„Man darf seine Sicherheit niemals als selbstverständlich ansehen“

Vor 25 Jahren begann die NATO-Osterweiterung – heute erweist sie sich als überlebenswichtig für Europa

Nie mehr sollten deutsche Soldaten in solchen Staaten präsent sein, die zur Zeit des Dritten Reichs von der Wehrmacht besetzt waren. Diese sogenannte „Kohl-Doktrin“ dominierte die bundesdeutsche Verteidigungspolitik nach Ende des Kalten Krieges. Wenn diese Festlegung auch bereits im Zuge der jugoslawischen Nachfolgekriege brüchig geworden war, hat sich seither das geo- und sicherheitspolitische Lagebild noch fundamentaler gewandelt: Heute tragen deutsche Streitkräfte gemeinsam mit einst von Deutschland okkupierter Staaten gemeinsam Verantwortung für die Freiheit und den Frieden – insbesondere, aber nicht nur des östlichen – Europas.

Möglich wurde dies durch die NATO-Osterweiterungen, deren erste sich am 12. März zum 25. Male gejährt hat. Damals traten Polen, Tschechien und Ungarn dem westlichen Verteidigungsbündnis bei. Fünf Jahre später folgten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, vor 15 Jahren Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro sowie 2020 Nordmazedonien. In Prag wurde das Jubiläum mit einer Konferenz unter dem Titel „Unsere Sicherheit kann nicht als selbstverständlich angesehen werden“ begangen. In seinem Eröffnungsvortrag hob der seinerzeitige US-Präsident Bill Clinton die Bedeutung des historischen Ereignisses für das gesamte Verteidigungsbündnis ebenso hervor wie die Notwendigkeit, das Erreichte weiterzuentwickeln: „Ich denke, dass es eine gute Investition war. Es war ein gutes, vernünftiges Risiko, und es hat die NATO immens gestärkt. Und das Motto dieser Konferenz ist heute genauso wahr wie damals, vielleicht sogar noch wahrer: Man darf seine Sicherheit niemals als selbstverständlich ansehen. Wir wissen, dass wir mehr Netzwerke der Zusammenarbeit brauchen.“

Die Zusammenarbeit innerhalb der NATO schließt die Präsenz deutscher Waffenträger gerade auch im östlichen Europa ein – nicht als notwendiges Übel, sondern als Ausdruck gemeinsamer Wehrhaftigkeit. Dies gilt auch für das diesjährigen NATO-Manöver „Steadfast Defender 2024“ mit insgesamt ca. 90.000 Soldaten, mit dem Stärke und Verteidigungsbereitschaft gegenüber Russland bezeugt werden sollen. Dieses größte NATO-Manöver seit 35 Jahren und der deutsche Beitrag hierzu dokumentieren damit nicht nur ein weiteres Mal die Abkehr von der Kohl-Doktrin, sondern ebenso die Überwindung der lange grassierenden sicherheitspolitischen Naivität gegenüber dem Kreml.

Die Bundeswehr beteiligt sich mit 12.000 Soldaten, 3.000 Fahrzeugen und vier Teilübungen im Rahmen ihres Manövers „Quadriga 2024“. Dabei gehören – neben Norwegen (Übung „Grand North“) – drei der vier Zielländern zu den in den letzten 25 Jahren beigetretenen Staaten: Polen („Grand Center“), Litauen („Grand Center“ und „Grand Quadriga“) sowie Rumänien und Ungarn (beide im Rahmen von „Grand South“). Bei den Quadriga-Übungen handelt es sich um Verlegeübungen, in deren Anschluss sich die deutschen Einheiten an weiteren NATO-Übungen beteiligen.

In Polen sind dies die Übungen „Dragon“ und „Saber Strike“. Im Rahmen der vom 25. Februar bis zum 14. März mit 20.000 Soldaten abgehaltenen Übung „Dragon“ kam es am 4. März zu einem durchaus sinnfälligen Moment. Wohlgemerkt im 85. Jahr nach dem deutschen Überfall auf Polen, beteiligten sich Soldaten vom Deutsch/Britischen Pionierbrückenbataillon 130 aus dem nordrhein-westfälischen Minden an einer Überquerung der hochwasserführenden Weichsel – just an der einstigen deutsch-polnischen Grenze bei Kurzebrack (Korzeniewo) im früheren Landkreis Marienwerder. Das Dorf liegt zudem nur etwa 70 Kilometer südlich der Danziger Westerplatte, die zum Symbol des deutschen Angriffskriegs geworden ist.

Dass die Symbolträchtigkeit von Ereignis und Ort in den Medien kaum wahrgenommen wurde, mag als Indiz für das Vertrauen gelesen werden, das zwischen einstigen Weltkriegs-Gegnern wachsen konnte und heute als selbstverständlich erscheint. Dem steht in krassem Kontrast die Konfrontation Russlands mit den von ihm bis 1990 dominierten Sowjetrepubliken und Warschauer-Pakt-Staaten in einer modifizierten Fortsetzung des Ost-West-Konflikts gegenüber. Es waren nicht zuletzt die vom Kreml ausgehenden Hegemonialansprüche ihnen gegenüber, die die NATO-Osterweiterungen förderten. Wie berechtigt – ja überlebenswichtig – die Entscheidung der damaligen Beitrittskandidaten für die Mitgliedschaft war, daran gemahnt ein weiterer Jahrestag, dessen im März zu gedenken war: derjenige der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion, mit der Russland seinen heute bereits zehn Jahre währenden Krieg gegen die Ukraine eröffnete.

Wladimir Putin wiederum stellt – als konstitutives Argument seiner Kriegsrhetorik – eben die NATO-Osterweiterung als einen Vertragsbruch des Westens dar. Ihr habe man im Zuge der Verhandlungen um den Zwei-plus-vier-Vertrag eine verbindliche Absage erteilt. Neueste Untersuchungen der Historikerin Mary Elise Sarotte („Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung“, München 2023) straft diese Mär Lügen. Gegenüber der „Berliner Zeitung“ fasste Sarotte das Ergebnis ihrer Forschungen dahingehend zusammen, dass die „Vertreter Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten darauf [bestanden], dass der Abschlussvertrag zur deutschen Einheit der Nato explizit erlauben müsse, die Sicherheitsgarantie von Artikel 5 auf Ostdeutschland auszudehnen, also über die Grenzlinie des Kalten Kriegs hinaus. Der Abschlussvertrag müsse deutschen und nicht-deutschen Truppen erlauben, diese Linie ebenfalls zu überschreiten, sobald die Rote Armee abgezogen sei. Die Alliierten haben beide Ziele erreicht. Der Vertreter Moskaus unterzeichnete den Vertrag und die Sowjetunion ratifizierte ihn. Die sowjetische Führung nahm zugleich die damit verbundene finanzielle Unterstützung entgegen, die während der Verhandlungen für ihre Unterschrift und die Ratifizierung zugesagt worden war.“

Wer weiß, welche Entwicklungen die politischen Vertreter Russlands künftig werden akzeptieren müssen, sollte sich die freie Welt in ihrer aktuellen Auseinandersetzung mit dem Kreml durchsetzen. Ganz in diesem Sinne erklärte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk am 13 März in Washington: „Als wir Polen uns auf den Weg in den Westen machten, sagte Papst Johannes Paul II., dass es ohne ein unabhängiges Polen kein gerechtes Europa geben könne“. „Heute“, so Tusk, „würde ich sagen, dass es ohne ein starkes Polen kein sicheres Europa geben kann. Und natürlich würde ich auch sagen, dass es kein gerechtes Europa ohne eine freie und unabhängige Ukraine geben kann.“

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Westpreußen – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2024.

