Sich Kirche wieder angewöhnen

In seinem neuen Buch diskutiert Michael Meyer-Blanck theologischen Grundfragen der Kirche. Der emeritierte evangelische Professor für Praktische Theologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn spricht im Interview mit Tilman A. Fischer über Herausforderungen für die Kirche angesichts der Corona-Pandemie und des „Synodalen Weges“.

Herr Meyer-Blanck, haben die Erfahrungen der zurückliegenden drei Jahre Corona-Pandemie Ihr Nachdenken über die Kirche verändert?

Es ist nochmal sehr deutlich geworden, was bei mir auch eine Leitthese ist: Kirche – insbesondere evangelische Kirche – ist Kommunikation. Sie ist auch Institution und Organisation, vor allem aber Inszenierung und Kommunikation. Kommunikation gibt es zum einen unter Anwesenden – Niklas Luhmann nennt das dann Interaktion; zum anderen funktioniert sie auch medial, heute vor allem elektronisch. Der Glaube ist nichts, was man nur durch Anschauung oder gedankliches Mitvollziehen für sich zum Klingen bringen kann. Sondern man ist immer angewiesen auf andere, seien die nun an Bildschirmen oder mit einem physisch zusammen. Vor allem im Lockdown ist deutlich geworden, wie sehr man sich sehnt nach Interaktion, also nach Kommunikation unter Anwesenden.

Wie haben diese Erfahrungen die Kirche verändert?

Es ist ein Paradoxon: Man sehnt sich nach Interaktion und gewöhnt sie sich gleichzeitig ab. Vielfach sind die Gottesdienstbesucherzahlen nun im dritten Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie – nachdem Interaktion wieder möglich ist – nicht wieder auf dem Niveau wie vorher. Das ist ein ähnliches Schicksal, wie es die Theater und Opern erlebt haben, die einen teils massiven Rückgang an Besuchern zu verzeichnen haben. Ich hoffe, dass wir wieder auf den alten Stand kommen oder sogar auf einen besseren: Jetzt können wir endlich wieder die Liturgie feiern, uns in den Kreisen und Chören treffen. Das alles kommt hoffentlich wieder und wird noch mehr genossen als vorher. Viele Menschen haben sich die Kirche abgewöhnt – und sie gewöhnen sie sich hoffentlich wieder an.

Was können Gemeinden tun, um es Menschen zu erleichtern, sich Kirche wieder anzugewöhnen?

Einladende Kirche sein, jedem das Gefühl geben: Er und sie ist wichtig, willkommen, wird als Person wahrgenommen und wertgeschätzt. Das ist das große Geheimnis gelingender Gemeindearbeit: „Du bist hier willkommen, Du bist wichtig, durch Dich hat die Gemeinde einen wichtigen Zuwachs an Fähigkeiten oder an Spaß und Freude!“ Dabei müssen die Leute einzeln wieder zurückgewonnen werden, wenn sie sich von der Kirche so weit entwöhnt haben, dass es kaum noch Berührungen gibt.

Die Pandemie betraf Kirchen aller Konfessionen – vor allem katholische Geschwister waren zugleich von den Auseinandersetzungen um den „Synodalen Weg“ und die mit dem Reform-Diskurs verquickten Skandale um Missbrauchsfälle betroffen. Macht und Sexualität ist auch ein Thema Ihres Buches. Wie stellt es sich aus evangelischer Perspektive dar?

Sexualisierte Gewalt ist auf jeden Fall ein Problem – nicht nur für die katholische Kirche, sondern auch für die evangelische. Es ist nichts Schlimmeres denkbar, als wenn ein Pädagoge, der Kinder und Jugendliche fördern soll, Kindern Gewalt antut und sie missbraucht. Das ist ein performativer Selbstwiderspruch. Das ist genauso schlimm in der evangelischen Kirche wie in der katholischen – auch wenn die Fallzahl vielleicht geringer ist. Umso schlimmer ist dann jeder einzelne Fall und jeder einzelne Fall muss strafrechtlich verfolgt und, was das Gedächtnis der Gemeinde angeht, offen bearbeitet werden. Fälle gibt es jedenfalls auch in der evangelischen Kirche.

Was tut in Sachen kirchlicher Aufarbeitung evangelischerseits Not?

Die EKD muss vor allem zeigen, dass sie bei diesem Thema „an Deck“ ist, dass sie wachsam ist und die Entwicklungen verfolgt, durch empirische Untersuchungen und Studien die Sache aus der Vogelperspektive begleitet, während die Gemeinden und Landeskirchen in ihren Bereichen für Aufklärung zu sorgen haben.

Lassen Sie uns zuletzt nochmal auf die Lage der katholischen Christen zurückkommen: Wie bewerten Sie die Resultate des „Synodalen Weges“ in Deutschland – und die Perspektive ihrer Umsetzung?

Mutig, ich hoffe, mutig genug, ich hoffe, so mutig, dass tatsächlich etwas passiert. Man hat einen langen Weg des Abwägens gewählt und man kann ja sagen: Demokratie ist, wenn keiner zufrieden ist. Und insofern ist das doch ein demokratisches Stück Wegs gewesen, den der Synodale Weg gegangen ist. Insbesondere das Predigen von Frauen in der Messe, die Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren und die Forderung nach Öffnung der Ämter sind Dinge, die mit der gegenwärtigen katholischen Praxis in Widerspruch stehen, aber nun keineswegs mehr völlig unmöglich sind. Insofern hoffe ich, dass das ein kleiner Stein im Mosaik „Reform der katholischen Kirche“ ist.

