübungen im Rahmen ihres Manövers „Quadriga 2024“. Dabei gehören – neben Norwegen (Übung „Grand North“) – drei der vier Zielländern zu den in den letzten 25 Jahren beigetretenen Staaten: Polen („Grand Center“), Litauen („Grand Center“ und „Grand Quadriga“) sowie Rumänien und Ungarn (beide im Rahmen von „Grand South“). Bei den Quadriga-Übungen handelt es sich um Verlegeübungen, in deren Anschluss sich die deutschen Einheiten an weiteren NATO-Übungen beteiligen.

In Polen sind dies die Übungen „Dragon“ und „Saber Strike“. Im Rahmen der vom 25. Februar bis zum 14. März mit 20.000 Soldaten abgehaltenen Übung „Dragon“ kam es am 4. März zu einem durchaus sinnfälligen Moment. Wohlgemerkt im 85. Jahr nach dem deutschen Überfall auf Polen, beteiligten sich Soldaten vom Deutsch/Britischen Pionierbrückenbataillon 130 aus dem nordrhein-westfälischen Minden an einer Überquerung der hochwasserführenden Weichsel – just an der einstigen deutsch-polnischen Grenze bei Kurzebrack (Korzeniewo) im früheren Landkreis Marienwerder. Das Dorf liegt zudem nur etwa 70 Kilometer südlich der Danziger Westerplatte, die zum Symbol des deutschen Angriffskriegs geworden ist.

Dass die Symbolträchtigkeit von Ereignis und Ort in den Medien kaum wahrgenommen wurde, mag als Indiz für das Vertrauen gelesen werden, das zwischen einstigen Weltkriegs-Gegnern wachsen konnte und heute als selbstverständlich erscheint. Dem steht in krassem Kontrast die Konfrontation Russlands mit den von ihm bis 1990 dominierten Sowjetrepubliken und Warschauer-Pakt-Staaten in einer modifizierten Fortsetzung des Ost-West-Konflikts gegenüber. Es waren nicht zuletzt die vom Kreml ausgehenden Hegemonialansprüche ihnen gegenüber, die die NATO-Osterweiterungen förderten. Wie berechtigt – ja überlebenswichtig – die Entscheidung der damaligen Beitrittskandidaten für die Mitgliedschaft war, daran gemahnt ein weiterer Jahrestag, dessen im März zu gedenken war: derjenige der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion, mit der Russland seinen heute bereits zehn Jahre währenden Krieg gegen die Ukraine eröffnete.

Wladimir Putin wiederum stellt – als konstitutives Argument seiner Kriegsrhetorik – eben die NATO-Osterweiterung als einen Vertragsbruch des Westens dar. Ihr habe man im Zuge der Verhandlungen um den Zwei-plus-vier-Vertrag eine verbindliche Absage erteilt. Neueste Untersuchungen der Historikerin Mary Elise Sarotte („Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung“, München 2023) straft diese Mär Lügen. Gegenüber der „Berliner Zeitung“ fasste Sarotte das Ergebnis ihrer Forschungen dahingehend zusammen, dass die „Vertreter Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten darauf [bestanden], dass der Abschlussvertrag zur deutschen Einheit der Nato explizit erlauben müsse, die Sicherheitsgarantie von Artikel 5 auf Ostdeutschland auszudehnen, also über die Grenzlinie des Kalten Kriegs hinaus. Der Abschlussvertrag müsse deutschen und nicht-deutschen Truppen erlauben, diese Linie ebenfalls zu überschreiten, sobald die Rote Armee abgezogen sei. Die Alliierten haben beide Ziele erreicht. Der Vertreter Moskaus unterzeichnete den Vertrag und die Sowjetunion ratifizierte ihn. Die sowjetische Führung nahm zugleich die damit verbundene finanzielle Unterstützung entgegen, die während der Verhandlungen für ihre Unterschrift und die Ratifizierung zugesagt worden war.“

Wer weiß, welche Entwicklungen die politischen Vertreter Russlands künftig werden akzeptieren müssen, sollte sich die freie Welt in ihrer aktuellen Auseinandersetzung mit dem Kreml durchsetzen. Ganz in diesem Sinne erklärte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk am 13 März in Washington: „Als wir Polen uns auf den Weg in den Westen machten, sagte Papst Johannes Paul II., dass es ohne ein unabhängiges Polen kein gerechtes Europa geben könne“. „Heute“, so Tusk, „würde ich sagen, dass es ohne ein starkes Polen kein sicheres Europa geben kann. Und natürlich würde ich auch sagen, dass es kein gerechtes Europa ohne eine freie und unabhängige Ukraine geben kann.“

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Westpreußen – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2024.

Proeuropäischer Geist aus Danzig

Polens alter und neuer Ministerpräsident Donald Tusk weckt Erwartungen

Zum zweiten Mal in seiner politischen Laufbahn ist Donald Tusk am 13. Dezember als polnischer Ministerpräsident vereidigt worden. Diesem für die polnische wie europäische Politik – und mithin die deutsch-polnischen Beziehungen – bedeutsamen Ereignis waren unwürdige Versuche der seit 2015 regierenden Partei „Prawo i Sprawiedliwość“ [Recht und Gerechtigkeit] (PiS) und des aus ihren Reihen stammenden Staatspräsidenten Andrzej Duda vorangegangen, die rechtspopulistische Partei an der Macht zu halten. Diese berief sich aufgrund des Ergebnisses der Parlamentswahl vom 15. Oktober als mit 35,4 Prozent stärkste Partei auf das Recht zur Regierungsbildung – obwohl die mit Tusks liberal-konservativer „Platforma Obywatelska“ [Bürgerplattform] (PO) verbündeten Oppositionsparteien gemeinsam eine deutliche Mehrheit errungen hatten. Getragen wird die gemeinsam mit Tusk vereidigte Regierung neben der PO von den linksliberalen Parteien Nowoczesna [Die Moderne] und „Inicjatywa Polska“ [Initiative Polen], den christdemokratischen Parteien „Polska 2050“ und „Polskie Stronnictwo Ludowe“ [Polnische Volkspartei] () sowie den sozialdemokratischen Parteien „Nowa Lewica“ [Neue Linke] () und „Lewica Razem“ [Linke Gemeinsam].

An die neue proeuropäische Koalition richten sich vielfältige Hoffnungen, nicht nur aus der Republik Polen, sondern auch aus der Europäischen Union. In dieser genoss Tusk einen derartigen Rückhalt, dass er den Posten des Präsidenten des Europäischen Rates, zu dem er 2014 gewählt worden war, bis zu seiner Rückkehr in die polnische Politik 2019 auch gegen die Widerstände der in Warschau regierenden PiS innehatte. Seine tiefe proeuropäische Überzeugung ist bei Polens altem und neuem Ministerpräsidenten durchaus auch biographisch begründet, stammt der 1957 in Danzig Geborene doch aus einer auf dem Gebiet der Freien Stadt ansässigen kaschubischen Familie und ist insofern geprägt vom Geist der weltoffenen und vielfältigen europäischen Metropole. Dass einer seiner Großväter, Józef Tusk, kurz vor Kriegsende als Angehöriger der Deutschen Volksliste zur Wehrmacht einberufen wurde, wird von polnischen Nationalisten bis heute zur Verunglimpfung Tusks als eine „deutschen Agenten“ instrumentalisiert – in Absehung von der Tatsache, dass beide Großväter zeitweise Häftlinge der Konzentrationslager Stutthof bzw. Neuengamme waren.

Es ist davon auszugehen, dass die Rufmordkampagnen der einstigen Machthaber und heutigen Opposition in Polen gegen ihren Erzfeind Tusk künftig an Intensität eher zunehmen werden, da ihnen der europapolitische Kurs hierzu genug Anlass geben wird. Bereits in der ersten Regierungserklärung bekannte sich Tusk zu den Grundwerten Europas: „Was wirklich eine Gemeinschaft formt, sind Rechtsstaatlichkeit, die Verfassung, die Regeln der Demokratie, sichere Grenzen und ein sicheres Staatsgebiet – das sind die Dinge, über die wir uns nicht streiten dürfen.“ Polen sei, so Tusk, „umso stärker, umso souveräner, je stärker die Europäische Gemeinschaft ist“.