Glaube – Heimat – Verständigung

Zum Tod von Helmut Sauer

Am 10. Januar ist Helmut Sauer, langjähriger CDU-Bundestagsabgeordneter und Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen (BdV), im 79. Lebensjahr in Braunschweig verstorben. Das Licht der Welt erblickte er am Heiligabend 1945 im schlesischen Quickendorf (Kreis Frankenstein). Im April des Folgejahres wurden er und seine Familie – die Eltern und seine Schwester Renate – aus ihrer Heimat vertrieben. Dem Schulabschluss folgte eine kaufmännische Ausbildung in der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft in Salzgitter.

Insbesondere im politischen Ehrenamt blieb Sauer der Heimat seiner Familie und Geburt verbunden. Im Alter von nur 19 Jahren trat Sauer 1965 der CDU bei, deren Kreisvorsitzender er 1971 wurde. Bereits 1967 reiste er erstmals – gemeinsam mit dem Stadtjugendring Salzgitter – nach Schlesien. Dieser Reise sollten noch viele weitere in unterschiedlichen Funktionen folgen. Von den sich dabei zutragenden Begegnungen – sowohl mit Heimatverbliebenen als auch polnischen Gesprächspartnern – wusste er stets mit einer großen Begeisterung zu berichten. 1972 wurde Sauer – als zu diesem Zeitpunkt jüngster Abgeordneter – in den Deutschen Bundestag gewählt. Diesem sollte er bis 1994 angehören – 22 Jahre, in denen er sich nicht nur um die deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedler – dann Spätaussiedler –, sowie die Deutschen im östlichen Europa verdient machte, sondern ebenso um weitergehende Menschenrechtsfragen und die deutsch-polnischen Beziehungen. Über die Zeit als Parlamentarier hinaus war Sauer zudem bis 2017 Bundesvorsitzender der Ost- und Mitteldeutschen Vereinigung der CDU; das Amt hatte er seit 1989 inne.

Helmut Sauer, der 1982 zum Landesvorsitzenden der Landsmannschaft Schlesien in Niedersachsen gewählt worden war, amtierte zudem von 1984 bis 1992 und von 2000 bis 2014 als Vizepräsident des BdV. Zum Tod Sauers erklärte BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius: „Fast vier Jahrzehnte war Helmut Sauer nicht nur einer der wichtigsten Verantwortungsträger in unserem Verband, sondern auch Freund und Wegbegleiter sowie hochgeschätzter Mitstreiter in vielen unserer Anliegen.“ Sauer bleibe, so Fabritius, für alle Verantwortungsträger des BdV „in seiner Sachorientiertheit, seiner Menschlichkeit und seiner Motivation Vorbild und Antrieb zugleich“.

Zugleich erinnerte Fabritius an den engen Zusammenhang zwischen Sauers Heimatverbundenheit und seiner Religiosität: „Glaube und Heimat – so hat er es selbst immer wieder betont – waren wichtige Leitmotive seines Lebens. Im katholischen Glauben Schlesiens tief verwurzelt, hatte er sich eine gesunde Volksfrömmigkeit bewahrt.“ Eine zentrale Rolle kam dabei dem aus der mütterlichen Verwandtschaft stammenden katholischen Priester und Reichstagsabgeordneten der Zentrumspartei Carl Ulitzka zu, der ebenso in der Weimarer Republik für die Demokratie eintrat, wie er sich in der Zeit des Dritten Reichs gegen die nationalsozialistische Rassen- und Kirchenpolitik stellte. Man darf in Ulitzka wohl nicht umsonst ein Vorbild nicht nur für die dezidiert christliche, sondern zudem tiefst proeuropäische Orientierung Sauers sehen.

Der diesem Erbe entsprechende gesellschaftliche und politische Einsatz Sauers wurde auf vielfältige Weise gewürdigt: mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ebenso wie mit dem Schlesier-Kreuz der Landsmannschaft Schlesien sowie der Verdienstmedaille des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen. Mit der – aus tiefster Überzeugung erwachsenen – Verbindung von Heimatverbundenheit und Passion für die Völkerverständigung hat Helmut Sauer die Vertriebenen- sowie die deutsch-polnische Partnerschaftspolitik nachhaltig geprägt. Hier wie jenseits von Oder und Neiße wird man ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Westpreußen – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2024.

Erinnerung an einen Völkermord

Eine Installation der namibischen Künstlerin Isabel Tueumuna Katjavivi im Museum Neukölln

Tilman A. Fischer

Roter Sand bedeckt den Boden des Ausstellungsraumes im Museum Neukölln. Zum Teil verdeckt er die tönernen Gesichter, die aus ihm herausragen. Die Masken stehen sinnbildlich für die über 65.000 Todesopfer des ersten Völkermords des 20. Jahrhunderts: begangen 1904 bis 1908 durch das Deutsche Reich im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Geschaffen wurde die Installation „They Tried to Bury Us“ (dt. „Sie versuchten, uns zu begraben“) von Isabel Tueumuna Katjavivi.

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Erschienen in: Berliner Zeitung, Nr. 84, Donnerstag, 11. April 2024, Seite 11.

Zerreißproben

Eine Ausstellung ergründet die Gewaltgeschichte der Weimarer Republik

Tilman A. Fischer

„Am Anfang war Gewalt“ – unter diesen prägnanten Titel hatte 2017 der irische Historiker Mark Jones sein viel beachtetes Buch über die Gründungsgewalt gestellt, die den Übergang vom Kaiserreich zur ersten deutschen Demokratie begleitete. Hatte sich Jones in seiner Detailstudie der Monate um die Jahreswende 1918/1919 angenommen, bietet eine Sonderausstellung im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors nun Einblicke in die Gewaltgeschichte der ersten fünf Jahre der Weimarer Republik.

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In gekürzter Form erschienen in: Berliner Zeitung, Nr. 81, Montag, 8. April 2024, Seite 12 (Langfassung auf berliner-zeitung.de).