Zum Weiterlesen: Michael Meyer-Blank, Kirche. Reihe Theologische Bibliothek. Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen 2022, 345 Seiten, 39 Euro.

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 22/2023.

„In dieser Welt bleibt nur der Heuchler sauber“

Der evangelische Militärpfarrer Klaus Beckmann widmet sich in einer bedenkenswerten Streitschrift der theologischen Perspektive auf den Soldatenberuf in Zeiten der sicherheitspolitischen Neuorientierung

Von Tilman Asmus Fischer

Als „Erinnerungs- und Streitschrift“ markiert der evangelische Theologe Klaus Beckmann – 2011 bis 2020 Militärseelsorger, zuletzt persönlicher Referent von Militärbischof Sigurd Rink – sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch. Inhaltlich freilich liegt der Akzent eher auf dem streitbaren Debattenbeitrag als auf anekdotischen Berichten – und dies gereicht „Dienstweg – kein Durchgang?“ nur zum Vorteil. Denn was der Autor bietet, ist – bei aller Sättigung durch die Praxiserfahrung eines Militärpfarrers – eine friedensethische wie pastoraltheologische bzw. kirchentheoretische Standortbestimmung auf höchstem Reflexionsniveau.

Unter einer friedensethischen Perspektive liest sich Beckmanns Buch als einer der profundesten Beiträge zur die sogenannte „Zeitenwende“ begleitenden theologischen Debatte, die sich zwischen einem Aufbegehren fundamentalpazifistischer Positionen und Spekulationen über eine Wiederkehr der Lehre vom „gerechten Krieg“ bewegt. „In dieser Welt bleibt nur der Heuchler sauber“, kann der Autor am Schluss konstatieren – und diese Einsicht verdichtet wie in einem Brennglas seine Argumentation, die sich gegen unaufrichtige Positionen eines Radikalpazifismus wendet, den Beckmann in seiner deutschen Spielart wiederholt als Wiedergänger eines Nationalpazifismus mit Wurzeln in den dunkelten Kapiteln der Geschichte unseres Landes identifiziert. Für eine aufrichtige Perspektive tritt Beckmann demgegenüber ein, indem er vom Faktum der unerlösten Welt ausgehend zu einer verantwortungsethischen Herleitung der Notwendigkeit der Institution Militär gelangt.

Dabei betont Beckmann den hohen Wert, welcher der Gestalt des Militärischen zukommt, wie sie sich in der Bundeswehr mit den Prinzipien der „Inneren Führung“ bzw. des „Staatsbürgers in Uniform“ herausgebildet hat. Gewiss stellt der Autor mit dem Bild des gebildeten, verantwortungsbewussten und kritischen Subjekts hohe Ansprüche an den Beruf des Soldaten. Jedoch bilden ebendiese Ansprüche das logische Korrelat zur inhaltlichen Begründung der Existenz von Streitkräften, wie Beckmann sie vornimmt: zur Sicherung von Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit sowie zur Wahrnehmung internationaler Verantwortung unter dem Vorzeichen der Idee des „gerechten Friedens“.

Nicht minder bedenkenswert sind Beckmanns Ausführungen, liest man sie in einer postoraltheologischen bzw. kirchentheoretischen Blickrichtung: Ebenso klar, wie der Autor eine ethische Würdigung des Soldatenberufs vornimmt, tritt er für die Unabhängigkeit der Seelsorger wie der Institution Kirche im System Bundeswehr ein. Denn – eine grundsätzliche Problematik, die auch aus anderen Bereichsseelsorgen prinzipiell bekannt ist, sich aber im Falle der Militärseelsorge in besonderer Weise zeigt – das Bezugssystem, in dem die Militärpfarrer wirken, hat eine deutliche Tendenz dazu, die Geistlichen zu vereinnahmen. Dem stellt der Autor die Erwartungen der Soldaten an Militärseelsorger gegenüber – und hier mag eine implizite Kritik an einzelnen Amtsbrüdern anklingen:

„Nach meiner Erfahrung verfügen Soldaten über ein hohes Maß an kritischer Sensibilität gegenüber Anbiederungsversuchen. Sie wünschen sich durchaus nicht, dass ein Seelsorger in ‚Grünzeug‘ durch die Kaserne marschiert; militärisches Grüßen wird beim Militärpfarrer als unstatthaft empfunden – nicht allein, weil dieser nun eben einen zivilen Status hat, sondern auch und gerade, weil den meisten Soldaten bewusst ist, welchen Schatz der Seelsorger in seiner Sonderstellung für sie darstellt. Gleitet er in das militärische ‚grüne‘ Milieu ab, geht ein Stück Freiheit im militärischen Alltag verloren.“