Mit Interesse abzuwarten wird sein, wie sich vor diesem Hintergrund der außenpolitische Kurs gegenüber Deutschland gestaltet. Dies gilt an erster Stelle für die seitens der PiS in den vergangenen Jahren betriebenen – juristisch höchst fragwürdigen – Entschädigungsforderungen gegenüber der Bundesrepublik. Tusk dürfte weder Interesse an einer Fortsetzung dieser symbolpolitischen Angriffe auf Berlin haben noch daran, dass man sich dort genötigt sehen sollte, in Entgegnung hierauf deutlich auf die deutschen Gebietsabtretungen an Polen und die seit jeher offenen Fragen privater Eigentumsansprüche einzugehen. Auch innenpolitisch besteht, will Tusk seinem Anspruch als proeuropäischer Politiker gerecht werden, dringender Handlungsbedarf, der die deutsch-polnischen Beziehungen tangiert. Dabei dürfte es – neben einer Abkehr vom lähmenden, durch die Nationalisten bei allen Fragen der Erinnerungspolitik in den Wissenschafts- und Kulturbetrieb hereingetragenen Kulturkampf – primär um die von den Rechtspopulisten vorgenommene Streichung von Geldern für den Deutschunterricht an staatlichen Schulen gehen, die einen massiven Angriff auf die kulturelle Identität und Existenz der deutschen Volksgruppe sowie ihre verbrieften Minderheitenrechte darstellt.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

„Einfach Tacheles reden“

Abschied von Karl Fürst von Schwarzenberg

Es war vor 75 Jahren, dass der am 10. Dezember 1937 geborene Karl von Schwarzenberg mit seiner Familie nach der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei seine böhmische Heimat in Richtung Schweiz verließ, deren Staatsbürgerschaft die Familie bereits seit Generationen innehatte. Vor wiederum fast 35 Jahren kehrte der Unternehmer, Landwirt und Politiker – der seit 1979 Oberhaupt der Familie Schwarzenberg war – in sein Heimatland zurück, wo er in den vergangenen Jahrzehnten eine der prägenden politischen Gestalten sein sollte und als solche zu einem Brückenbauer zwischen dem Osten und Westen Europas wurde. Am 12. November 2023 ist Karl von Schwarzenberg in Wien gestorben.

Dort hatte er nach der Übersiedlung aus der Tschechoslowakei die Schule abgeschlossen und – ebenso wie in Graz und München – Rechts- und Landwirtschaftswissenschaften studiert. Schon bald übernahm der junge Adlige Verantwortung für die der Familie in Österreich sowie Deutschland verbliebenen Besitzungen. Nach dem Untergang des Kommunismus sollte er dies auch für das Schwarzenbergsche Grundeigentum in Tschechien tun können, das zu großen Teilen zurückerstattet wurde. Der Freiheit ganz Europas galt von Schwarzenbergs politischer Einsatz bereits in den vorangegangenen Jahren, insbesondere ab 1984, als er zum Präsidenten der Internationalen Helsinki Föderation für Menschenrechte gewählt wurde, die sich als Nichtregierungsorganisation für die Einhaltung der Menschenrechte in den KSZE-Staaten einsetzte.

2018 erinnerte sich von Schwarzenberg in einem Interview für diese Zeitung daran, wie er die Ereignisse des Jahres 1989 erlebt hatte: „Im Prinzip gespannt, was passieren wird. Man merkte, dass das sowjetische Reich in sich zusammenbricht. Bloß wie schnell dem so sein wird, haben wir alle nicht geahnt. Aber natürlich, die Ereignisse in Ungarn, dann in der DDR usw. waren hoch interessant. Am 17. November war ich nicht in Prag, sondern in Ungarn, oben bei Debrezin. Plötzlich kommt jemand zu mir und sagt: ‚Im slowakischen Fernsehen senden sie, es tut sich was in Prag.‘ Am nächsten Morgen bin ich losgefahren und habe schon von unterwegs angerufen, man soll mir ein Visum für Prag geben. Das wurde zunächst einmal abgelehnt, und mir wurde mitgeteilt, ich sollte wissen, dass ich in Prag nicht willkommen bin. Eine Woche später war das alles längst Vergangenheit. In den vorangegangenen Jahren war ich – als Vorsitzender der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte – in sehr vielen Staaten Mitteleuropas unterwegs gewesen und man sah, dass sich etwas entwickelt; aber wie schnell das ging, habe ich selbst nicht geahnt.“

Diese rasanten Entwicklungen katapultierten den Fürsten bereits zu Beginn des Jahres 1990 in den Beraterstab Václav Havels. Nach dessen Wahl zum tschechoslowakischen Staatspräsidenten leitete er bis 1992 die Prager Präsidentschaftskanzlei. 1997 wirkte er an der Entstehung der Deutsch-Tschechischen Erklärung mit. Die Versöhnung zwischen Deutschen (bzw. Österreichern) und Tschechen – sowie die Verständigung zwischen Ostmitteleuropa und den Staaten Westeuropas – waren nicht nur ein zentrales Anliegen seiner Politik. Vielmehr war kaum jemand anders wie er dazu befähigt, der er aufgrund seines Lebensweges und der daraus resultierenden Beziehungen mit östlichen wie westlichen Perspektiven und Paradigmen vertraut war. So entschieden, wie er selbst für Rechtsstaat, Demokratie und gegen Nationalismus und Populismus eintrat, war es ihm doch zugleich möglich, eine vermittelnde Position zwischen den Visegrád-Staaten und den westlichen EU-Mitgliedsstaaten einzunehmen. Als wir vor fünf Jahren auf die Lage in der Republik Polen zu sprechen kamen, setzte er seiner Kritik an der damals regierenden PiS hinzu:

„Aber, bitte: Gibt es einen politischen Gefangenen in ganz Polen? Ein politischer Bekannter aus Deutschland hat im Gespräch mit mir furchtbar auf die Polen geschimpft. Da habe ich ihn angesehen und gesagt: Ich bin ein sehr alter Mann. Ich erinnere mich an die Politik der 1950er Jahre. […] Zu dieser Zeit waren in einem Teil der Führungskreise der Bundesrepublik durchaus ähnliche Vorstellungen vertreten wie heute in der PiS. Nur hat sich Deutschland bis heute weiterentwickelt. Polen aber ist erst vor 30 Jahren frei geworden und befindet sich in einem Nachholprozess – auch Polen muss sich weiterentwickeln.“

Dem tschechischen Parlament gehörte von Schwarzenberg ab 2004 als Senator und seit 2010 als Mitglied des Abgeordnetenhauses an. Nach Gründung der Mitterechtspartei „Top 9“ im Jahre 2009 war er für sechs Jahre ihr Vorsitzender. Bereits 2007 bis 2009 und dann nochmal von 2010 bis 2013 war von Schwarzenberg zudem Außenminister der Tschechischen Republik. In diese Zeit fiel die erste EU-Ratspräsidentschaft seines Heimatlandes. Europapolitisch trat er dafür ein, dass der Staatenbund „wesentlich“ werde, wie er in unserem Gespräch erläuterte: „Heute noch sind die Außenpolitik, Verteidigungspolitik, Sicherheitspolitik und Energiepolitik national. Und was bestimmt man in Brüssel? – Was ein Naturschutzgebiet werden soll; ob ich einen Brotaufstrich ‚Marmelade‘ nennen darf oder nicht; oder ob ein köstlicher Käse aus der Tatra, Ostipok, unter dem slowakischen oder polnischen Namen auf dem Markt geführt wird. Wir sollten radikal, aber wirklich radikal Veränderungen vornehmen: Alle diese Dinge, die nicht unbedingt notwendig gemeinsam gelöst werden müssen, sollten wir zurückgeben an die Staaten, manchmal sogar Regionen. Demgegenüber müssen Außen-, Verteidigungs-, Sicherheits- und Energiepolitik vergemeinschaftet werden, damit die EU wesentlich wird.“

Diese Politik auch als Staatspräsident vorantreiben zu können, war von Schwarzenberg nicht vergönnt: Bei der Präsidentschaftswahl           2013 unterlag er dem Populisten Miloš Zeman. Davon ließ sich der Fürst jedoch nicht entmutigen und setzte sein politisches Wirken fort – bis 2021 im Parlament und darüber hinaus als Ratgeber und öffentlicher Denker. Dass er dabei oft auch deutliche Worte finden konnte, durfte auch der Autor dieser Zeilen erfahren, als er ihn auf das oft bemühte Plädoyer ansprach, ein verstärktes Bewusstsein für die kulturellen und geistigen Wurzeln Europas zu entwickeln: „Ich hasse diese Phrasen. Wichtig wäre, dass wir nüchtern überlegen: Was bringen wir durch? Wie können wir Europa vereinigen? Wo sind die wirklichen Schwierigkeiten? Einfach Tacheles reden, statt große Reden zu halten. Die Lage ist viel zu ernst, als dass wir noch Zeit verlieren könnten.“ So ist die Lage weiterhin und im Todesjahr des Fürsten vielleicht noch mehr als im Jahr 2018. Nun erst recht keine Zeit zu verlieren und Tacheles zu reden – das dürfte es sein, was dem Vermächtnis Karls von Schwarzenberg angemessen ist. 

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

„Gewalt sei ferne den Dingen!“

Der Westpreußen-Kongress 2023 fragte nach der historischen und aktuellen Bedeutung des Johann Amos Comenius

In gewisser Weise ‚aus der Zeit gefallen‘ war der diesjährige Westpreußen-Kongress mit seinem Thema „Johann Amos Comenius im Land an der unteren Weichsel: Interkulturelle Spuren eines universellen Gelehrten, Theologen und Pädagogen“. Ursprünglich geplant für 2020, dem 350. Todesjahr von Comenius, vereitelte die Corona-Pandemie die Durchführung der Konferenz. Angesichts der Bedeutung, die einem der großen mitteleuropäischen Ireniker gerade in Zeiten des Krieges in Europa zukommt, hielt die Westpreußische Gesellschaft (WPG) jedoch an dem Vorhaben fest. Und so konnte die Schriftführerin der WPG, Heidrun Ratza-Potrykus, am 22. September jeweils 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland und aus Polen in Warendorf begrüßen und die dreitägige, durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat geförderte Tagung eröffnen.

