Vor 25 Jahren begann die NATO-Osterweiterung – heute erweist sie sich als überlebenswichtig für Europa
Nie mehr sollten deutsche Soldaten in solchen Staaten präsent sein, die zur Zeit des Dritten Reichs von der Wehrmacht besetzt waren. Diese sogenannte „Kohl-Doktrin“ dominierte die bundesdeutsche Verteidigungspolitik nach Ende des Kalten Krieges. Wenn diese Festlegung auch bereits im Zuge der jugoslawischen Nachfolgekriege brüchig geworden war, hat sich seither das geo- und sicherheitspolitische Lagebild noch fundamentaler gewandelt: Heute tragen deutsche Streitkräfte gemeinsam mit einst von Deutschland okkupierter Staaten gemeinsam Verantwortung für die Freiheit und den Frieden – insbesondere, aber nicht nur des östlichen – Europas.
Möglich wurde dies durch die NATO-Osterweiterungen, deren erste sich am 12. März zum 25. Male gejährt hat. Damals traten Polen, Tschechien und Ungarn dem westlichen Verteidigungsbündnis bei. Fünf Jahre später folgten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, vor 15 Jahren Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro sowie 2020 Nordmazedonien. In Prag wurde das Jubiläum mit einer Konferenz unter dem Titel „Unsere Sicherheit kann nicht als selbstverständlich angesehen werden“ begangen. In seinem Eröffnungsvortrag hob der seinerzeitige US-Präsident Bill Clinton die Bedeutung des historischen Ereignisses für das gesamte Verteidigungsbündnis ebenso hervor wie die Notwendigkeit, das Erreichte weiterzuentwickeln: „Ich denke, dass es eine gute Investition war. Es war ein gutes, vernünftiges Risiko, und es hat die NATO immens gestärkt. Und das Motto dieser Konferenz ist heute genauso wahr wie damals, vielleicht sogar noch wahrer: Man darf seine Sicherheit niemals als selbstverständlich ansehen. Wir wissen, dass wir mehr Netzwerke der Zusammenarbeit brauchen.“
Die Zusammenarbeit innerhalb der NATO schließt die Präsenz deutscher Waffenträger gerade auch im östlichen Europa ein – nicht als notwendiges Übel, sondern als Ausdruck gemeinsamer Wehrhaftigkeit. Dies gilt auch für das diesjährigen NATO-Manöver „Steadfast Defender 2024“ mit insgesamt ca. 90.000 Soldaten, mit dem Stärke und Verteidigungsbereitschaft gegenüber Russland bezeugt werden sollen. Dieses größte NATO-Manöver seit 35 Jahren und der deutsche Beitrag hierzu dokumentieren damit nicht nur ein weiteres Mal die Abkehr von der Kohl-Doktrin, sondern ebenso die Überwindung der lange grassierenden sicherheitspolitischen Naivität gegenüber dem Kreml.
Die Bundeswehr beteiligt sich mit 12.000 Soldaten, 3.000 Fahrzeugen und vier Teilübungen im Rahmen ihres Manövers „Quadriga 2024“. Dabei gehören – neben Norwegen (Übung „Grand North“) – drei der vier Zielländern zu den in den letzten 25 Jahren beigetretenen Staaten: Polen („Grand Center“), Litauen („Grand Center“ und „Grand Quadriga“) sowie Rumänien und Ungarn (beide im Rahmen von „Grand South“). Bei den Quadriga-Übungen handelt es sich um Verlegeübungen, in deren Anschluss sich die deutschen Einheiten an weiteren NATO-Übungen beteiligen.
In Polen sind dies die Übungen „Dragon“ und „Saber Strike“. Im Rahmen der vom 25. Februar bis zum 14. März mit 20.000 Soldaten abgehaltenen Übung „Dragon“ kam es am 4. März zu einem durchaus sinnfälligen Moment. Wohlgemerkt im 85. Jahr nach dem deutschen Überfall auf Polen, beteiligten sich Soldaten vom Deutsch/Britischen Pionierbrückenbataillon 130 aus dem nordrhein-westfälischen Minden an einer Überquerung der hochwasserführenden Weichsel – just an der einstigen deutsch-polnischen Grenze bei Kurzebrack (Korzeniewo) im früheren Landkreis Marienwerder. Das Dorf liegt zudem nur etwa 70 Kilometer südlich der Danziger Westerplatte, die zum Symbol des deutschen Angriffskriegs geworden ist.
Dass die Symbolträchtigkeit von Ereignis und Ort in den Medien kaum wahrgenommen wurde, mag als Indiz für das Vertrauen gelesen werden, das zwischen einstigen Weltkriegs-Gegnern wachsen konnte und heute als selbstverständlich erscheint. Dem steht in krassem Kontrast die Konfrontation Russlands mit den von ihm bis 1990 dominierten Sowjetrepubliken und Warschauer-Pakt-Staaten in einer modifizierten Fortsetzung des Ost-West-Konflikts gegenüber. Es waren nicht zuletzt die vom Kreml ausgehenden Hegemonialansprüche ihnen gegenüber, die die NATO-Osterweiterungen förderten. Wie berechtigt – ja überlebenswichtig – die Entscheidung der damaligen Beitrittskandidaten für die Mitgliedschaft war, daran gemahnt ein weiterer Jahrestag, dessen im März zu gedenken war: derjenige der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion, mit der Russland seinen heute bereits zehn Jahre währenden Krieg gegen die Ukraine eröffnete.
Wladimir Putin wiederum stellt – als konstitutives Argument seiner Kriegsrhetorik – eben die NATO-Osterweiterung als einen Vertragsbruch des Westens dar. Ihr habe man im Zuge der Verhandlungen um den Zwei-plus-vier-Vertrag eine verbindliche Absage erteilt. Neueste Untersuchungen der Historikerin Mary Elise Sarotte („Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung“, München 2023) straft diese Mär Lügen. Gegenüber der „Berliner Zeitung“ fasste Sarotte das Ergebnis ihrer Forschungen dahingehend zusammen, dass die „Vertreter Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten darauf [bestanden], dass der Abschlussvertrag zur deutschen Einheit der Nato explizit erlauben müsse, die Sicherheitsgarantie von Artikel 5 auf Ostdeutschland auszudehnen, also über die Grenzlinie des Kalten Kriegs hinaus. Der Abschlussvertrag müsse deutschen und nicht-deutschen Truppen erlauben, diese Linie ebenfalls zu überschreiten, sobald die Rote Armee abgezogen sei. Die Alliierten haben beide Ziele erreicht. Der Vertreter Moskaus unterzeichnete den Vertrag und die Sowjetunion ratifizierte ihn. Die sowjetische Führung nahm zugleich die damit verbundene finanzielle Unterstützung entgegen, die während der Verhandlungen für ihre Unterschrift und die Ratifizierung zugesagt worden war.“
Wer weiß, welche Entwicklungen die politischen Vertreter Russlands künftig werden akzeptieren müssen, sollte sich die freie Welt in ihrer aktuellen Auseinandersetzung mit dem Kreml durchsetzen. Ganz in diesem Sinne erklärte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk am 13 März in Washington: „Als wir Polen uns auf den Weg in den Westen machten, sagte Papst Johannes Paul II., dass es ohne ein unabhängiges Polen kein gerechtes Europa geben könne“. „Heute“, so Tusk, „würde ich sagen, dass es ohne ein starkes Polen kein sicheres Europa geben kann. Und natürlich würde ich auch sagen, dass es kein gerechtes Europa ohne eine freie und unabhängige Ukraine geben kann.“
Tilman Asmus Fischer
Erschienen in: Westpreußen – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2024.