Dieses „Stück Freiheit“ beginnt beim von den Seelsorgern als Raum freier Aussprache gestalteten Lebenskundlichen Unterricht und reicht über ihre Unabhängigkeit von der militärischen Hierarchie bis hin zum Beicht- und Seelsorgegeheimnis, das Militärseelsorger von Truppenpsychologen unterscheidet und einen Raum des geschützten Gesprächs selbst in Extremsituationen garantiert. Zur Absicherung ebendieser Freiheit und Unabhängigkeit mahnt der Autor wiederholt Strukturreformen innerhalb der evangelischen Militärseelsorge an: „Ein Verbesserungsansatz für die Militärseelsorge kann in verfassten Basisvertretungen liegen, die es dem Seelsorger ermöglichen, sich in Entscheidungen und Äußerungen abzustimmen und abzusichern. Handlungen der Militärseelsorge würden so nach außen nicht vom Pfarrer allein, sondern durch ein legitimiertes Gremium vertreten.“

Dabei greift der Verfasser interessanterweise auf die katholische Organisationsstruktur als Vorbild zurück: „Beachtenswert finde ich die Tatsache, dass die katholische Militärseelsorge bislang in der Beteiligung der Basis mehr zu bieten hat als die evangelische Seite. Dort existieren bei den Standortpfarrämtern verfasste“ – wenn auch, wie Beckmann einschränkt, vom Pfarrer berufene und nicht gewählte – „Mitarbeiterkreise und Pfarrgemeinderäte; über mehrere Ebenen hinweg sind die katholischen Soldatinnen und Soldaten bis ins Zentralkomitee der deutschen Katholiken repräsentiert.“

Diese Bezugnahme ist nur einer von zahlreichen Aspekten, die „Dienstweg – kein Durchgang?“ für eine ökumenische Leserschaft und nicht nur für den kleinen Kreis der an Fragen der evangelischen Militärseelsorge Interessierten äußerst lesenswert macht. Mithin in Monaten, da sich die gesamte Gesellschaft neu über Grundkoordinaten von Sicherheitspolitik und Friedensethik orientieren muss, stellen diese Reflexionen, die an Erfahrungen als „Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr“ anknüpfen, unangenehme Fragen und bieten Thesen, die in einer aufrichtigen öffentlichen Debatte nicht ausgeklammert werden sollten. Dass Deutschland diese Debatte vor dem Hintergrund seiner historischen Verantwortung ebenso wie gegenüber seinen heutigen Uniformträgern schuldig ist, macht Beckmann eindrücklich klar.

Klaus Beckmann: Dienstweg – kein Durchgang? Als Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr. Eine Erinnerungs- und Streitschrift. Miles-Verlag, Berlin 2022, 264 Seiten, ISBN 978-3967760439, EUR 19,80.

Erschienen am 20. April 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

„Gib mir das Deine, damit ich dir das Meine gebe“

Auf den Spuren der Frömmigkeit Dorotheas von Montau

Von Tilman Asmus Fischer

Am 2. Mai ist es genau 630 Jahre her, dass sich Dorothea Swarze als Reklusin in einer Zelle am Dom zu Marienwerder einmauern ließ. Mehr als ein Jahr verbrachte sie hier ein Leben, das geprägt war von Visionen, Kommunionsempfang und seelsorgerlicher Zuwendung zu Ratsuchenden. Heute wird ihr Todestag, der 25. Juni, als gebotener Gedenktag im Erzbistum Ermland, dessen Suffraganbistum Elbing sowie im Deutschen Orden begangen, als dessen Patronin „Dorothea von Montau“ ebenso verehrt wird wie als Patronin Preußens. Jedoch hatte es mehr als ein halbes Jahrtausend dauern sollen, bis der (Ende des 14. Jahrhunderts vom Orden angestoßene) Heiligsprechungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen und der sich über die Jahrhunderte im Preußenland gehaltene – und seit dem 19. Jahrhundert im historischen Ostdeutschland verbreitete – Dorotheenkult am 9. Januar 1976 approbiert wurde. Was aber faszinierte Menschen an der Heiligen Dorothea, sodass man sie als Vorbild im Glauben verstand und bis heute verehrt? Dieser Frage soll hier in zweifacher Weise nachgegangen werden: Zum einen werden zentrale Elemente einer Mystik und Caritas verschränkenden Frömmigkeit nachvollzogen, wie sie die Dorotheen-Überlieferung prägen. Zum anderen wird anhand zweier prominenter Beispiele gezeigt, wie diese Tradition im 20. Jahrhundert aktualisiert wurde.

Stationen des Lebens und der Spiritualität

Welche Stationen – so ist also zunächst zu fragen – liegen auf dem 47 Jahre umfassenden Lebens- und Glaubensweg der Dorothea zwischen ihrer Geburt 1347 in Groß Montau und ihrem Tod als bereits zu Lebzeiten verehrte Mystikerin und Reklusin 1394 im gut 30 km die Weichsel aufwärts liegenden Marienwerder? Bzw. wie stellt die hagiographisch gefärbte Überlieferung diesen Weg dar?