Katholische Selbstexegese

Die Autorin Felicitas Hoppe erhielt den Berliner Literaturpreis für ihre „Sprachkunst“, die „federleichten Humor mit tiefstem Ernst“ verbindet

Von Tilman A. Fischer

„Ich komme aus einer katholischen Familie von Tag- und Nachtträumern, von schlesischen Vielrednern auf der Flucht, die auch ihre Träume einander nicht vorenthielten; Träume, von denen ich bis heute nicht weiß, ob sie wahr oder erfunden waren, sofern man überhaupt von erfundenen Träumen sprechen kann. Denn wo, wenn nicht im Traum, sind wir der Wahrheit am nächsten?“ Mit diesen Worten stellt sich die 1960 in der katholischen Diaspora in Hameln geborene Schriftstellerin Felicitas Hoppe in ihrem Essay „Das aufgespannte Ohr Gottes“ ihren Lesern vor. Seit Erscheinen der ersten Sammlung von Geschichten Hoppes unter dem Titel „Picknick der Friseure“ 1996 ist sie aus dem deutschen Literaturbetrieb nicht mehr wegzudenken – ganz unabhängig davon, dass sie sich immer wieder aus der hiesigen Betriebsamkeit zurückzieht: in ihre Schweizer Einsiedelei oder 1997 gleich auf ein Frachtschiff, auf dem sie rund um die Welt fuhr.

In den zurückliegenden fast 30 Jahren hat Hoppe eine derartige Prägekraft entwickelt, dass ihr – nachdem sie bereits 2012 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde – heuer der Berliner Literaturpreis zuerkannt wurde, mit dem die Stiftung Preußische Seehandlung dezidiert Schriftsteller ehrt, „deren bisheriges literarisches Schaffen einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur geleistet hat“. Dies begründet die Jury mit Hoppes „Sprachkunst“, die „federleichten Humor mit tiefstem Ernst“ verbinde, „wilde Fabulierlust mit scheuem Interesse an einer Welt, die es mit den Menschen häufig nicht gut meint. Am Zustand der Wirklichkeit kann auch Felicitas Hoppes erfindungsreicher Realismus nichts ändern. Der Zauber ihrer Erzählungen aber liegt darin, dass sie uns mit dem Schwung ihrer Texte, dem Takt ihrer Sprache und der Energie ihrer Worte dazu ermuntert, den Mut und die Zuversicht nicht zu verlieren.“

Hierzu schöpft Felicitas Hoppe nicht zuletzt aus den reichen Beständen der christlichen – und bewusst auch katholischen – Tradition, der sie gleichfalls in der ihr typischen Verbindung aus ‚federleichtem Humor‘ und ‚tiefstem Ernst‘ begegnet. Das zeigt sich neben zahlreichen Auseinandersetzungen mit biblischen Stoffen vielleicht vor allem im Umgang mit den ihr besonders lieben Heiligen: Christophorus und noch mehr der Jungfrau von Orléans, der sie 2006 den Roman „Johanna“ widmete. Im Modus literarischen Schreibens vermag Hoppe immer wieder die Grenzen theologischer Orthodoxie zu überschreiten. Dies tut sie jedoch in einer großen Ernsthaftigkeit, insofern diesen Grenzüberschreitungen nichts Blasphemisches anhaftet. Vielmehr bezeugen sie das Bewusstsein sowohl für das Potenzial christlicher Glaubens- und Bildwelten zur Selbst- und Lebensdeutung als auch für die hohe Verantwortung des Schriftstellers im Umgang mit ihnen.

Dabei ist der Rückgriff auf einen christlichen Deutungshorizont kein beliebiger, sondern gründet in biographischen Erfahrungen, auf die Hoppe selbst immer wieder verweist, etwa wenn es um prägende erste Begegnungen mit der Heiligen Schrift geht: „Unsere Mutter las vor, wir zeichneten mit, während unser Vater für das Kaspertheater zuständig war, in dem Texte und Bilder in Szene gesetzt wurden“. Solche Erinnerungen sind nicht akzidentell, sondern entscheidend für Hoppes Zugriff sowohl auf Literatur als auch Religion, denn ihre „ersten Erinnerungen an die Bibel“ sind „eine unmittelbare, intuitive und unzensierte Umsetzung vom Wort in die Zeichnung, also wahrhaft phantastisch, was, der bildungssprachlichen Definition aus dem Duden folgend, bedeutet: ‚Von Illusionen, unerfüllbaren Wunschbildern, oft unklaren Vorstellungen oder Gedanken beherrscht, außerhalb der Wirklichkeit oder im Widerspruch zu ihr stehend‘; die Umgangssprache dagegen kommt den Tatsachen näher, wenn sie das Phantastische mit ‚großartig, begeisternd, unglaublich und ungeheuerlich‘ übersetzt. Von diesen großartigen, begeisternden, unglaublichen und ungeheuerlichen Geschichten ernähre ich mich in meinem Umgang mit Religion und Literatur bis heute.“

So intensiv wie bei nur wenigen anderen zeitgenössischen Schriftstellern bestätigt sich im Werk von Felicitas Hoppe somit die Beobachtung des Literaturwissenschaftlers Thomas Pittrof zum ‚Katholischen‘ in der Gegenwartsliteratur – die grundsätzlich auch für das ‚Christliche‘ in der Gegenwartsliteratur Geltung beanspruchen kann: „Vor allem in autobiographischen Zeugnissen wird das Katholische wieder erinnert, auch an überraschender Stelle, ohne dass es damit eigentlich immer bewahrt und weitergetragen werden wollte; aber als prägender Faktor des eigenen Lebensgangs ist es in wenngleich unterschiedlicher Intensität doch gegenwärtig“. Damit stehe dem „Prägnanzverlust eines ungebrochen katholischen Weltbildes“ ein „Prägnanzgewinn lebensweltlich dichter Milieubeschreibungen gegenüber, bei denen neben den belastenden Erfahrungen mit Religion im Umfeld einer katholischen Kindheit und Jugend auch deren entlastende und bereichernde Dimensionen zur Sprache kommen“. Als Beispiel für letzte Beobachtung mag Hoppen bereits eingangs zitierter Essay gelten, in dem sie sich mit ihrem eigenen Beichtgang vor der Frühkommunion auseinandersetzt.

Hoppes Werke sind insofern zugleich große Literatur und Gesprächspartner zur Fragen nach der gelebten Religion in der Gegenwart; dabei seien beide Merkmale als einander bedingend verstanden. In ihrem Œuvre verbindet sich – wie der Religionsphilosoph Thomas Brose in seinem Essay zu einem Sammelband von Texten Hoppes betont – das „Lebensweltlich-Katholische […] mit dem Hang zur Selbstexegese“ sowie einem „Spieltrieb“, der auch vor biblischen wie christentumsgeschichtlichen und theologischen Motiven nicht Halt macht.  Insofern lädt die Auseinandersetzung mit Hoppe zu Reflexionen über theologisch relevante Prozesse der Selbstdeutung im Modus der Literatur ein und eröffnet ferner (teils überraschende und gerade dann) anregende Perspektiven auf die christlichen Traditionsbestände.

Leser und Autor sind für Hoppe auf Religion und Literatur angewiesen, um sich selbst verstehen zu können und Lebenszuversicht zu gewinnen. Nicht umsonst stellt sie ihrem jüngsten Roman „Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm“ (2022) als Motto voran: „Nur Helden fürchten sich nie, deshalb schreiben sie keine Bücher“. Welch ein Glück für uns, ihre Leser, dass Felicitas Hoppe keine Heldin ist und folglich Bücher schreibt!