Auf den ersten, freilich arg oberflächlichen Blick mag der im Titel der Tagung hervorgehobene lokale Bezug zum „Land an der unteren Weichsel“ verwundern. Die gleichwohl hohe Relevanz dieser weit gereisten, zentralen Gestalt der europäischen Geistesgeschichte für diesen Kulturraum strich der Tagungsleiter und WPG-Vorstandsvorsitzende Professor Dr. Erik Fischer in seinen einführenden Worten heraus. Nicht nur, dass der 1592 im mährischen Niwnitz geborenen Comenius von 1642 bis 1648 im seinerzeit schwedisch besetzten Elbing lebte und intensiv am dortigen Geistesleben Anteil nahm; sein Wirken im Königlichen Preußen war auch mit der interkulturellen und interkonfessionellen Beziehungs- und Konfliktgeschichte der Region eng verbunden. Insbesondere unter verständigungspolitischen Gesichtspunkten erscheint es, so Fischer, darüber hinaus fruchtbringend den Wirkungen von Comenius im deutschen, polnischen wie gesamteuropäischen Diskurs nachzuspüren und diese bis in die Gegenwart hinein zu verfolgen.

Einen praktischen und lebensnahen Einstieg in die Kongressthematik bot der Freitagabend mit seinem thematischen Schwerpunkt „Der Comenius-Garten in Berlin – ein Raum zum Leben, Forschen und zur wissenschaftshistorischen Rekonstruktion eines Welt- und Menschenbilds“. Im Zentrum stand die Anfang der 1990er Jahre am Böhmischen Dorf in Neukölln entstandene Parkanlage, die ausgehend von Comenius Werk „Pampaedia“ (Allerziehung) als eine dem menschlichen Lebensweg entsprechende Aufeinanderfolge von „Schulen“ gestaltet ist. Den Garten und die dort im Geiste von Comenius geleistete Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen porträtierte zunächst die RBB-Dokumentation „Das Seelenparadies von Neukölln“ von Heiderose Häsler und Felix Krüger. Anschließend vertiefte die Leiterin des Gartens, die Literaturwissenschaftlerin und Wissenschaftshistorikerin Dr. Neele Illner M. A., in einem Gespräch mit dem Berichterstatter sowie den Tagungsteilnehmerinnen und Tagungsteilnehmern die Einblicke in die Konzeption des Gartens. Dabei schilderte sie anschaulich die Verschränkung von Wissenschaft und Pädagogik, bei der Kinder ganz im Sinne des comenianischen Denkens als Entdecker von Natur ernst genommen werden. Gerade an solch einem universalen Weltzugang wurden die hohen ökumenischen und interreligiösen Potenziale sichtbar, die sich im kulturell pluralen Umfeld des Gartens auf besondere Weise bewähren.

Die ersten drei Vorträge des zweiten Kongresstages boten eine historische Annäherung an Comenius, die sich von einer Makro- zu einer Mikroperspektive hin bewegte. So beleuchtete Professor Dr. Karin Friedrich, Historikerin an der schottischen Universität Aberdeen und Trägerin des Westpreußischen Kulturpreises 2023, zunächst anhand der „Konfessionelle[n] Wissensnetzwerke im frühneuzeitlichen Polen-Litauen“ wesentliche Momente der Religions-, Politik- und Geistesgeschichte des Königlichen Preußen im Zeitalter der Konfessionalisierung. In genau diesen Kontext stellte der Berliner Altphilologe und Lateindidaktiker Professor Dr. Andreas Fritsch sodann seinen Vortrag über „Johann Amos Comenius – Sein Lebenswerk im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges und seine nachhaltige Wirkung“, vor dessen Hintergrund der Theologe Pfr. i. R. Dr. Manfred Richter (Berlin) sich wiederum auf „Comenius Elbinger Jahre und das Colloquium Charitativum“ konzentrierte.

Friedrich führte ihre Zuhörer in das Geistesleben der polnisch-litauischen Adelsrepublik ein, die bis in die Zeit des dortigen Wirkens von Johann Amos Comenius zwar nicht frei von interkonfessionellen Konflikten war, jedoch von seiner politischen wie rechtlichen Konstitution her durch grundlegende Prinzipien des Glaubensfreiheit geprägt wurde. Die Referentin warnte in ihrem Vortrag nachdrücklich davor, „Modelle der Konfessionalisierung von oben, wie sie oft in der deutschen Reformationsgeschichte angewandt wurden“, auf die Lage in Polen-Litauen zu übertragen, obschon es „Versuche von adligen oder städtischen Machteliten“ gegeben habe, „von oben herab Religionspolitik zu betreiben“. Vielmehr warb sie für das historiographische „Bild einer multi- und interkonfessionalen Gesellschaft, in der Gestalten wie Comenius das Geistesleben bereichern konnten, bis die Krise des 17. Jahrhunderts – der Dreißigjährige Krieg und dann der zweite Nordische Krieg – diese intellektuellen und konfessionellen Freiräume wieder einengte oder gar zerstörte.“

Welche Bedeutung Comenius Werk unter den historischen Bedingungen des Dreißigjährigen Krieges gewann und in späteren Zeiten weiterhin entfaltete, zeichnete Fritsch anhand wichtiger Stationen der Lebens- und Wirkungsgeschichte nach. Eine paradigmatische Rolle kam dabei dem in unterschiedlichen Fassungen über die Jahrzehnte hinweg verwendeten Emblem zu, das Comenius als letzter Bischof der alten Böhmischen Brüder hat entwerfen lassen. Es versinnbildlicht seinen zentralen Wahlspruch: „Omnia sponte fluant absit violentia rebus“ – „Alles fließe von selbst; Gewalt sei ferne den Dingen!“ Von hier aus zog der Referent die Verbindungslinien zu den einschlägigen großen Werken des Pädagogen und Theologen: der „Didactica Magna“ (Große Didaktik) sowie den Schriften „Orbis sensualium pictus“ (Die sichtbare Welt) und „Unum necessarium“ (Das einzig Notwendige). Dabei bot er zugleich immer wieder Ausblicke auf die Comenius-Rezeption der Zeitgenossen und nachfolgender Generationen.

Nach einleitenden Worten zur religiösen Situation in Comenius Wirkungsumfeld stellte Richter in seinem Vortrag zunächst die Vorgeschichte des Aufenthalts im Königlichen Preußen dar: eine durch hohe Mobilität geprägte Lebensphase, die Comenius vom polnischen Exil der Brüder in Lissa bis nach London führte. Vor dem Hintergrund der religionspolitischen Situation in Polen-Litauen sowie des Plans des Königs, ein vermittelndes Religionsgespräch aller Konfliktparteien in Thorn durchzuführen – das „Colloquium Charitativum“ von 1645 –, ging der Referent näher auf Comenius‘ Rolle bei den Vorbereitungen auf dieses wichtige Ereignis ein. Dabei gab Richter einen Überblick über die zu diesem Anlass verfassten Schriften, u. a. „Von der Versöhnung der ‚Dissidenten‘ in den Glaubensfragen der Christen“. Gerade an der Unversöhnlichkeit der konfligierenden konfessionellen Lager scheiterte jedoch schließlich das Konzil. Was dagegen blieb und nachhaltige Wirkung entfaltete, waren die ebenfalls in diese Jahre fallenden pädagogischen Arbeiten von Comenius und insbesondere sein Sprachlehrwerk „Novissima Linguarum Methodus“, auf dessen Bedeutung Richter abschließend verwies.

Im Anschluss an die geistes-, lebens- und werkgeschichtlichen Ausführungen eröffnete ein von Fritsch geleiteter Workshop den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Gelegenheit, eigene „Erfahrungen mit der Lektüre von Comenius-Texten“ zu sammeln. Im Zentrum standen Auszüge aus der in den 1620er und 1630er Jahren entstandenen und 1657 schließlich gedruckten „Didactica Magna“. Durch die Lektüre und Diskussion der Texte wurde die Didaktik von Comenius in ihrem ganzheitlichen – mithin gesellschaftsreformerischen – Anspruch deutlich: So wollte er, wie er in der Einleitung programmatisch erklärt, „die Schulen ordnen und zur Blüte bringen, auf dass sie zu wahren und lebendigen Menschenwerkstätten werden, zu Pflanzschulen der Kirchen, Staaten und Hauswesen“. Darüber hinaus wurde der comenianische Ansatz auf seine humanistischen und theologischen Hintergrundannahmen hin durchleuchtet. Auf diese Weise traten die Konturen einer gleichsam ‚optimistischen Anthropologie‘ hervor, die sich in einer Abschwächung der lutherischen Erbsündenlehre ausdrückte. So schreibt Comenius im fünften Kapitel: „Niemand möge uns also, wenn die Heilmittel der Verderbnis zur Beratung stehen, mit dem Einwurf der Verderbnis kommen, weil Gott dies ja durch seinen Geist mit Hilfe der verordneten Mittel hinwegräumen will.“

An die Arbeitsgruppe schlossen sich am Samstagabend und Sonntagmorgen wiederum drei thematisch miteinander verbundene Vorträge an, diesmal gruppiert um Fragestellungen der Comenius-Rezeption: Dr. Hartmut Rudolph, Theologe und früherer Leiter der Potsdamer Leibniz-Editionsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, erläuterte anhand von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und Daniel Ernst Jablonski (1660-1741) die „Wirkungsgeschichte von Johann Amos Comenius“ im „Diskurs der Frühaufklärung“. Professor Dr. Erik Fischer näherte sich Comenius als einer „europäische[n] Leitfigur“ an, indem er die Geschichte und das Konzept der niederländischen „Stichting Comenius Museum“ im niederländischen Naarden, dem Ort der letzten Ruhestätte des Theologen, betrachtete. Einblicke in die Comenius-Rezeption im mitteleuropäischen Raum gewährte wiederum (digital zugeschaltet) Dr. Barbara Dobrowolska, Pädagogin an der der Fakultät für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule in Siedlce, mit ihrem Vortrag: „Jan Amos Komeński in der zeitgenössischen polnischen Pädagogik – Stand der Forschung und Reflexionen“.