Groß Montau und Danzig

Als Tochter einer wohlhabenden Bauernfamilie kam Dorothea in Groß Montau (pl. Mątowy Wielkie) zur Welt, das später bis 1920 zum Landkreis Marienburg und anschließend – als Teil der Freien Stadt Danzig – zum Landkreis Großes Werder gehörte; am 6. Februar 1347 wurde sie dort in der Dorfkirche getauft. Bereits ihre Kindheit wird als von einer frühen wie radikalen Frömmigkeit geprägt beschrieben, die asketische Übungen, aber auch Selbstgeißlungen umfasste. 1363 führte die Verheiratung mit dem deutlich älteren Waffenschmied Adalbert Swarze Dorothea nach Danzig. Ihr dortiges Leben lässt sich topographisch wie symbolisch zwischen der Langgasse und Sankt Marien verorten. Die sich auf den Langen Markt hin erstreckende Magistrale war der Ort, an dem sie den Haushalt ihres viele Jahre älteren Mannes führte und die neunfache Mutter (nur ein Kind blieb am Leben) ein von Erkrankungen, menschlicher Härte und Anstrengungen geprägtes Leben führte. Demgegenüber steht die Marienkirche zum einen für Zeiten des Gebetes und er Kontemplation. Zum anderen war das Gotteshaus der Ort, wo sie womöglich im Sommer 1374 die Aufbahrung der im Vorjahr in Rom verstorbenen Birgitta von Schweden erlebte. Deren „Leben und […] Offenbarungen machten einen tiefen Eindruck auf die Hausfrau und Mutter. Sie, die ebenso verheiratet gewesen war wie die schwedische Heilige, wählte diese zu ihrem Vorbild in der Betrachtung der Passion Christi und im Wallfahren.“ (Samerski 2013, 609)

Zum Aufbruch in die Pilgerschaft sollte es jedoch erst zehn Jahre später kommen, sodass hier zunächst noch die in ihrer Danziger Zeit zunehmenden mystischen Erfahrungen in den Blick genommen werden: Denn Dorothea hatte zunehmende Visionen, geriet in Verzückung, prophezeite und verfügte über die Gabe der Herzensschau. Markant für die Frömmigkeit Dorotheas ist das – ihr Leben über wiederholt auftretende – Motiv der Liebeswunden. Diese waren in der Mystik „nur wenigen Auserwählten vorbehalten, die sich im Einigungszustand mit Gott befanden. Johannes vom Kreuz beschreibt sie als anziehende Liebesflamme, welche die Seelen scheinbar vollständig verzehrt, ihnen aber dann, nach dem Vorbild der Wiedergeburt des Phönix, eine neue Seinsform schenkt“ (Niedermeier 2019, 21). Bei Dorothea tritt hier die seit der Antike beliebten Metapher des Liebespfeiles in Erscheinung, die sich mit Hld 2,5c („denn ich bin krank vor Liebe“; vgl. 4,9) verbindet. Bei den zeitgenössischen Mystikerinnen „wird aus der Metapher Erleben“, wobei Dorothea geradezu „fasziniert […] von diesem Motiv war“: Mit „größter, uns heute fast pathologisch anmutender Ausführlichkeit [berichtet sie] davon […], wie sie ihr himmlischer Bräutigam ‚bald mit Liebesdornen, bald mit Pfeilen, bald mit Lanzen und Speeren, die er in ihr Herz abschoß‘, verletzte. In ihrem letzten Lebensjahr zerreißt ihr Christus das Herz so, daß sie meint, sterben zu müssen.“ (Dinzelbacher 1996, 221).

Auf Pilgerschaft zwischen Weichsel und Tiber

Zu einem dieser inneren Entwicklung entsprechenden radialen äußeren Frömmigkeitspraxis gelangte Dorothea ab 1384, als Adalbert Swarze sich – nach längerem Einwirken seiner Frau – bereitfand, Hab und Gut zu verkaufen und sich ganz einem Leben für Gott – insbesondere als Wallfahrer – hinzugeben. Mit den Pilgerreisen weitet sich zugleich der für Dorotheas Vita relevante Raum über das untere Weichselland, ja über den deutschen Sprachraum hinaus, denn sie führten die fromme Frau nicht nur zu den im heutigen Bundesgebiet liegenden Wallfahrtsorten Finsterwalde und Aachen, sondern bis nach Rom. (Während Aachen und Rom in diesem Zusammenhang ‚selbstverständlich‘ klingen, gilt dies für das brandenburgische Finsterwalde nicht. Dies ist eine Folge der Reformation, in deren Zuge die dortige Marienkapelle, nebst der mit ihr verbundenen Wallfahrtspraxis verschwanden.) Der Überlieferung nach gingen diese Reisen für das Ehepaar mit vielfältigen Gefahren für Leib und Leben einher. Dies ist aus den Bedingungen der damaligen Lebenswelt plausibel – zu denen Wegelagerei ebenso zählte wie nur geringfügige Möglichkeiten des Schutzes vor Naturgewalten.

Zugleich ist die Akzentuierung entsprechender Berichte der Pragmatik hagiographischer Texte geschuldet: War kein „rotes“ Martyrium, wie es für die im Zuge der Christenverfolgung Ermordeten überliefert wurde, zu berichten, konnte an seine Stelle das „weiße“, also ein ‚geistliches‘ Martyrium treten, welches sich durch asketische Leidensbereitschaft auszeichnete. Ganz in diesem Sinne entspricht Dorotheas Leben – und dies eigentlich nicht erst als Wallfahrerin, sondern bereits in ihren Visionen – den von Gregor dem Großen überlieferten Worten: „Denn selbst dort, wo keine äußere Verfolgung stattfindet, finden wir das Verdienst des Martyriums im Inneren, wenn die Seele feurig entschlossen gewillt ist, Leiden auf sich zu nehmen.“

Aber nicht nur die Leidensbereitschaft stellt ein an dieser Stelle deutlich werdendes Kontinuum in der Frömmigkeit der Dorothea dar: Ein weiteres ist die Verschränkung von Verinnerlichung und caritativer Zuwendung. Denn von derselben Heiligen, die sich dem Wallfahren und fortgesetzten Visionen hingab, wird berichtet, dass sie zugleich als Helferin von Menschen in Not, Kranken und Armen, in Erscheinung trat. Hierin setzt sich das Bild der jungen Dorothea in Danzig fort, in dem sie uns sowohl als fürsorgende Mutter als auch als eifrige Beterin vor Augen steht.