Zum Weiterlesen (von Felicitas Hoppe):
Gedankenspiele über die Sehnsucht, Graz 2022; 48 Seiten, ISBN 9783990591093, € 12,00.
Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm, Frankfurt a.M. 2021; 256 Seiten, ISBN 9783100324580, € 22,00.
Fährmann, hol über! Oder wie man das Johannesevangelium pfeift. Mit einem Essay von Thomas Brose, Freiburg i.Br. 2021; 160 Seiten, ISBN 9783451390388, € 18,00. (Enthält u. a. „Das aufgespannte Ohr Gottes“.)

In ähnlicher Form und unter anderem Titel erschienen am 14. März 2024 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Rheinische Erlösung

Vor 65 Jahren erschien Zuckmayers „Fastnachtsbeichte“

Von Tilman Asmus Fischer

Ferdinand Bäumler, ein desertierter Fremdenlegionär, ist zur Jahreswende 1912/1913 auf dem Weg über Italien ins heimische Rheinland, wo er einst als unehelicher Sohn des reichen Panezza und der Hilfsmagd Bäumler geboren wurde. In Sizilien kehrt er – unter der Vortäuschung, sein Halbbruder Jeanmarie zu sein – bei der vermögenden italienischen Verwandtschaft ein, verlobt sich mit seiner Cousine Viola, um kurzerhand gen Mainz zu verschwinden, nicht ohne zuvor den wertvollen Familienschmuck an sich genommen zu haben. Viola reist ihm verstört hinterher, wiederum begleitet von ihrem Halbbruder Lolfo, seinerseits das Kind aus einer Affäre des gemeinsamen Vaters mit einem Dorfmädchen. In Mainz angekommen erkennt Lolfo den Betrüger wieder, den er vor dem Dom ermordet, in dessen Beichtstuhl der Sterbende zusammenbricht.

An dieser Stelle beginnt die eigentliche Handlung der „Fastnachtsbeichte“ von Carl Zuckmayer. 1959 erschienen und vom Dichter im Mainz seiner eigenen Jugendzeit lokalisiert, ist die Erzählung ein Stück Literatur, das auch nach 65 Jahren nicht an Bedeutung verloren hat, da sie – mehr als nur eine Kriminalgeschichte, die sich vom Tode Ferdinands aus entspinnt – in zeitloser Weise vom Wesen des Menschen und seiner Erlösungsbedürftigkeit spricht. Dies geschieht zum einen in einer karnevalesken Szenerie – die erzählte Zeit reicht vom Fastnachtssamstag bis zum frühen Morgen des Aschermittwoch 1913 –, zum anderen gerahmt und durchzogen vom Moment der Beichte: derjenigen Ferdinands, derjenigen des alten Panezza und derjenigen Violas. Damit bringt Zuckmayer zwei idealtypische Orte – den des Maskenspiels und den der schonungslosen Selbsterkenntnis – in eine produktive Spannung.

Dabei haben wir es in der „Fastnachtsbeichte“ mit einem Maskenspiel auf mehreren Ebenen zu tun. Denn da ist nicht nur auf der Oberfläche das karnevalistische Brauchtum, das – wo recht verstanden – Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach einer Überschreitung, also gewissermaßen einer Transzendierung, der Wirklichkeit ist. Und genau besehen beginnt es auch nicht erst bei dem bereits deutlich problematischeren, da mit betrügerischer Intention geschehenen, Rollenspiel Ferdinands, das den Anlass für die Handlung der Erzählung gibt. Dessen Ursachen liegen bereits in einem Maskenspiel, nämlich dem des alten Panezza, der seinem unehelichen Sohn wirkliche Anerkennung verwehrt und ihn damit letztlich in das prekäre Dasein als Fremdenlegionär treibt, nur um unbeschadet weiter die eigene soziale Rolle als Mitglied der lokalen Honoratiorenschaft spielen zu können.

Dem Maskenspiel im wörtlichen wie metaphorischen Sinne steht der Beichtstuhl bzw. das Beichtgespräch gegenüber, das „aufgespannte Ohr Gottes“, so die Schriftstellerin Felicitas Hoppe: nicht nur ein „Ort der Barmherzigkeit“, sondern auch ein solcher, „für das eigene Leben Wörter zu finden“. Hier – bei Zuckmayer im Gegenüber zum Domkapitular Dr. Henrici – wird der Mensch seiner selbst in seiner Fragmentarität ansichtig: „Ich armer sündiger Mensch“ sind die einzigen Worte, die Ferdinand im Beichtstuhl noch sprechen kann, und im Rückblick ist es Henrici, „als hätte er ihm damit sein Letztes und Geheimstes offenbart und sich ihm ganz anvertraut – sich und alle seine Brüder“. Narrativ ausgestalteter sind die beiden anderen Beichten.

Zu einer solchen wird das Gespräch Henricis mit Panezza, obwohl dieser bittet, dass „es ohne die religiöse Formel geschieht“, weil es ihm eben doch „um eine Gewissensfrage“ geht, „von der meine ganze Existenz abhängt“. Hier bietet der Erzähler einen Dialog, in dem die menschliche Person in einer inneren Spannung sichtbar wird, die bereits im griechischen „prosopon“ anklingt, dessen Bedeutung zwischen Angesicht und Maske changiert. So fragt Panezza, der sinnhafterweise den Prinzen Karneval der Kampagne 1913 mimt: „Kann ich noch weiterhin den Ehrenmann spielen, den Repräsentanten einer moralisch unantastbaren Gesellschaft, den Fürsten des lokalen Frohsinns, den König der Volksfeste, der erlaubten und honorigen Lustbarkeit – mit einem solchen Brandgeschwür am Leib?“

Bei Violas Beichte liegt die theologische Pointe wiederum darin, dass sie auf einen von Jürgen Habermas identifizierten „Verlust“ infolge einer „säkularen Sprache“ aufmerksam macht, die ohne „geglückte Übersetzungen“ religiöser Gehalte auskommen will: „Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“ Während auf der Ebene der Kriminalgeschichte der Fall geklärt ist, indem Lolfo – inzwischen selbst auf tragische wie brutale Weise ums Leben gekommen – als Schuldiger identifiziert wurde, liegt Violas dringend benötigtes Geständnis auf einer tieferen Ebene: „Ich habe ihn nicht getötet […] aber ich habe es gewollt!“ Sie kann bekennen, dieses Wollen niemals Lolfo bekundet zu haben: „,Mit keinem Wort‘, sagte Viola, ,mit keiner Silbe. Aber – ich habe es gedacht.‘ Gedacht – ging es Henrici durch den Sinn, während er versuchte, mit den Worten seines Glaubens ihr Zuspruch und Trost zu geben – gedacht – Wurzel aller Schuld…“

Zuckmayer zeichnet den Menschen coram Deo als Person – zwischen Angesicht und Maske: gezwungen, in der unerlösten Welt, im menschlichen Miteinander Rollen zu spielen, Masken zu tragen, begabt, im Maskenspiel ebendiese Wirklichkeit zu überschreiten; in beidem aber stets gefährdet, die Maske zu missbrauchen, sein Selbst, sein Angesicht vor sich selbst, vor dem Mitmenschen und vor Gott, zu beschädigen. Und eben damit: immer wieder bedürftig der Beichte, dem „Ort, für das eigene Leben Wörter zu finden“, der dann zum „Ort der Barmherzigkeit“ und der Umkehr werden kann.