Rudolph nahm zunächst Comenius und Leibniz als zwei „Repräsentanten der europäischen Frühaufklärung“ in den Blick. Dabei zeigte er neben Übereinstimmungen auch „konzeptionelle Unterschiede im Denken und Wirken dieser beiden herausragenden Gestalten“ auf. Von diesem spannungsvollen Verhältnis ausgehend verfolgte er eine weitere, prosopographische Verbindungslinie über den Enkel von Comenius, den in Nassenhuben bei Danzig geborenen Berliner Hofprediger und Bischof der Brüder-Unität Daniel Ernst Jablonski. Der Referent würdigte ausführlich dessen Zusammenwirken mit Leibniz, „vor allem bei dem Bemühen, die getrennten Kirchen der Reformation, Calvinisten und Lutheraner, einander anzunähern und zu versöhnen“. Zwar ließen sich, so Rudolph, „in Jablonskis Wissenschaftsverständnis doch auch Hinweise auf eine gewisse Distanz gegenüber einer allzu planen frühaufklärerischen Perfektibilität finden“ – allerdings sei festzustellen, dass „sich beide jedoch in ihrem trotz mancher Misserfolge unbeirrten aktiven Wirken für die Einheit der Kirchen“ nicht unterschieden hätten.

Inwiefern Comenius wiederum bis in die Gegenwart hinein den Gedanken einer geistigen Einheit Europas zu verkörpern vermag, verdeutlichte der Vortrag von Fischer. Er zeichnete nach, wie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich aus dem tschechischen Volk heraus das Ansinnen entwickelt hat, einem der größten Söhne ihres Landes ein würdiges Andenken zu schaffen, und wie diese Bestrebungen schließlich zur Entstehung des Erinnerungsortes in Naarden führten. Hier war Comenius nach seinem Tod – wahrscheinlich auf Betreiben seiner Mäzene, der Familie de Geer – beigesetzt worden: Die Kapelle, in der sich das erst 1929 identifizierte Grab befindet, war bereits von 1933 bis 1937 in ein von tschechischen Künstlern gestaltetes Mausoleum umgewandelt worden. Seit 1992 befindet sich im Nachbargebäude zudem ein sehenswertes und klug konzipiertes Museum, das seine Besucher auf sinnfällige Weise über Leben und Werk des mährischen Denkers informiert.

Die fortwährende Präsenz von Comenius Schriften in der polnischen Pädagogik und insbesondere in der bildungsgeschichtlichen Forschung demonstrierte Dobrowolska anhand der jüngeren sowie aktuellen Fachliteratur. Einen besonderen Schwerpunkt legte sie dabei auf die Arbeiten der Comenius-Spezialistin Barbara Sitarska. Indem sie ihren Vortrag durch den Hinweis auf einen weiteren, von Sitarska in Niewęgłosz bei Radzyń Podlaski gegründeten Comenius-Garten abrundete, schloss sich zugleich der Bogen zum Beginn des Kongresses, der vom Neuköllner Projekt seinen Ausgangspunkt genommen hatte.

Dabei war der Schlussvortrag von Pfr. i.R. Dr. Justus Werdin (Frankfurt/Oder) gleichfalls von comenianischem Geist durchwebt, kreiste er doch um eines der zentralen Lebensthemen des großen Irenikers: die Einheit der Kirche. Der langjährige Referent des Berliner Missionswerks für grenzüberschreitende Ökumene und für Osteuropa hatte seine Ausführungen unter den Titel „Bewegungen und Erfahrungen: Ansätze zu grenzüberschreitender Ökumene“ gestellt. Ausgangspunkt war die interkonfessionelle, zwischen Deutschland und Polen eröffnete Gesprächsinitiative: die „ökumenischen Konsultationen der Bischöfe an Oder und Neiße“. Die hier in Gang gesetzten Entwicklungen in der innerprotestantischen Ökumene – konkret zwischen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen – beleuchtete er anhand der Gemeindepartnerschaft zwischen dem Berliner Dom und der Kirche St. Trinitatis in Warschau. Abschließend erörterte Werden die angestrebte Rückkehr des mittelalterlichen Paramentenschatzes an die Danziger Marienkirche – einen Prozess, den der Referent selbst als Beiratsmitglied begleitet.

Die von Werdin vollzogene Perspektivöffnung leitete dann in die Abschlussdiskussion mit den Referentinnen und Referenten über. Dabei wurde ein doppelter Grundkonsens deutlich: Einerseits war man sich einig, dass Comenius auch heute noch wichtige Impulse für die Verständigung sowohl zwischen den Konfessionen als auch zwischen den Völkern Europas zu geben vermag. Andererseits mussten die Anwesenden konstatieren, dass sich die unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen gegenwärtig eher zurückhaltend mit Comenius befassen. Hier wäre, so die gemeinsame Sichtweise, eine stärkere Popularisierung seiner Lebens- und Wirkungsgeschichte wünschenswert, um das comenianische Denken in Kirche, Theologie und Zivilgesellschaft fruchtbar zu machen. Einen Beitrag hierzu mag der Kongress bereits erbracht haben, einen weiteren – und zudem nachhaltigen – wird die Westpreußische Gesellschaft leisten, die beabsichtigt, die Erträge des Kongresses durch das von ihr herausgegebene Westpreußen-Jahrbuch in naher Zukunft einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“

Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“ der Deutschen Gesellschaft e.V. – in Kooperation mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen sowie der Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland – für junge Spätaussiedler, Nachfahren von Heimatvertriebenen und Angehörige der deutschen Minderheiten. In der Veranstaltung werden die Beiträge der Preisträgerinnen und Preisträger vorgestellt und gewürdigt. Durch den Abend führt Tilman A. Fischer.

Buchvorstellung „Die zwei Gesichter der Zerstörung. Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen“ (von Prof. Dr. Manfred Kittel)

Programm:

Grußworte: Thomas Konhäuser, Geschäftsführer der Kulturstiftung Dr. Florian R. Simon, Verleger (Duncker & Humblot)

Einführung: Tilman A. Fischer, Theologe und Journalist, Berlin

Buchvorstellung: Manfred Kittel, Professor für Neuere und Neueste Geschichte und ehem. Gründungsdirektor der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Berlin/Regensburg

Kommentar: Dr. Christean Wagner, Hessischer Kultus- und Justizminister a. D. und Vorsitzender der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, Wiesbaden

Diskussion: „Ethnische Vertreibungen zwischen Erinnerungskultur und Völkerrecht“

Moderation: Tilman A. Fischer

Schlussworte: Thomas Konhäuser

Zur Definition des Völkermords

Der Historiker Manfred Kittel analysiert den Genozid-Begriff des polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin

Von Tilman Asmus Fischer

Der Begriff des Völkermords kann im politischen Diskurs der Bundesrepublik auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken. Wurde er in den frühen Jahren der Bonner Republik breiter verwendet, geschah dies späterhin – im Bewusstsein für das nicht relativierbare Menschheitsverbrechen der Shoa – zunehmend restriktiv. Unter dem Vorzeichen identitätspolitischer Bewegungen erfolgte dann jedoch in den vergangenen Jahren eine neue Öffnung – und erhielt der Begriff mithin seit dem Angriffskrieg der Russischen Föderation auf die Ukraine eine neue Brisanz.

Die dabei identifizierbaren „Unschärfen des Völkermordbegriffs in der deutschen Erinnerungskultur“ nimmt der Regensburger Historiker Manfred Kittel zum Ausgangspunkt seines neuen Buches. „Die zwei Gesichter der Zerstörung“ stellt den polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin mit dem von ihm entwickelten Genozid-Begriff ins Zentrum und zeichnet dessen Rezeption seit Konventionsbeitritt der Bundesrepublik 1954 nach. Den roten Faden stellt dabei die Frage nach der Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs dar, die von Lemkin selbst noch als Völkermord eingestuft worden war.