Marienwerder

Während einer Rom-Wallfahrt Dorotheas starb ihr Mann 1390 in Danzig. In der folgenden Zeit entwickelte sich der Deutschordenspriester Johannes von Marienwerder zu ihrem wichtigsten Mentor. Nicht nur, dass er verhinderte, dass Dorothea aufgrund ihrer eigenwilligen Frömmigkeit in Danzig als Hexe verurteil wurde, und durch die Verschriftlichung ihrer Visionen die Grundlagen der Dorotheenverehrung legte. Vor allem ebnete er ihr den Weg hin zu ihrer letzten Lebensstation: der an den Dom von Marienwerder angebauten Zelle, in der sie sich ein Jahr vor ihrem Tod einmauern ließ. Auch in diesem letzten Lebensabschnitt werden die bereits genannten Kontinuitäten ihrer Frömmigkeit deutlich: einerseits die Leidensbereitschaft (die bei einem Leben als Eingemauerte evident sein dürfte), andererseits das Ineinander von Verinnerlichung und Caritas: Neben der spirituellen Versenkung – mit Visionen und zuletzt täglichem Abendmahlsempfang – stand die Zuwendung zu Menschen, die bei ihr Rat suchten und mit denen sie durch ein kleines Fenster sprach. Aus dieser Zeit ist ein Gebetswort überliefert, das ihre Frömmigkeit zu auf den Punkt zu bringen vermag: „Gib mir das Deine, damit ich dir das Meine gebe – das Deine ist das Leiden am Kreuz, das Meine die Seele, die du mir eingesenkt hast und die so in Wahrheit gerade das Deine ist.“ (Ratzinger, 1429.)

Deutung und Aktualisierung von Leben und Frömmigkeit

Die frühe Bedeutung, die Dorothea im kirchlichen Leben Preußens zukommen, mögen nicht nur der unmittelbar nach ihrem Tod in Marienwerder etablierte Dorotheenkult sowie das vom Deutschen Orden angestrengte Heiligsprechungsverfahren bezeugen, sondern ebenfalls die Tatsache, dass die von ihrem spirituellen Führer und Biographen Johannes von Marienwerder verfasste deutschsprachige Darstellung ihres Lebens knapp 100 Jahre nach Dorotheas Tod, 1492, das erste in Preußen gedruckte Buch war. Die mittelalterliche wie neuzeitliche Rezeption und Deutung der Heiligen Dorothea dokumentiert zu haben, ist das Verdienst verschiedener Theologen und Historiker seit dem 19. Jahrhundert – pars pro toto zu nennen ist der 1894 in Schneidemühl geborene Prälat Dr. theol. Richard Stachnik, der vor der Vertreibung als Priester der Danziger Diözese (und letzter Vorsitzender der Danziger Zentrumspartei) gewirkt hatte und von der Bundesrepublik Deutschland aus den Abschluss des Heiligsprechungsverfahrens vorantrieb. An dieser Stelle seien schlaglichtartig zwei Deutungen der Heiligen Dorothea eingespielt, die im Umfeld ihrer Heiligsprechung zu verorten sind.

Günter Grass: Religion als „Vehikel“

Nur ein Jahr nach der Kultapprobation setzte der Danziger Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger Günter Grass Dorothea (und daneben auch Prälat Stachnik) in seinem Roman „Der Butt“ ein literarisches Denkmal. Hierin erscheint Adalbert Swarze als Wiedergänger des Fischers aus Philipp Otto Runges Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“. In Grass‘ Interpretation hat der Fischer vom Butt als Preis für dessen Freilassung ein Geheimwissen zur Errichtung des Patriarchats erhalten, mit dem er nun über die Menschheitsgeschichte hinweg die Frauen unterdrückt. Dementsprechend ergeht es dann auch Dorothea, die im religiösen Fanatismus einen Weg in die Befreiung erkennt. Und so lässt Grass die Vorsitzende eines feministischen Tribunals, das im Roman über den Butt zu Gericht sitzt, erklären:

„Dorothea Swarze wollte Freiheit für sich. Die Religion und Jesus sind ihr nur das Vehikel und die einzig erlaubte Bezugsperson gewesen, ihren Emanzipationsanspruch durchzusetzen und der penetranten Macht der Männer zu entkommen. Da sie nur die Wahl hatte, als Hexe verbrannt oder als Heilige eingemauert zu werden, hat sie sich entschlossen, dem Domdekan zu Marienwerder eine halbwegs glaubwürdige Legende aufzutischen: um ihrer Freiheit willen. Ein für das Mittelalter typischer Fall, nicht ohne Hinweise in die Gegenwart.“ (Grass, 211.)