Erschienen am 8. Februar 2024 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Antikoloniales im Berlin der Zwanziger

Eine Ausstellung der Villa Oppenheim

Tilman A. Fischer

Seit 2017 prägt die Netflix-Serie „Babylon Berlin“ wie kaum ein anderes Produkt der Populärkultur das Bild der deutschen Hauptstadt in den goldenen Zwanzigern. Dieses Bild freilich ist erstaunlich weiß, stellt man in Rechnung, dass Berlin schon damals eine von globaler Mobilität geprägte Weltstadt war und die Kapitale eines Landes, in dem Menschen lebten, die aus dessen gerade erst abgetretenen Kolonialgebieten stammten.

Dies mag an Leerstellen im kollektiven Gedächtnis erinnern, wie sie immer wieder – und zuletzt mit zunehmender Vehemenz – problematisiert werden. Einen wichtigen Beitrag dazu, diese Lücken zu schließen, leistet die Ausstellung „Solidarisiert euch! Schwarzer Widerstand und globaler Antikolonialismus in Berlin, 1919–1933“ im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim.

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Erschienen in: Berliner Zeitung, Nr. 37, Dienstag, 13. Februar 2024, Seite 11.

Religion und Mission in Taiwan

Zwischen Himmel und Meer: Eine Anthologie taiwanischer Literaturen erhellt die Rezeption des Christentums

Von Tilman Asmus Fischer

Die Präsidentschaftswahlen am 13. Januar lenken neuerlich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Taiwan – insbesondere aufgrund ihrer Implikationen für die globalen Spannungen zwischen den USA und der Volksrepublik China, der die Republik China (so der offizielle Name Taiwans) als ‚abtrünnige Provinz‘ gilt und die freiheitliche Demokratie auf der Insel ein Dorn im Auge ist. So gut und wichtig jede Aufmerksamkeit ist, die die bedrohte Lage Taiwans in der westlichen Welt findet: die Fokussierung auf die sicherheitspolitische Lage zeitigt die Nebenwirkung, dass Taiwan vor allem als geopolitische Größe in den Blick gerät. Reichtum und Vielfalt seines kulturellen Erbes geraten dabei weitestgehend aus dem Sichtfeld. Umso erfreulicher ist es, dass der Sinologe und Taiwanologe Thilo Diefenbach mit „Zwischen Himmel und Meer“ eine spannende „Anthologie taiwanischer Literaturen“ vorgelegt hat – und diese Ende 2023 auch noch mit dem renommierten Johann‐Friedrich‐von‐Cotta‐Übersetzungspreis der Landeshauptstadt Stuttgart ausgezeichnet wurde.

Zur kulturellen Vielfalt Taiwans – die Diefenbach von mündlichen Überlieferungen bis in der Gegenwartsprosa nachvollzieht – gehört auch diejenige der Religionen. Dabei kommt dem Christentum eine zwar zahlenmäßig geringe, jedoch historisch wie gegenwärtig eigenständige Bedeutung zu. Hiervon legte im Übrigen der Weltgebetstag 2023, dessen Gastgeberland Taiwan war, ein lebendiges Zeugnis ab. Und auch in Diefenbachs Anthologie ist das Christentum in einzelnen Texten präsent. Anhand von vier in diesem Zusammenhang besonders markanten Beiträge, die sämtlich aus dem 20. Jahrhundert stammen, sei hier die für den Zugriff Diefenbachs auf die taiwanischen Literaturen typische Perspektivenvielfalt nachvollzogen.

Sakura Magozo veröffentlichte 1903 als – dem klassischen Sinitisch mächtiger – japanischer Kolonialbeamter seine „Notizen über den Alltag in Taiwan“, aus denen Diefenbach den Auszug „Das Christentum in Taiwan“ auswählt. Interessant sind die kurzen Ausführungen weniger aufgrund der – wie Diefenbach in seinem Kommentar zeigt, vielfach fehlerhaften – Angaben zur Taiwanischen Missionsgeschichte, sondern als Zeugnis eines sich dem kolonialem Blickwinkel verschuldenden funktionalen Religionsverständnisses, das in Christentum und Buddhismus Instrumente zur „Volkserziehung“ erblickt. Einen Eindruck von der literarischen Rezeption der christlichen Religion in Taiwan vermitteln in je eigener Weise das anonym verfasste Gedichte „Ins Nichts“, das 1909 in den „Kirchennachrichten von Tainan“ erschien, sowie die Erzählung „Der Schamanin letzter Tag“ Topas Tamapima aus dem Jahre 1992.

Das Gedicht ist dabei sowohl von seinem Inhalt als auch von seiner textlichen Beschaffenheit her bedeutsam. In erster Hinsicht, insofern die in ihm vorgenommene Thematisierung der Nichtigkeit menschlichen Strebens eine markante Nähe zu alttestamentlichen Weisheitsliteratur aufweist und deren Einsichten religionsproduktiv fruchtbar macht. In zweiter Hinsicht, insofern das Gedicht in Pe̍h-ōe-jī überliefert ist, einem von Missionaren entwickelten lateinischen Umschriftsystems, das in diesem Fall auf das Taiwanesische Anwendung fand. Dieses ist eine vom Mandarin unterschiedene chinesische Sprache, die – neben den Sprachen der Ureinwohner – traditionell in Taiwan gesprochen wird. Damit ist das Gedicht ein Dokument der Wertschätzung, die gerade christliche Kirchen und Missionare den vielfältigen Sprachen der Insel entgegenbrachten. In der Zeit des „Weißen Terrors“ der Kuomintang (KMT), die die Republik China auf Taiwan von 1949 bis 1987 mit Kriegsrecht führte, sollte sich dies als wichtig erweisen: Während die Regierung (unterstützt von Vertretern der methodistischen Kirche, der Langzeit-Präsident Chiang Kai-shek angehörte) eine brutale Sinisierungspolitik durchführte und alles Nicht-Chinesische unterdrückte, waren es insbesondere einzelne Missionare und Kirchen, die sich für die Bewahrung der autochthonen Sprachen einsetzten.

Von der Präsenz der christlichen Religion gerade unter den indigenen Völkern Taiwans vermag sodann auch die Erzählung Tamapimas zu zeugen. Der Sohn einer christlichen Familie aus dem Volk der Bunun setzt seiner Protagonistin als Gegenspieler einen mit feinem – von Sympathie getragenen – Humor gezeichneten Priester gegenüber. Aus der engen Beziehung vieler Kirchen gerade zu den – von der KMT unterdrückten – autochthonen Bürgern Taiwans ergab sich nicht zuletzt eine intensive Verbindung zwischen christlichen Milieus und der Oppositionsbewegung. Und so mag es nicht Wunder tun, dass das systemkritische Gedicht „Friedenstheater“ (1968) mit Tu-P’an Fang-ko gerade von einer dezidiert christlichen Schriftstellerin Feministin verfasst wurde.