Entscheidend hierfür war sein Verständnis des Völkermords als der „Zerstörung einer ‚Gruppe als solcher‘“, die nicht erst mit der physischen „Ausrottung“ ihrer Mitglieder begann – es umfasste also, in Kittels Diktion, „Ausrottungsgenozide“ und „Zerstörungsgenozide“. Ganz in diesem Sinne definiert dann auch die UN-Genozidkonvention von 1948 Völkermorde als „eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: Tötung von Mitgliedern der Gruppe; Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“ sowie Maßnahmen der Geburtenverhinderung und die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.

Auf dem Weg zu dieser Definition hatte Lemkin sich bereits, wie Kittel nachzeichnet, mit Bedenken der Vertragspartner des Potsdamer Abkommens auseinanderzusetzen, die mit Blick auf die innereuropäischen – aber auch außereuropäischen – Bevölkerungstransfers dieser Jahre Komplikationen befürchteten. Und so mussten Lemkin und seine Mitstreiter dann auch in Fragen eines „kulturellen Völkermordes“ sowie der Verfolgung politischer Gruppen Abstriche in ihrer – ursprünglich noch umfassenderen – Genozid-Defintion hinnehmen. Der von Kittel gebotene Einblick in die Lemkinsche Position gewinnt besondere Tiefe durch ihre biographische Herleitung. Dabei macht der Verfasser deutlich, dass für Lemkin nicht nur die Shoa, sondern ebenso die älteren Erfahrungen des „defizitären Minderheitenschutz der Völkerbundszeit“ in Mitteleuropa prägend waren. In Reaktion hierauf glaubte Lemkin „an die Einzigartigkeit menschlicher Kulturen und die Notwendigkeit ihres Schutzes, ob es sich dabei um jiddische Schtetl oder die Ureinwohner beider Amerikas handelte“.

Daher konnte er, wie Kittel anhand von detaillierter Quellenarbeit zeigt, in der Diskussion um den Beitritt der Bundesrepublik zur Genozidkonvention dezidiert damit argumentieren, dass diese sich nicht zuletzt auch auf die Vertreibung der Deutschen anwenden ließe – was seinerzeit den Bundestag von SPD bis CDU/CSU überzeugte. Zur Gesamtheit des von Kittel rekonstruierten Bildes gehört dann freilich auch, dass – nicht zuletzt unter dem Vorzeichen der neuen Ostpolitik – die Bundesrepublik von einer „systematische Ermittlung“ der im Zusammenhang mit der Vertreibung begangenen Verbrechen absah.

Vor dem Hintergrund dieser Ausgangslage vollzieht Kittels Studie die zunehmende diskursive „Gleichsetzung von Völkermord und Holocaust“ und die dazu komplementäre „Randposition der Vertreibung in der neuen Genozidforschung seit den 1980er Jahren“ nach. Dabei geht er hinsichtlich der Debatte im deutschsprachigen Raum sowohl auf rechtsradikale Versuche einer Instrumentalisierung des Völkermord-Begriffs als auch auf Diskursverengungen durch politisch linksstehende Akteure ein und weitet sodann den Blick auf die Lemkin-Rezeption in der globale Genozidforschung, die sich zwischen „sachlicher Kritik und moralpolitischer Zensur“ bewege.

Anhand der – freilich nicht einheitlichen – juristischen Bewertung der „ethnischen Säuberungen“ auf dem Balkan in den 1990er Jahren veranschaulicht Kittel das Fortbestehe eines „breite[n] Begriff des Völkermords in der deutschen und internationalen Rechtsprechung“. Erst durch den „Wandel des Genozidbegriffs“ im Kontext der Kolonialgeschichtsforschung und der hieraus resultierenden „Anerkennung des Völkermordes an den Herero 2021“ – bzw. zuvor bereits durch diejenige des Völkermordes an den Armeniern – sieht Kittel Bewegung in die erinnerungskulturelle Debatte kommen. Dass diese weiterhin nicht frei von Ambivalenzen ist, zeigt die Anerkennung des Holodomor als Völkermord bei gleichzeitiger Zurückhaltung, diesen Begriff auf das gegenwärtige Vorgehen Putins anzuwenden.

Wenn Kittel dezidiert für die Einstufung ethnischer Vertreibungen als Zerstörungsgenozide plädiert, eröffnet dies den Weg, unter diesen Begriff sowohl die historischen Verbrechen an den Herero als auch folgerichtigerweise die Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs zu fassen, ohne den Ausrottungsgenozid der Shoa hierdurch zu relativieren. Letztlich verfolgt Kittels Buch jedoch nicht nur ein erinnerungs-, sondern mithin auch ein menschenrechtspolitisches Anliegen – nicht zuletzt mit Blick auf die Ukraine und eingedenk der IS-Gräueltaten an den Jesiden. So betont er bereits einleitend:  Der „originäre Genozidbegriff Lemkins [besitzt] nicht zuletzt den Vorteil, eher bereits präventiv zum Schutz ethnischer oder religiöser Gruppen ‚als solcher‘ gegen drohende oder laufende Angriffe eingesetzt werden zu können, selbst wenn diese nicht auf eine vollständige körperliche Ausrottung abzielen.“

Manfred Kittel: Die zwei Gesichter der Zerstörung. Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen (Forschungen zur Geschichte ethnischer Vertreibung, Band 1). Dunker & Humblot, Berlin 2023, 181 Seiten, EUR 19,90.

Erschienen am 19. Oktober 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Verstehen und Verständigung

Bundestagspräsidentin a. D. Rita Süssmuth – Zeitzeugin im Gespräch

Rita Süssmuth war eine der prägenden Gestalten der späten Bonner und frühen Berliner Republik, zumal als Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit von 1985 bis 1988 sowie insbesondere als Präsidentin des Deutschen Bundestages von 1988 bis 1998. Zudem ist die 1937 in Wuppertal geborene CDU-Politikerin bis heute – neben anderen Themenfeldern – intensiv mit Fragen der deutsch-polnischen Beziehungen befasst: nicht nur als Präsidentin des Deutschen-Polen-Instituts, sondern ebenso als Kuratoriumsvorsitzende der Deutsch-Polnische Gesellschaft und Vorstandsmitglied der im Geiste des Weimarer Dreiecks arbeitenden Stiftung Genshagen. Dies macht sie zum einen zu einer Zeitzeugin der Deutschland- und Ostpolitik der Jahre ihrer Verantwortung in Regierung und Parlament und zum anderen zu einer erfahrenen Beobachterin der gegenwärtigen Phase intensiver Herausforderungen für den Zusammenhalt Europas. In einem Gespräch mit Tilman A. Fischer gab sie Einblick in ihre historischen Erfahrungen wie in ihre Gegenwartsanalysen. Entstanden ist so das intellektuelle Porträt einer zentralen Persönlichkeit im deutsch-polnischen Dialog.

Frau Professor Süssmuth, Sie sind in Westdeutschland geboren und aufgewachsen. In welchem Zusammenhang wurde hier ‚der Osten‘ für Sie erstmals thematisch?

Das war in der Nachkriegszeit. Wir waren evakuiert in einem Dorf auf dem Lande und da wurden samstagsmorgens immer die Backplatten – die einen mit Brot, die anderen mit Kuchen – zum Bäcker gebracht, um da abgebacken zu werden. Da habe ich erlebt, dass die Platten der Flüchtlinge immer als letzte drankamen. Da habe ich zuhause gefragt: „Was machen die da eigentlich? Warum heißt es, ‚der Ofen ist voll‘? Da flackerte in mir etwas auf. Das hat zwar nicht zum Polen-Interesse geführt, hat mich aber sensibilisiert: Warum werden die Flüchtlinge – und das waren Deutsche aus dem Osten – anders behandelt als Einheimische. Es gibt Zugehörige und solche, die an den Rand gedrängt werden. Das Flüchtlingsproblem habe ich erst viel später tiefer verstanden; denn meine Kindheit dominierte die Frage nach dem eigenen Überleben: Man sorgte für sein Überleben, ging hamstern, alles Mögliche sammeln, Eier zu bekommen und so weiter.

Dennoch gewann der Themenkreis Deutschland und Ostmitteleuropa für Sie an Bedeutung. Wie kam es dazu?

Als ich zur höheren Schule kam zu den „Schwestern der Christlichen Liebe“ – oder auch der Strenge – in Lippstadt, habe ich mich sehr für Geschichte interessiert und war da auch entsprechend begabt. In dieser Zeit war mein Vater – ein Pädagoge – am Wiederaufbau der Lehrerbildung beteiligt. Und auf seinem Schreibtisch sah ich immer die „Frankfurter Hefte“ – rote Hefte mit bestimmten Themen. Das hat mich interessiert: Was macht Dein Vater da? Das war eine Mischung aus politisch-kritischen, sozialen und Bildungsfragen – und so weiter. Das hat mich wach gemacht. Dann kam die Mittlere Reife und ich wollte von der Schule abgehen, um Krankenschwester zu werden. Da sagte mein Vater: „Rita, mach doch wenigstens Abitur!“ Als ich dann das Abitur in Rheine gemacht hatte, sagte er: „Und jetzt studier‘ bitte Jura!“ – „Oh Schand‘!“, dachte ich da und ich sagte ihm: „Nein, das kann ich nicht – ich habe keine Beziehung dazu. Ich muss etwas machen, wovon ich schon jetzt was erlebt und Ahnung haben. Ich werde Romanistik und Geschichte studieren.“ Ich war entschlossen, als Lehrerin in die Schule zu gehen. Diese Fächer habe ich zunächst in Münster, dann in Tübingen, dann in Paris an der Sorbonne studiert.