Gewiss wird das hieraus sprechende instrumentelle Religionsverständnis dem Zeugnis der Dorothea in seiner Gänze nicht gerecht. Die Einsicht in das emanzipatorische Potential von Spiritualität trifft aber ganz gewiss ein nicht unwesentliches Moment weiblicher Mystik im Mittelalter – zu dem vergleichbare Phänomene sich auch in der Gegenwart finden lassen (vgl. Müller, 247f.).

Joseph Ratzinger: „Wege nach innen“

Einen merklich anderen Akzent setzt eine Deutung, die der Ende vergangenen Jahres verstorbene emeritierte Papst Benedikt XVI. vornahm, als der damalige Erzbischof von München und Freising 1979 in der Münchner Jesuitenkirche Sankt Michael ein Epitaph für die wenige Jahre zuvor Heiliggesprochene enthüllte. Aus diesem Anlass interpretierte er die Entwicklung ihrer Frömmigkeit als „Wege nach innen“. Vom Bild der täglich die Eucharistie Empfangenden her versteht er ihr Leben als „Kreuzesnachfolge, es wird Eintauchen ins Wortlose und Unsagbare der trinitarischen Liebe und es wird darin zugleich ganz marianisch und kirchlich: Menschsein, das Gefäß für den Herrn geworden ist und damit Tür in die Welt für Ihn. Wer ganz dem trinitarischen Gott übereignet ist, der ist ganz aufgemacht, der ist in seine weltumspannende Weite hinein geöffnet, gehört allem und dem Ganzen; der hat nichts mehr von der Enge des alten Menschen, die sich selber sucht und das für Freiheit hält: Der ist wahrhaft neuer Mensch geworden“ (Ratzinger, 1429).

Dabei ginge es fehl, die Deutungen von Grass und Ratzinger dahingehend gegeneinander auszuspielen, dass man diejenige des Dichters als lebensnah und die des Theologen als weltfremd verstünde (wie man Ratzinger leider zu oft missverstanden hat). Denn bei ihm sind die „Wege nach innen“ zugleich immer auch „Wege nach außen“. Dies gilt nicht nur für die Pilgerschaft, sondern ebenso für die als Mutter erwiesene Caritas: Als Mutter „verkörpert sie zuallererst den Realismus des christlichen Menschen. Die Suche nach dem neuen Menschen ist Bejahung und nicht Verneinung. Sie gründet nicht auf einer Verachtung der Schöpfung und der Aufgaben und Möglichkeiten, die sie stellt. Die christliche Hoffnung hat nichts mit Anarchie und mit Schwärmertum zu tun. Der Christ flieht nicht aus den Aufgaben dieser Zeit, er verlästert die Welt nicht, sondern er steht in aller Nüchternheit in ihren Aufgaben“ (Ratzinger, 1427).

In ebendiesem Sinne mag Dorothea von Montau eine Heilige sein, die nicht nur Relevanz für die regionale Kirchengeschichte beanspruchen kann, sondern deren Glaubenszeugnis auch im 21. Jahrhundert noch des Bedenkens wert ist.

Literatur

Peter Dinzelbacher, Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung. Mentalitätsgeschichte und Ikonographie, Paderborn 1996.

Günter Grass, Der Butt (= Günter Grass: Werkausgabe, Bd. 8), Göttingen 1997.

Ulrich Müller, Dorothea von Montau und Sor Juana Ines de la Cruz: Zwei religiöse Frauen aus dem Mittelalter und aus der Barock-Zeit, in: Wolfgang Beutin u. Thomas Bütow (Hgg.), Europäische Mystik vom Hochmittelalter zum Barock. Eine Schlüsselepoche in der europäischen Mentalitäts-, Spiritualitäts- und Individuationsentwicklung. Beiträge der Tagung 1996 und 1997 der Evangelischen Akademie Nordelbien in Bad Segeberg (= Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte, Bd. 21), Frankfurt a.M. 1998, 237-248.

Nina Niedermeier, Heroische Tugend (Katholizismus), in: Compoendium heroicum, 13. Mai 2019 (https://www.compendium-heroicum.de/lemma/heroische-tugend-kath/).

Joseph Ratzinger, „Wege nach innen“: Die heilige Dorothea von Montau. München, 17. Juni 1979, in: ders., Predigten. Homilien – Ansprachen – Meditationen. Dritter Teilband (= Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften, Bd. 14/3), Freiburg i.Br. 2019, 1426-1430.

Stefan Samerski, Dorothea von Montau, in: Joachim Bahlcke et al. (Hgg.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa, Berlin 2013, 609-617.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2023.

Nach dem Ende der Illusionen

Die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Gwendolyn Sasse hat bereits acht Monate nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine eine fundierte Überblicksdarstellung der Hintergründe und Entwicklungen des Krieges vorgelegt. Im Interview mit Tilman A. Fischer spricht die Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin über die Implikationen für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik.

Frau Professor Sasse, Sie üben wiederholt Kritik an der – teils überwundenen – Perspektive „des Westens“ auf Russland. Welche westlichen Illusionen sind mit und seit dem 24. Februar 2022 zertrümmert worden?