Anhand der hier exemplarisch ins Licht gesetzten Beiträge ist nicht nur Religion – von der hier mit dem Christentum nur ein kleiner Ausschnitt gewählt ist – als ein zentrales Thema der taiwanischen Literaturen markiert. Vielmehr dürfte ein weit darüber hinausgehendes zentrales Thema Diefenbachs angeklungen sei: das sich in der Literatur spiegelnde Ringen um eine eigenständige taiwanische Identität in der Pluralität der kulturellen Einflüsse und Sprachen, die die Insel prägten und prägen. Dies – in der Breite der Literaturgeschichte – nachvollzogen zu haben ist in Zeiten, in denen die Eigenständigkeit Taiwans ins gefährlicher Weise in Frage gestellt wird, von nicht zu unterschätzendem Wert.

Thilo Diefenbach (Hrsg.), Zwischen Himmel und Meer. Eine Anthologie taiwanischer Literaturen, München 2022. ISBN 978-3-86205-559-3, 548 Seiten, geb., 11 farbige Abb., EUR 48,–

Erschienen am 11. Januar 2024 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Eine Chance für Bildung und Verständigung

Die Union Evangelischen Kirchen plant die Rückkehr eines Kunstschatzes nach Danzig. Ein Gastkommentar

Von Tilman A. Fischer

Bereits seit Jahrzehnten zeigt das Lübecker Annen-Museum wechselnde Einzelstücke aus dem Danziger Paramentenschatz – kunsthistorisch bedeutende liturgische Gewänder aus vorreformatorischer Zeit, die sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Besitz der evangelischen Marienkirchengemeinde in Danzig befunden hatten. Deren letzter Pfarrer, Gerhard Gülzow, rettete die kostbaren Textilien vor der Kriegszerstörung. Deren einer Teil landete in Thüringen, von wo er bereits kurz nach dem Krieg nach Danzig verbracht wurde – freilich nicht in die Marienkirche, sondern rechtswidrig in den staatlichen Besitz des Nationalmuseums Danzig. Der andere Teil gelangte – ebenso wie übrigens viele vertriebene Danziger – nach Lübeck. Hier wird er im Annen-Museum als Leihgabe der Union Evangelischer Kirchen (UEK), der Rechtsnachfolgerin der Danziger Gemeinde, öffentlich präsentiert – ebenso wie Einzelstücke im Germanische Nationalmuseum in Nürnberg.

Am 8. Dezember 2022 teilte die UEK über eine Pressemitteilung mit, sich mit der heute katholischen Marienkirchengemeinde in Danzig in einem „Letter of Intent“ auf eine Rückkehr der Paramente an ihren Herkunftsort und in das Eigentum der katholischen Gemeinde verständigt zu haben – unter der Auflage einer adäquaten Präsentation sowie konservatorischen Betreuung und bei fortgesetzter Präsenz von Einzelstücken als Leihgaben in Lübeck und Nürnberg. Diese Entscheidung bietet eine große Bildungschance: Am historischen Ort kann ausgehend von dem Paramentenschatz die Bedeutung des gemeinsamen deutsch-polnischen Kulturerbes – sowie die gemeinsame bzw. geteilte Geschichte beider Nationen – der Öffentlichkeit sichtbar gemacht und erschlossen werden.

Überrascht von der Entscheidung wurden im vergangenen Jahr die noch lebenden Vertriebenen aus Danzig und dessen Umland – dem früheren Westpreußen – sowie ihre historisch interessierten Nachfahren, die von dieser Vereinbarung erst durch die Presse erfuhren. Umso erfreulicher war es, dass die UEK ein Jahr später, am 8. Dezember 2023, die Öffentlichkeit zu einer Informations- und Diskussionsveranstaltung ins Haus Hansestadt Danzig in Lübeck eingeladen hat. Hier kamen neben Mitgliedern des deutsch-polnischen Beirats, der die Rückkehr der Paramente begleitet, auch Vertreter der Vertriebenen und ihrer Nachfahren zu Wort. Aus deren Reihen wurden kritische Anfragen – teils auch eine klare Ablehnung des Vorhabens –, jedoch auch weiterführende Vorschläge formuliert wie die Schaffung einer europäischen Institution, die für Bewahrung und Präsentation der Paramente in Danzig verantwortlich sein solle.

Erfreulich klar bekannten sich sowohl der Prälat der Marienkirche, Ireneusz Bradtke, als auch der Danziger Kunsthistoriker Tomasz Torbus zur gemeinsamen deutsch-polnischen – mithin europäischen – Prägung der kulturellen Identität Danzigs. Der von deutscher Seite her den Beirat koordinierende Oberkirchenrat Martin Evang betonte in seinem Statement, dass die UEK seit jeher wiederholt erhobene Eigentumsansprüche des polnischen Staates auf Sakralkunst evangelischer Gemeinden aus den früheren, heute zu Polen gehörenden, Kirchenprovinzen stets abgelehnt habe. Die anvisierte Schenkung erfolge aus voller Freiheit – dies werde auch durch den zu unterzeichnenden Schenkungsvertrag nochmals festgeschrieben.

Der Autor dieses Beitrags selbst würdigte als Vertreter der Westpreußischen Gesellschaft die beabsichtigte Rückkehr der Paramente als Beitrag sowohl der deutsch-polnischen Verständigung im obigen Sinne als auch als einen solchen der Ökumene. Der Gesichtspunkt, dass die UEK ihr rechtmäßiges Eigentum aus freiem Willen schenke, sei dabei insofern bedeutsam, als diese Klarstellung davor bewahre, die Schenkung mit gegenwärtigen Diskurse um die Restitution von Raubkunst zu vermischen.

Zu hoffen ist, dass die Einbindung der Vertriebenen und ihrer Nachfahren auf dem weiteren Weg hin zur Rückkehr der Paramente fortgesetzt wird. Eine solche Einbindung ist theologisch gut begründet: zum einen als Ausdruck der seelsorgerlichen Verantwortung gegenüber den betroffenen Mitgliedern der UEK-Gliedkirchen, zum anderen vom Selbstverständnis einer Kirche her, die sich als zivilgesellschaftlicher Akteur im Austausch mit anderen Kräften der Zivilgesellschaft versteht. Sollte dem Rechnung getragen werden, besteht Aussicht, dass die Rückkehr der Paramente tatsächlich zu Verständigung und Versöhnung beiträgt.

Tilman Asmus Fischer ist Vorstandsbeauftragter der Westpreußischen Gesellschaft – Landsmannschaft Westpreußen e.V. Der evangelische Theologe ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig.

Unter ähnlichem Titel erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 2/2024. Eine Kurzfassung erschien in: Evangelisch Zeitung (Schleswig Holstein) 2/2024.