Dies freilich klingt eher nach einer Westorientierung.

In dem Studium stieß ich dann aber nicht nur auf den Westen, sondern entdeckte plötzlich auch die reiche Geschichte Ostmitteleuropas: Da war ein Mediävistik-Professor, und der beschäftigte sich eben gerade mit Mittel- und Osteuropa. Ich besuchte seine Seminare und er lud mich dann ein, als ich 1961 das Examen gemacht hatte, mit auf eine Studienfahrt zu kommen.. Zunächst habe ich sein Oberseminar auch noch mitgemacht, aber ich hatte dann das Angebot für einer Dissertation und promovierte über die „Anthropologie des Kindes“. Mit der Anstellung als Assistentin von Robert Spaemann an der Universität in Osnabrück folgte dann auch der berufliche Durchbruch an die Universität. Jedoch habe ich parallel zur Universität immer auch andere Themen verfolgt: Ich betrieb weiter Geschichtsstudien, obwohl ich ja das Examen in Alter und mittelalterlicher Geschichte bereits hatte – aber ich muss sagen: Das war mehr ein Auswendiglernen gewesen. Verstehen der Geschichte habe ich erst durch die Franzosen gelernt – abstrakt gesprochen durch die Strukturalisten, denen es darum ging, nicht nur politische, sondern auch Sozial- und Kulturgeschichte zu betreiben. Das eröffnete auch einen neuen Blick auf unsere östlichen Nachbarn.

In welcher Beziehung steht Ihr persönlicher Perspektivwechsel zu den Umbrüchen in der deutschen Politik – mithin der politischen Kultur – in den 1960er und 1970er Jahren?

Dies waren für mich die entscheidenden Entwicklungsjahre. Ich war damals zwar durch meinen Berufseinstieg zur Kämpferin für Frauen geworden, aber noch nicht zu einer richtigen Kritikerin. Dies geworden zu sein, verdanke ich den 68ern. Meine Partei freut sich nicht, wenn ich sowas sage. Was kann denn an den 68ern gut gewesen sein? Ja, die haben die Fragen gestellt – auch im Parlament. Die 68er-Bewegung klärte die Menschen auf – im Sinne Kants: ihren eigenen Verstand zu gebrauchen. Und das ist ja das Entscheidende, so entsteht Verstehen und erst durch Verstehen kommt dann die Verständigung zustande – eben auch mit Völkern, zu denen eine historisch belastete Beziehung besteht.

Welche Bedeutung kam dieser Verknüpfung zwischen Verstehen und Verständigung gerade mit Blick auf den damaligen Ostblock zu?

Die Spaltung Europas hat nicht nur in Form von physischen Grenzen existiert, sondern auch in den Köpfen. Das waren immer „die Anderen“. Wir haben jahrelang den Westen positiv gesehen und den Osten als die zu Befreienden. Polen, die Tschechoslowakei – in all diesen Ländern gab es auch eigene Bewegungen, deren Denken wir eigentlich viel zu wenig zur Kenntnis genommen habe.

In Ihrer Partei sind sie auch als eine Unterstützerin der „Neuen Ostpolitik“ – und in diesem Kontext durchaus auch als eine Kritikerin der Vertriebenenverbände – in Erscheinung getreten. Wie haben Sie diese Konstellation wahrgenommen?

Für manche in der Union war ich nie eine richtige Parteizugehörige – wahrscheinlich auch nicht genug Parteisoldat. Ich habe Schwierigkeiten, das gebe ich zu, mit so einem unmittelbaren Gehorsam. Da hatten meine Eltern schon Schwierigkeiten. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte – das kriegte man nicht so schnell da wieder raus. Es gab damals eine Hauptunterstützung von den reformerischen Kräften. An der Spitze Heiner Geißler. Heiner Geißler war ein Kämpfer, der auch manchmal über seine Grenzen ging, auch in der Verletzung anderer Menschen. Später hat er sich dann immer wieder entschuldigt.

Aber es gab in der Union doch auch genug meinungsstarke Kritiker Ihrer Position.

Ja, aber Herbert Czaja und einige der Hauptmatadore der Vertriebenenverbände haben im Laufe der Zeit auch gelernt. Wir haben einerseits die „große Zeit“ der Vertriebenenverbände vor Augen, die die deutsche Politik sehr beeinflusst haben, auch wegen ihrer Wählerstimmen – mit denen man sich gutstellen musste. Wir haben aber auch die heutige Zeit vor Augen, in denen viele Akteure aus den Vertriebenenverbänden ganz wesentlich zur Verständigung in Europa beitragen. Dort, wo heute die Vertriebenen wieder in ihr altes Heimatland kommen und die heute dort Lebenden sie bitten: „Kommt doch mal rauf und wir trinken eine Tasse Kaffee zusammen!“, da erleben wir heute, dass gerade eine Region wie Oberschlesien die Region der Verständigung ist – inmitten des von der PiS dominierten Polen. Ähnliches gilt für Danzig. Umso schlimmer sind die Reparationsforderungen aus Warschau, die keiner mehr bezahlen kann..

Lassen Sie uns gerne später auf diesen Punkt zurückkommen – hier aber noch kurz in der Retrospektive verweilen! Wie entwickelten sich in den sogenannten Wendejahren Ihre persönlichen Beziehungen nach Polen?

Ich habe in der Geschichte ja viel erfahren, von den furchtbaren Dingen, die im Zweiten Weltkrieg und danach auch passiert sind. Nach Polen war ich noch nicht gekommen, aber wir hatten wenigstens Informationen aus zweiter Hand. Polen hat sich für mich eigentlich erst ab den frühen 1980er Jahren eröffnet und eine führende Persönlichkeit war Władysław Bartoszewski, ein Widerständler und ein wunderbarer Mensch. Auch wenn er, wie ich jetzt im Augenblick, nicht aufhören konnte zu reden. Aber durch ihn habe ich viel über Polen verstanden. Vorher habe ich studiert, dies sicherlich auch engagiert – aber ich habe noch nicht viel verstanden. Gewusst habe ich eine Menge, aber das ist weniger als Verstehen.

Wann sind sie ihm, Bartoszewski, das erste Mal begegnet?

Ich bin ihm das erste Mal 1985 begegnet. Aber da war er mir natürlich bereits bekannt: Er gehört zu den Personen, die schon vorher die Kontakte hergestellt haben, gerade über den religiösen Austausch; denn natürlich hatte ich die Diskussion um die neue Ostpolitik, in welcher der „Botschaft der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder zur Versöhnung“ von 1965 eine große Bedeutung zukam, intensiv verfolgt – und in dieser Zeit war Bartoszewski bereits im von den Kirchen betriebenen Dialog engagiert. Eine zentrale Rolle kam damals den jungen Menschen von Aktion Sühnezeihen zu, die jüdische Opfer pflegten (es gab ja noch keinen Ausgleich und keine Versorgung für sie). Über diese kirchlichen Kontakte bekam er Reiserecht nach Deutschland und hat seitdem die Verständigung wirklich auch in unserem Land betrieben.

Dies taten Sie selbst dann auch vor Ort in Polen. Wie waren Ihre ersten Eindrücke von unserem östlichen Nachbarland?

Als die Solidarność stärker wurde, und als sich dann 1989 die Grenzen öffneten, war meine erste Wahrnehmung: In der DDR hatte man Angst gehabt, überhaupt hineinzufahren – wahnsinnige Kontrollen; und wenn man nach Polen fuhr, brauchte man kaum den Kofferraum aufzumachen. Auch in der Akademie der Wissenschaften ein völlig anderer Ton als bei den Kollegen in der DDR. Und bei den Reisen in diesen Jahren habe ich die ersten Solidarność-Leute in Warschau kennengelernt. Das geschah abends in der Botschaft ohne großes Aufsehen – einfach zum vertraulichen Gespräch. Da war Adam Michnik, heute Chefredakteur der Gazeta Wyborcza – ein etwas schwieriger Typ, aber ich habe ihn sehr geschätzt wegen seiner Einstellung, aber auch wegen seines Wissens. Ich habe heute noch Kontakt mit Lech Wałęsa in Danzig. Er ist jetzt älter geworden und etwas gebrechlich, nimmt aber weiterhin an den Demonstrationen der heutigen polnischen Opposition teil. Sie sehen, da ist was geblieben.

Welche Fragen und Themen sind Ihnen heute in den Beziehungen Deutschlands zu den Nachbarn in Ostmitteleuropa bedeutsam?