Zum einen ist das die Illusion, dass man Russland von außen verändern kann. Allerdings hatten sich vielleicht auch schon weniger Menschen in der deutschen und europäischen Politik dieser Illusion hingegeben; aber die Illusion, die es noch gab, war die Vorstellung, dass man das Verhältnis managen und die einseitige Energieabhängigkeit ausbalancieren könnte. Zwischen diesen Ideen von „Wandel durch Handel“ oder zumindest „sicherheitspolitischer Stabilität durch Handel“ bewegt sich diese Hauptillusion, die am 24. Februar 2022 zerbrach. Zum anderen gehört dazu, dass man in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit gar kein klares Bild von der Ukraine als Staat und Gesellschaft hatte. Nur so erklärt sich, wie überrascht man nach Kriegsbeginn hierzulande über die militärische, politische und gesellschaftliche Resilienz der Ukraine war.

Was lehrt uns dieser Befund über den vor dem Angriffskrieg eingeübten Blick Deutschlands und Europas auf Ost- und Ostmitteleuropa?

Dazu gehört wieder zweierlei: Einerseits hat man zu lange das gesprochene und geschriebene Wort Putins und einiger seiner Eliten über die Ukraine nicht ernstgenommen – selbst das, was er in deutschen Zeitungen veröffentlicht hat. Man hat sich nicht vorstellen können, dass das wirklich in Politik umgesetzt werden könnte. Daraus folgt die Lehre, dass man Rhetorik – und vor allem staatliche Rhetorik – ernstnehmen muss. Andererseits hat man vor allem in Deutschland, aber auch in Europa, die Sowjetunion als Russland fortgeschrieben. Viele ostmitteleuropäische Staaten kamen in dieser Wahrnehmung gar nicht vor und es gab keinen differenzierten Blick auf Staaten wie die Ukraine; gleiches gilt für Moldau und Belarus. Es liegt eine große Schwäche darin, dass es nicht gelungen ist, den eigenen Blick den politischen Wirklichkeiten anzupassen, sondern sich vielmehr die Wahrnehmung – bewusst oder unbewusst – auf Russland verengt hat.

Vor welchen Herausforderungen steht die EU nun nach dem Ende der Illusionen?

Was ganz deutlich wird, ist, dass die EU außenpolitisch, aber auch im Innern, an die Grenzen ihrer Funktionsfähigkeit gestoßen ist. Es stehen außen- und sicherheitspolitische Grundsatzfragen im Raum, aber auch interne Reformen, die u.a. für einen ukrainischen EU-Beitritt unerlässlich sind.

Lassen Sie uns vielleicht zunächst die innere Verfasstheit der EU fokussieren! Mit Russland befindet sich die EU in einem offenen Konflikt mit einem autoritären Staat. Welche Konsequenzen hat dies für autoritäre Tendenzen in einzelnen EU-Mitgliedsstaaten – mithin für die Spannungen zwischen der Visegrád-Gruppe und dem Westen der EU?

Wir sehen keine so klare Ost-West-Spaltung der EU, und das ist auch gut so. Aber natürlich bleiben die autoritären Tendenzen und Regime, die es in der EU gibt, bestehen – vor allem in Ungarn, welches ein schwieriger Partner in Fragen der Russland-Politik ist. Allerdings war vor Februar letzten Jahres klar, dass Polen und Ungarn sich gegenseitig unterstützen und die wenigen Sanktionsmöglichkeiten in der EU aushebeln würden. Das ist jetzt gebrochen, weil Polen sich mit Blick auf die Ukraine anders positioniert als Ungarn. Das heißt aber nicht, dass sich innenpolitisch in Polen irgendetwas verändert hätte. Vielleicht kommt das noch. Aber im Moment ist das nicht zu erkennen. Die Herausforderung im Moment ist, zu sehen: Wo gibt es Solidarität, um in dieser Situation als EU zu funktionieren und die Bedingungen für eine Beitrittsperspektive für einen ukrainischen EU-Beitritt zu schaffen? Denn, wenn es eine glaubwürdige Perspektive sein soll, setzt das voraus, dass sich auch die EU reformiert. Die Probleme innerhalb der EU – und die inneren Gefährdungen für die Demokratie – bleiben bestehen, vielleicht aber schärft die Auseinandersetzung mit dem autoritären Regime in Moskau den Blick für sie.

Wie wird sich wiederum die Außen- und Sicherheitspolitik der EU verändern müssen?

Das ist eine offene Frage – aber die EU muss sich verändern und muss auch die Politik gegenüber ihrer sogenannten Nachbarschaft anpassen. Denn es ist einiges in Bewegung: in der Ukraine ohnehin – und Ukraine und Moldau haben jetzt eine konkrete Beitrittsperspektive. Hier wird es darum gehen, diese glaubwürdig zu gestalten und mit notwendigen Reformen – und im Falle der Ukraine mit dem Wiederaufbau – zu verknüpfen. Das wird eine sehr große Herausforderung sein. Darüber hinaus wird die Politik, die sich an die weitere Nachbarschaft richtet, Anpassungen erfahren müssen. Auch Beziehungen in den Südlaukasus werden stärker als bisher differenziert werden müssen – insbesondere, wenn wir an das autoritäre Aserbaidschan denken. Regional verändern sich in dieser Gegend die Machtverhältnisse, nicht zuletzt, da Russland sich momentan auf den Krieg in der Ukraine konzentrieren muss, was Ressourcen bindet. Das hat Folgen für Akteure wie Aserbaidschan, die im  militärischen Konflikt mit Armenien um Bergkarabach den neuen Spielraum austesten, aber auch für die Rolle der Türkei oder des Irans in der Region. Daraufhin muss die EU sich in Ihrer Politik anpassen.