Stein gewordene Erinnerung

Westpreußische Denkmäler nach dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft – eine Spurensuche

„Und Jakob nahm einen Stein und richtete ihn auf als Denkmal.“ (Gen 31,45) Bereits das Alte Testament bezeugt das urmenschliche Bedürfnis, existenziellen Erlebnissen und Erfahrungen sichtbaren und dauerhaften Ausdruck zu verleihen, sie durch das Errichten von Gedenksteinen – später Denkmälern – in das Gesicht der Landschaft einzuschreiben. Im Moment erleben wir vielfältige Debatten um die symbolische Gestaltung des öffentlichen Raums in Form von Straßennamen oder Denkmälern. Solche Diskussionen, wie wir sie in freiheitlichen Demokratien führen, waren und sind in autoritären Systemen nicht möglich. In ihnen ist der öffentliche Raum den Narrativen der politischen Führung unterworfen. Dies galt auch für die Volksrepublik Polen – mit der Folge, dass in den historischen deutschen Ostgebieten Erinnerungen an die früheren Bewohner eliminiert, die verbliebene deutsche Bevölkerung mangels der Möglichkeit politischer Artikulation von der Gestaltung des öffentlichen Raums ausgeschlossen und ein sichtbares Gedenken an deutsche Kriegsopfer per se tabuisiert war.

Mit dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft fand nicht nur eine Demokratisierung des politischen Systems, sondern ebenso eine solche der Erinnerungskultur und des öffentlichen Raums statt. Bisher unterdrückte Positionen hatten die Möglichkeit, sich zu artikulieren. Was bedeutet dies für die Denkmal-Landschaft einer Region? Dies sei im Folgenden für das Land an der unteren Weichsel nachvollzogen. Hier kam es seit 1990 zu vielfältigen Initiativen, das deutsche Erbe als Teil gemeinsamer deutsch-polnischer Geschichte sowie das Schicksal der deutschen Vertreibungsopfer öffentlich bewusst zu machen. Initiatoren waren sowohl Angehörige der deutschen Volksgruppe und Heimatvertriebene als auch Kirchengemeinden oder weitere zivilgesellschaftliche und kommunale Akteure. Welche historischen Phänomene werden mit den von ihnen errichteten Denkmälern auf welche Weise thematisch? Und welche gestalterischen Akzente setzen die unterschiedlichen Denkmäler?

Für eine Spurensuche bietet sich der von Gisela Borchers erstellte und 2013 von der Landsmannschaft Westpreußen herausgegebene Katalog „Erinnerungsstätten in Westpreußen“ als Ausgangspunkt an. Auch wenn diese Zusammenschau – schon ob der Tatsache, dass sie vor zehn Jahren erschienen ist – keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, vermag sie doch eine grundlegende Orientierung zu geben über die Entwicklungen der westpreußischen Denkmal-Landschaft nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Versucht man, aus den zusammengetragenen 134 Erinnerungsstätten eine Typologie westpreußischer Denkmäler zu entwickeln, ergeben sich auf den ersten Blick zwei große Kategorien: Es sind dies zunächst Denkmäler, die sich auf die Geschichte der Region vor Flucht und Vertreibung beziehen, und sodann solche, die ebendiese im Rahmen des Zweiten Weltkriegs thematisieren.

Verschwundene Friedhöfe

Die bedeutendste Gruppe der auf die Geschichte Westpreußens bezogenen Denkmäler bilden Gedenksteine und Erinnerungstafeln für frühere städtische sowie evangelische, katholische, mennonitische und jüdische Friedhöfe (im Einzelfall auch von Familiengräbern) bzw. zur Erinnerung an die deutsche Vorgeschichte von Friedhöfen, die heute noch bestehen. Diese Dominanz verwundert nicht – stellt das Grabmal selbst bereits eine der ältesten und in unterschiedlichen Kulturen verbreitete Form des Denkmals und des Personengedächtnisses dar. Die an zerstörte Friedhöfe erinnernden Gedenksteine greifen naheliegenderweise die Form von Grabsteinen auf – in der Regel dürften sie wohl auch von ortsansässigen Steinmetzen gefertigt worden sein. Dies gilt auch für die Gestaltung von Gedenksteinen, die – wie in Graudenz oder Marienburg – an mehrere Friedhöfe einer Gebietskörperschaft oder im ländlichen Raum vielfach an sämtliche Friedhöfe eines Kirchspiels erinnern. Dementsprechend wurde auch von der Deutschen Minderheit auf dem Garnisonsfriedhof am Hagelsberg ein Gedenkstein errichtet, und zwar im Jahre  2001, d.h. nur ein Jahr bevor der seitens der Stadt geschaffene „Friedhof der nicht existierenden Friedhöfe“ entstand. Dieser stellt – so die offizielle Interpretation durch die Stadt Danzig – eine „Form der Wiedergutmachung für die Verwüstung und Auflösung der ehemaligen Danziger Friedhöfe nach dem Krieg“ dar, „eine Form der Erinnerung an alle die, die keine Gräber bzw. keinen Grabstein mehr haben“ – wobei dezidiert die religiöse Dimension des Totengedächtnisses akzentuiert wird:

„Neben den sich dort befindlichen original Grabplatten von aufgelösten Friedhöfen, befindet sich dort an zentraler Stelle ein ‚Altar‘ mit der Inschrift ‚Denen, die keine Namen haben‘. Er ragt aus den Trümmern zerbrochener Grabplatten empor, die Embleme verschiedener, im alten (wie auch im heutigen) Danzig vertretener Religionsgemeinschaften tragen.“ (gdansk.pl)

Die Gestaltung des „Altars“ verwendet dabei eine spezifische Motivik, die nicht nur der Bruchstückhaftigkeit des sie umgebenden Lapidariums entspricht, sondern die sich zugleich als theologische Aussage über den unvollständig-fragmentarischen Charakter der menschlichen Existenz lesen lässt. Kann dieses Moment als anthropologische Konstante in der Lebensgeschichte und Identität jedes Menschen aufgefunden werden, so tritt sie doch in den Schicksalen, die sich mit Krieg und Vertreibung verbinden, in besonderer Weise hervor. Insofern funktioniert das Denkmal nicht nur als Verweis auf die verlorenen Friedhöfe, sondern eröffnet zugleich eine Bildsprache, die von den Angehörigen der dort Bestatteten zu Erfahrungen aus der eigenen Lebens- oder Familiengeschichte in Beziehung gesetzt werden kann. Auch in Elbing wurden überkommene Grabsteine zerstörter Friedhöfe in vergleichbarer Weise in einem Lapidarium zusammengetragen.