Im Augenblick kämpfe ich zum einen für Ungarn – ziemlich auf einsamem Posten. Wir Deutschen sind manchmal sehr lehrmeisterhaft und restriktiv: Ihr seid nicht gehorsam und haltet die Rechtsordnung nicht ein, die Gewaltenteilung – und jetzt fordern wir Sanktionen. Die Analyse ist zutreffend, ja aber statt zu sanktionieren müssen wir besonders viel mit den Andersdenkenden sprechen. Wichtig ist mir heute zum anderen und insbesondere seit dem totalen Bruch in der West-Ost-Beziehungen: Ich höre nur von morgens bis abends: „Die Ukrainer müssen den Krieg gewinnen.“ Es kommt nie die Frage auf: Was machen wir eigentlich, wenn sie ihn nicht gewinnen? Wir werden gleichsam alle plötzlich zu Konformisten. Die andere Seite – was machen wir, wenn nicht – muss doch auch bedacht werden und die fehlt mir heute, auch in meiner eigenen Partei. Ja, Engagement für die Ukraine – aber wir müssen immer auch bedenken: Es könnte anders kommen, als wir es erhoffen. Wir können ja nicht sagen: keinerlei Kontakt mehr – weder wissenschaftlich noch ökonomisch. Das kann ich mir nicht vorstellen. Da muss wieder Neues entstehen, wie es entstanden ist nach dem Zweiten Weltkrieg.

Schwingen in der Hoffnung auf die Möglichkeit von Verständigung noch Erfahrungen aus der Ära Gorbatschow mit?

Damals gab es einen anderen Geist. Ich habe die Suche nach Gesprächen mit Gorbatschow unterstützt und unsere Regierung hat sie gefunden. Ohne Gorbatschow hätten wir keine deutsche Einheit. Das ist meine Position. Es gab damals eine Zeit, in der Gorbatschow auch die Armut in Russland sah, die Unfreiheit der Russen, und ihnen mehr Freiheit gegeben hat. Putin hat nur dasEine gesehen: Er hat unser Land verkleinert. Anders als Gorbatschow ist Putin nicht zu einer größeren europäischen Perspektive in der Lage. Fehler sind aber natürlich auf allen Seiten gemacht worden. So stand das Baltikum in der Phase seines Freiheitskampfes für den Wunsch nach einer Verständigung zwischen Ost und West! Später sind dann die russischsprachigen Minderheiten ausgegrenzt worden, was zur Verschlechterung der Beziehungen beitrug.

Verständigung mit Russland, Fehler auf Seiten der westlichen Staatenwelt – sind das Fragen, die heute im Austausch mit Partnern in Polen, wo man zu Recht mit Sorge auf Russland blickt, angesprochen werden können?

Ja, sicher. Aber nicht mit der PiS-Regierung. Gewiss lässt sich die Haltung Jarosław Kaczyńskis gegenüber Russland auch aus dem dramatischen Schicksal des Verlusts seines Bruders erklären, aber im Sinne Bartoszewski gesprochen: Es muss jederzeit nach christlichem Verständnis möglich sein, wieder aufeinander zuzugehen. Aber für Kaczyński ist der Bruder von Russen ermordet worden. Und das treibt ihn bis heute um und er will es rächen.

Sie hatten die PiS – und auch die polnischen Reparationsforderungen – bereits angesprochen. Was für eine Entwicklung des politischen Diskurses erleben wir da gerade in unserem Nachbarland?

Dass solche Reparationsforderungen artikulierbar sind, hat die PiS erreicht, indem sie eine absolut polarisierte Atmosphäre geschaffen hat. Deshalb bin ich über all die deutlichen Manifestationen der politischen Opposition glücklich, denn da geht nicht einfach ein kleines Grüppchen auf die Straße, sondern Tausende von Menschen, die sich etwa gegen die Gesetzesinitiative gegen Tusk richten, die ihm das Wahlrecht nehmen und alle Schuld auf seinem Haupt versammeln soll. Dabei wird ihm von der PiS insbesondere seine Haltung gegenüber Russland vorgeworfen. Hierzulande wird die Zivilcourage der polnischen Opposition ja teilweise relativiert. Dann heißt es mit Blick auf Demonstrationen: Es war die Stadt und nicht das Land. Ist alles wahr, aber die Demonstrationen zeigen: Da ist ein Volk, das denkt: Was müssen wir an demokratischen Errungenschaften erhalten? Was sind die Grundlagen unserer Freiheit?

Sehen Sie die Perspektive, dass durch die gemeinsame Bewältigung der Krise des russischen Angriffskriegs mit all ihren humanitären Folgen auch die Ost-West-Spannungen in der EU abgebaut werden können – oder ist der Konfliktaustrag nur in einem momentanen Burgfrieden ausgesetzt?

Angesichts des Krieges in der Ukraine versuchen wir heute, gute, oder zumindest normale Beziehungen zwischen Deutschland und Polen zu pflegen. Polen engagiert sich ungeheuer. Sie haben – das kommt noch hinzu – immer eine enge Beziehung zur Ukraine gehabt. Auf der einen Seite ist Europa zusammengewachsen: Die Staaten merken, wir müssen zusammenstehen, nur gemeinsam können wir der Ukraine helfen. Auf der anderen Seite haben wir ständig Entwicklungen, bei denen der eine oder der andere sagt: Wir sind anders. Das betrifft etwa die Gewaltenteilung – in Polen, in Ungarn. Das heißt: auf der einen Seite Annäherung und Zusammenschluss, um ein stärkeres Europa zu schaffen – auf der anderen Seite bleibende Abgrenzungen. Diese Spannungen gilt es klug auszubalancieren.

Welche Streitfragen stehen dabei im Fokus?

Polen vertritt klare politische Standpunkte, was die militärische Aufrüstung betrifft. Manchmal habe ich dabei das Gefühl: Wenn Ihr uns Deutschen jeden Tag neue Dinge abverlangt, denkt Ihr auch daran, welche Risiken das für uns mit sich bringt? Und nicht nur für uns Deutsche – für ganz Europa? Wir müssen doch vielmehr gemeinsam eine Kriegsbeseitigung, einen Stopp der Waffen herbeiführen – und nicht nur für uns, sondern für Europa, wenn diese Idee des Staatenbundes noch eine Chance haben soll.Im Kalten Krieg ging es immer darum: Welche Waffen schützen uns? Welche Abwehrkräfte schützen uns? Und jetzt sind wir wieder in einer solchen Situation: Haben wir überhaupt noch Schutz? Und wir sagen, dieses Europa muss sich retten. – Wir sind aber im hohen Maße abhängig von Amerika. Amerika hat uns geholfen, ganz entscheidend geholfen bei der Wiedervereinigung. Das waren ja Hoffnungsjahre. Im Augenblick aber leben wir in einer Zeit der Unfälle und Enttäuschungen…

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 3/2023.

Versöhnung durch Wahrheit

Andreas Kalckhoff zeigt anhand des Postelberg-Massakers, wie Aufarbeitung von Vertreibungsverbrechen und ein gemeinsames „Entlügen“ der Geschichte gelingen können.

Die Forderung, gemeinsam die Geschichte zu „entlügen“, ist seit Jahrzehnten prägend für zivilgesellschaftliche Dialoge zwischen Deutschland und seinen ostmitteleuropäischen Nachbarn. Dies gilt, seitdem das bedeutungsgleiche Schlagwort „odkłamanie“ in der Oppositionsbewegung während der Zeiten der Volksrepublik aufkam, insbesondere für Polen. Aufgrund der (geschichts)politischen Rahmenbedingungen östlich der Oder gelingt dort das „Entlügen“ der eigenen Geschichte mit Blick auf die Ereignisse im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung der Deutschen am und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den vergangenen Jahren jedoch nicht in gleicher Weise, wie dies in Tschechien zu beobachten ist. Prominentestes Beispiel hierfür ist der – auch über einschlägig interessierte Kreise hinaus bekannte – Gedenkmarsch, mit dem die Stadt Brünn seit 2015 jährlich des Brünner Todesmarsches gedenkt. Ein weiteres Zeugnis dieser Entwicklungen ist das im vergangenen Jahr erschienene Buch „Was geschah in Saaz und Postelberg im Juni 1945? Geheime Dokumente und Zeitzeugenberichte enthüllen das Unfassbare“ von Andreas Kalckhoff.

Es befasst sich mit dem Massaker, das in den ersten Juni-Tagen des Jahres 1945 im nordböhmischen Postelberg an 763 deutschen Zivilisten – Männern, Frauen und Kindern – verübt wurde. Die Opfer stammten hauptsächlich aus Saaz und waren im Rahmen der Vertreibungsmaßnahmen nach Postelberg verschleppt worden. Zunächst zwei Jahre später von einer tschechischem Parlamentskommission untersucht, wurde das Massaker in den Jahren der kommunistischen Gewaltherrschaft tabuisiert. Erst mehrere Jahre nach der Demokratisierung Tschechiens wurden die – inzwischen verstorbenen und juristisch nicht zur Rechenschaft gezogenen – Verantwortlichen ermittelt. Sowohl in der deutschen als auch in der tschechischen Medienöffentlichkeit fand das historische Verbrechen gleichwohl große Aufmerksamkeit. Dies dokumentiert das Buch ebenso wie Quelletexte, Berichte von Zeitzeugen und umfangreiches Bildmaterial.