Anwesenheit des Abwesenden

Von den der (zumeist christlich konnotierten) Sepulkralkultur eng verbundenen Erinnerungsformen an verschwundene Friedhöfe und die dort Begrabenen lassen sich Linien ziehen zu den weiteren Typen von Denkmälern, die wir hier betrachten wollen. Dies betrifft zum einen das Bedürfnis, an nicht mehr existente historische Gebäude und die mit ihnen verbundenen Menschen zu erinnern. Auch hier werden zumeist Gedenksteine aufgestellt, um auf Abwesendes zu verweisen, es in der Betonung seiner Abwesenheit wieder anwesend zu machen. Auffällig ist, dass es sich hierbei vor allem um Kirchen handelt und somit, wie bei den Friedhöfen, abermals um religiöse Erinnerungsorte; im Falle der Kirchen um solche, mit denen sich nicht nur die Feste des Jahreskreises bzw. Kirchenjahres, sondern ebenso biographische Passagenriten (Taufe, Kommunion bzw. Konfirmation, Trauung und ggf. Trauerfeiern) verbinden. Ästhetisch interessant ist die Gestaltung eines Gedenksteins für die 1967 abgerissene evangelische Kirche in Heidemühl (Kreis Konitz). Dieser besteht nicht aus bearbeitetem Naturstein, sondern stellt das Imitat einer Gemäuerruine dar, in die ein einzelner Stein des ursprünglichen Gebäudes als Relikt bewahrt bleibt. Damit wird in besonderer Weise sowohl das Verlorene symbolisch vergegenwärtigt als auch – ähnlich wie im Falle des „Friedhofs der nicht existierenden Friedhöfe“ – auf das Fragmentarische der menschlichen bzw. historischen Existenz verwiesen. In diesen Zusammenhang gehören im Übrigen Erinnerungstafeln, die an entwidmeten oder anderen Konfessionen übertragenen Kirchengebäuden auf die ursprünglich dort ansässige Gemeinde verweisen, wie etwa auf den Sitz des ersten Betsaals der Mennonitengemeinde in Elbing.

Andere Gedenktafeln erinnern an Institutionen, die zwar nicht von religiöser, jedoch von allgemein lebensweltlicher oder biographischer Bedeutung waren: Dies gilt für die frühere Wache der Elbinger Berufsfeuerwehr, auf die in der Hindenburgstraße ein klassischer Gedenkstein verweist, ebenso wie für Schulen. So macht an der Henryk-Sienkiewicz-Schule in Marienburg eine Tafel deren Geschichte als Luisenschule bis 1945 kenntlich. Dass Denkmäler nicht nur mit Verlust in Verbindung stehen, sondern sich auch der Motivation verdanken, kulturelle Traditionen einer gesellschaftlichen Gruppe wie der deutschen Minderheit öffentlich zu exponieren, zeigt ein Beispiel aus Rehdorf (Kreis Stuhm): Hier erinnert ein von der Deutschen Minderheit Stuhm-Christburg gestifteter Naturstein mit Metalltafel an den dort bis Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden „Hammerkrug“ , eine Schmiede mit Wirtshaus. Ergänzen ließe sich hier noch eine Reihe von Gedenksteinen und -tafeln, die an Geburts- und Wohnhäusern auf Persönlichkeiten von lokalhistorischer bzw. regionalhistorischer wie zeitgeschichtlicher und überregionaler Bedeutung hinweisen. Auch diese erfüllen die Funktion, bis zum Ende der kommunistischen Diktatur bestehende Lücken in der Erinnerungslandschaft zu schließen.

Erinnerung an Krieg und Vertreibung

Eine Zwitterposition zwischen den beiden Kategorien der kulturhistorischen Denkmäler und jener, die Flucht und Vertreibung sowie den Zweiten Weltkrieg als ihren Kontext thematisieren, nehmen wiederhergestellte und neu errichtete Kriegerdenkmäler bzw. Gedenksteine für Gefallene des Krieges 1870/71 sowie des Ersten Weltkrieges ein, insofern sie einerseits die Geschichte Westpreußens vor der Vertreibung dokumentieren, andererseits jedoch Gestaltungsformen prägen, die nach 1945 aufgegriffen werden. Dabei knüpfen auch sie sämtlich an den Archetypus des Grabmals an. Zu einer gewissen einheitlichen Anmutung der Denkmäler für Gefallene verschiedener Epochen trägt zudem der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei, der etwa in Danzig auf dem Hagelsberg um das Jahr 2000 sowohl die Grabstätte deutscher Soldaten aus dem deutsch-französischen Krieg als auch diejenige der Gefallenen des Ersten Weltkrieges in schlichter moderner Gestalt wiederherstellte. Der Krieger-Gedenkstein aus dem Ersten Weltkrieg in Baumgarth (Kreis Stuhm)  wiederum wurde gemäß dem historischen Vorbild und somit in traditioneller Gestalt auf Initiative von Heimatkreis und deutscher Minderheit rekonstruiert. Gemeinsam ist sämtlichen Kriegerdenkmälern die Gestaltung in strengen Formen und zumeist in Schwarz- wie Grautönen.

An die moderne und schlichte Gestalt der älteren Kriegerdenkmäler auf dem Hagelsberg kann die dortige – gleichfalls vom Volksbund errichtete – Grablege für deutsche Gefallene des Zweiten Weltkriegs anknüpfen. Sie wird durch ein Totenbuch ergänzt, das den dort erinnerten Schicksalen Namen gibt. Weniger standardisiert sind die teils aus privater Initiative entstandenen Denkmäler, die sowohl an die Opfer des Nationalsozialismus als auch an die Opfer von Flucht und Vertreibung erinnern. Ein Alleinstellungsmerkmal kommt dem [bekannten] Denkmal zur Erinnerung an die Eisenbahntransporte jüdischer Kinder aus der Freien Stadt Danzig nach England 1938/1939 auf dem Vorplatz des Danziger Hauptbahnhofs zu, insofern es plastisch die Betroffenen – Kinder am Bahnsteig – als Gerettete zeigt. Besondere Erwähnung verdient zudem ein Gedenkstein aus dem Jahr 1996 in Tiegenhof (Kreis Großes Werder), der mit der zweisprachigen Beschriftung „Gedenket der Toten – Frieden dieser Stadt“ und mithin ohne eine differenzierende Benennung einzelner Opfergruppen des Krieges auskommt. Andere Denkmäler hingegen konkretisieren sehr detailliert die Personen und Ereignisse, auf die sie Bezug nehmen. So heißt es etwa auf einer 1999 von der Truso-Vereinigung an der Dorfkirche Lenzen (Kreis Elbing) installierten zweisprachigen Erinnerungstafel: „An die bei Kriegsende 1945 in Lenzen ermordeten und an den Folgen des Krieges gestorbenen und gefallenen 286 Dorfbewohnern und den in Lenzen erschossenen deutschen Soldaten“.

Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, wie sich die westpreußische Denkmal-Landschaft im Zeitraum einer Generation pluralisiert hat. Dabei sind die oft von deutschen und polnischen Initiatoren gewählten Themen und Gestaltungsformen nicht zuletzt auch ein Zeugnis der grenzüberschreitenden Verständigung. Inzwischen finden sich sogar auch solche Denkmäler, die auf wichtige Akteure ebendieses Verständigungs- und Versöhnungsprozesses selbst verweisen. So erinnert in Elbing etwa am ehemaligen Gymnasium eine Gedenktafel an den Publizisten Erich Brost als einen „Mann der deutsch-polnischen Verständigung – geboren in Elbing“. Insofern Verständigung immer weiter gemeinsamer Anstrengungen bedarf, dürfte das gleiche auch für die Aushandlungsprozesse um die erinnerungskulturelle Gestaltung des öffentlichen Raums im historischen Westpreußen gelten. Ihre weitere Entwicklung gilt es mit Interesse abzuwarten.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.