Mit dem nun erschienenen Band werden einer breiten Öffentlichkeit die Forschungsergebnisse des Autors Andreas Kalckhoff zugänglich gemacht, die 2013 unter dem Titel „Versöhnung und Wahrheit. Der ‚Fall Postelberg‘ und seine Bewältigung 1945-2010“ durch den Heimatkreis Saaz herausgegeben worden waren. Die nun erschienene neubearbeitete Dokumentation bietet die Texte sowohl deutschsprachig als auch in einem von Otokar Löbl und Petr Šimáček übersetzten und redigierten tschechischen Teil (bzw. im tschechischen Original). Durch diese strikte Zweisprachigkeit erhält das Anliegen der historischen Wahrhaftigkeit eine besondere Überzeugungskraft, da das Buch so in die erinnerungskulturellen Diskurse sowohl des deutschen als auch des tschechichen Sprachraums hineinzuwirken und dort Diskussionen anzuregen vermag. Faszinierend an dem Buch ist das von ihm eröffnete und fruchtbar gemachte Spannungsfeld, das dadurch entsteht, dass dreierlei miteinander ins Gespräch gebracht wird: staatliche tschechische Quellen, Berichte Überlebender sowie Dokumente der Aufarbeitung und Verständigung in den vergangenen Jahrzehnten.

In seinem Vorwort arbeitet der tschechische Publizist Jiří Padevět die Tragweite der historischen Ereignisse sowie die inneren Wiedersprüche heraus, die beim Umgangs mit ihnen in den folgenden Jahren deutlich geworden sind:

„In Postelberg ging es weder um den Ausbruch des Volkszorns noch um Hinrichtungen, die ein Gericht angeordnet hatte, sondern um Morde, ausgeführt durch Armeeangehörige. Um Morde, zu denen Offiziere Befehle erteilen mussten. Es ist paradox, dass derselbe Staat, dem diese Offiziere unterstanden, die Umstände des Massakers zwei Jahre später zu untersuchen begann und die sterblichen Überreste der Opfer exhumieren ließ. Bemühungen um [eine] Erklärung für das Geschehene, das wir in der heutigen Terminologie unzweifelhaft als ethnische Säuberung bezeichnen würden, wurden im Februar 1948 mit der Machtübernahme durch die Kommunisten beendet. Über den Toten und den Mördern aus Postelberg schlossen sich die Wasser des Vergessens und wurden vom allumfassenden kommunistischen Schlamm des Schweigens aufgesaugt.“

Der erste und umfangreichste Teil – „‚Tatsächliche Gräueltaten‘: Die Massenexekutionen nach Kriegsende im Mai / Juni 1945“ – stellt sechs Quellentexte aus dem Kontext der innertschechisches Ermittlungen zu den Vorkommnissen in Saaz und Postelberg ins Zentrum. Deren Mehrheit steht im Zusammenhang mit der parlamentarischen Untersuchung im Juli des Jahres 1947. Das früheste dieser Dokumente ist ein Bericht zum polizeilichen wie nachrichtendienstlichen Kenntnisstand über die Ereignisse für Innenminister Václav Nosek vom 2. Juli 1947. Auf den 28. Juli datiert ist wiederum ein „Vorbericht zum Fall Postelberg und Saaz“, welcher der parlamentarischen Untersuchungskommission bei ihren am 30. und 31. des Monats durchgeführten Verhören vorlag. Dabei ist der Begriff „parlamentarisch“ irreführend, insofern sich die Kommission „aus fünf Abgeordneten aus den Fraktionen der Volksfrontregierung, sechs Beratern aus den Ministerien und von der Volkspolizei sowie drei Geheimdienstleuten zusammensetzte“. Die unter Vorsitz von Dr. Bohuslav Bunža durchgeführten Verhöre sind in der Langfassung des stenographischen Protokolls dokumentiert. In Auszügen eröffnet das Buch – als viertes Dokument – Einblicke in das auf dessen Grundlage erstellte „Aussageprotokoll der Parlamentskommission“, das die einzelnen Aussagen zusammenfasst.

Neben den die parlamentarische Untersuchung dokumentierenden Texten steht zum einen ein am 13. August desselben Jahres an das Innenministerium ergangener Untersuchungsbericht zu den „Nachrevolutionsereignissen in Postelberg“. Zum anderen bietet die Dokumentation das Protokoll eines vier Jahre später – am 2. Mai 1951 – geführten Verhörs mit Vasil Kiš, das die Rolle von General Bedřich Reicin und Leutnant Jan Čubka beim Massaker von Postelberg beleuchtete: Letzterer – so der Zeuge – habe die Massenhinrichtungen befohlen und selbst durchgeführt, Ersterer habe von Ihnen Kenntnis gehabt. Beigegeben sind den Dokumenten einführende Aufsätze von Peter Klepsch und Herbert Voitl, von dem überdies zusätzliche kommentierende und kontextualisierende Texte stammen. Mit den Texten dieser beiden Autoren, die der Ermordung in Postelberg entgingen, dokumentiert Kalckhoff zugleich die Aufarbeitung des Massakers seitens der organisierten deutschen Heimatvertriebenen, was das von ihm aufgespannte Panorama um eine weitere Facette ergänzt.

Umso mehr gilt dies für das Mittel- und (so wird man zurecht sagen dürfen) Herzstück der Dokumentation, kommen hier doch die Opfer – Überlebende des Massakers – zu Wort: neben acht Saazern sind dies vier weitere Deutschböhmen aus dem Kreis Aussig. Während einer der Berichte – von Ottokar Kremen – nur fünf Jahre nach dem Massaker entstand, wurden die elf weiteren Berichte erst in den 2000er-Jahren, also mit einem größeren zeitlichen Abstand zu den Ereignissen aufgezeichnet bzw. verschriftet. Ergänzt werden die zwölf namentlich autorisierten Berichte um einen anonymen Text, der die Ermordung des Saazer Kapuzinerpaters Maximilian Hilbert am 7. Juni 1945 thematisiert. In seiner Vorbemerkung betont Kalckhoff den gewandelten Stellenwert, der den Zeitzeugenberichten –  dem zuvor einzigen und überdies aufgrund seines emotionalen und teils politisch aufgeladenen Charakters misstrauisch betrachteten Zeugnis der Ereignisse – durch die Auffindung und Publizierung der im ersten Teil dokumentierten Akten zukommt: „Sie sind nicht mehr umstrittene historische Primärquellen, denen man mit gemischten Gefühlen begegnet, weil ihre Behauptungen unbewiesen sind, sondern bildhafte und emotional bewegende Lebenszeugnisse, die nüchterne Akten farbig illustrieren – wenn auch auf schreckliche Weise.“ In ganz anderer, aber ebenso schrecklicher Weise leistet dies auch die – den zweiten Teil abschließende – Liste der Todesopfer im Saazer Land nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Hierbei bleibt Kalckhoff jedoch nicht stehen. Vielmehr stellt er, wie eingangs bereits erwähnt, den ersten beiden einen dritten Hauptteil zur Seite: „‚Diese Erniedrigung des Menschen‘: Scham, Gedenken und Versöhnung“. Hier kommt der Prozess des „Entlügens“ und der Versöhnung durch Wahrheit anhand der Jahre 1995 bis 2010 selbst explizit in den Blick. Dieser begann im Oktober 1995 mit der Veröffentlichung eines zweiteiligen umfangreichen Beitrags zum Massaker in der Zeitung „Svoboný HLAS“ und führte über vielfältige deutsch-tschechische Begegnungen – und immer wieder auch gegen Widerstände – bis zur Enthüllung einer Gedenktafel für die Opfer am 6. Juni 2010 in Postelberg. Man mag es bedauern, dass die Neuauflage der Dokumentation von Kalckhoff nicht genutzt wurde, um den letzten Hauptteil um Zeugnisse aus dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu ergänzen. Diese Lücke zur Gegenwart hin wird jedoch zumindest teilweise durch eine als „Nachlese“ in das Buch aufgenommene Reportage des tschechischen Historikers Jan Novotný aus dem Jahre 2017 geschlossen, der anlässlich des politisch fragwürdigen Abrisses der Postelberger Reiterkaserne, des Tatorts des Massakers, einen durchaus kritischen Blick auf den gegenwärtigen Stand des Postelberg-Gedenkens wirft: „An dem Ort, an dem Hunderte von Sudetendeutschen vor ihrem Tod konzentriert wurden und an dem sich nach Aussagen einiger Zeugen noch immer die Gräber der Opfer befinden, werden Familienhäuser mit Gärten stehen.“ Angesichts derartiger Entwicklungen zeigt sich die besondere Bedeutung von aktiven Prozessen des „Entlügens“ der Geschichte und einer daran anknüpfenden, auf Versöhnung zielenden Erinnerungsarbeit. Dokumentationen wie diejenige von Andreas Kalckhoff können hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten und Anregung geben – nicht zuletzt auch für entsprechende Initiativen in Polen.

Tilman Asmus Fischer

Andreas Kalckhoff, Was geschah in Saaz und Postelberg im Juni 1945? Geheime Dokumente und Zeitzeugenberichte enthüllen das Unfassbare / Co se stalo v Žatci a Postoloprtech v červnu 1945? Tajné dokumenty a svědecké odhalují nesrozumitelné události, Leipzig 2022, 529 Seiten, 49,80 Euro. ISBN 978-3-00-070731-5

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 3/2023.