Was ist hierzu notwendig?

Sie muss generell präsenter werden, auch über die Länder der östlichen Partnerschaft hinaus, und klarer formulieren, was sie in Beziehungen mit Ländern etwa in Zentralasien, aber auch in Asien oder Afrika anzubieten hat. Das ist bisher eher diffus geblieben. Bedingungen wie die Regelungen zur Beschlussfassung innerhalb der EU müssen verändert werden, wenn sie ein glaubwürdiger Akteur in der Außen- und Sicherheitspolitik sein will, was von ihr erwartet wird: in der EU, in der Ukraine ohnehin, aber auch in Washington. Die USA erwarten schon seit langem, dass die EU souveräner wird. Es gibt noch nicht einmal einen Konsens, was für ein sicherheitspolitischer Akteur die EU sein will und ob dazu auch eine gemeinsame militärische Dimension gehört, wie der französische Atomschirm. Auch der derzeitige Konsens hinter der militärischen Unterstützung für die Ukraine könnte sowohl in Teilen der EU als auch in den USA brüchig werden.

Gwendolyn Sasse, Der Krieg gegen die Ukraine. Hintergründe, Ereignisse, Folgen, C. H. Beck, München 2022. 128 Seiten, 4 Karten; 12,00 €; ISBN 978-3-406-79305-9.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2023.

Europäische Aussöhnung – im Schatte des Krieges

Olaf Scholz hielt beim Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen seine erste programmatische Rede zu Fragen der Vertriebenen- und Verständigungspolitik. Deren Aktualität stellte der Bundeskanzler angesichts des Angriffs auf die Ukraine ebenso heraus, wie er in kulturpolitischer Hinsicht Erwartungen weckte.

Im zweiten Jahr seiner Amtszeit hat Bundeskanzler Olaf Scholz an die von Angela Merkel gepflegte Tradition der Teilnahme am Jahresempfangs des Bundes der Vertriebenen angeknüpft. Am 28. März 2023 unterbrach er die Verhandlungen zwischen den Koalitionspartnern seiner Regierung, um in der Katholischen Akademie zu Berlin das Wort an BdV-Präsident Bernd Fabritius, die Mitglieder der Landsmannschaften und Landesverbände sowie die anwesenden Parlamentarier, Diplomaten und weitere geladene Gäste zu wenden.

Nein zu politischem und militärischem Revanchismus

Seine Rede stand – ebenso wie der gesamte Empfang, an dem auch Vertreter der deutschen Volksgruppe in der Ukraine teilnahmen – im Schatten des bereits über ein Jahr währenden Angriffskrieges Russlands. Mit diesem seien „revanchistische, imperialistische Aktivitäten, ein furchtbarer Krieg, wieder Realität in Europa geworden. Putin will die Identität der Ukraine auslöschen. Er will sie durch die Idee eines großrussischen Reichs ersetzen. Dafür überzieht er die Ukraine mit Leid und Zerstörung und gefährdet auch die Zukunft seines eigenen Landes.“

Die neue Kriegswirklichkeit stellte Scholz in den Kontrast zur in Europa gehegten Hoffnung, „dass die Freiheit und die Demokratie sowie die Unverletzbarkeit der Grenzen dazu beitragen, dass wir ein freies Europa erleben, in dem wir die schlimmen Erfahrungen des letzten Weltkrieges und der Zerstörung, die er mit sich gebracht hat, die unglaublichen Folgen, die er durch den unglaublichen Mord an den europäischen Juden, aber eben auch das Schicksal der Vertreibung mit sich gebracht hat, hinter uns gelassen haben, indem wir dazu beigetragen haben, dass eine friedliche Perspektive möglich wird.“

Dabei fokussierte der Kanzler seine Russland-Kritik auf den Bruch mit dem für das Europa der Nachkriegszeit konstitutiven völkerrechtlichen Grundsatz, „dass Grenzen nicht mehr mit Gewalt verschoben werden dürfen. Es war doch die eigentliche Konsequenz und das eigentliche Ergebnis der Entspannungspolitik der 70er-Jahre, dass wir uns in KSZE und OSZE darauf verständigt haben, dass eine solche gewaltsame Verschiebung von Grenzen nicht mehr stattfindet. Wir haben uns lange genug vor all denjenigen gefürchtet, die in Geschichtsbüchern geblättert haben, nachgeschaut haben, wo Grenzen früher einmal verlaufen sind, um dann daraus kriegerische Ambitionen für sich abzuleiten und furchtbare Zerstörung anzurichten, und wir wissen ganz genau, wohin das führt, wenn gewissermaßen jemand in den Atlanten der Vergangenheit guckt, wo man Grenzen schon einmal gezogen hat.“

Hier vollzog Scholz eine globale Perspektivweitung und berichtete aus einem Gespräch mit dem Präsidenten Kenias über die Konsequenzen des europäischen Kolonialismus: „Wenn wir in Afrika“, zitierte er sein Gegenüber, „daraus jetzt Konsequenzen ableiten würden und Grenzen wieder neu verschieben würden, wo sollte das enden?“ Bezug nahm Scholz zugleich auf das diesjährige Motto des „Tages der Heimat“: „Krieg und Vertreibung – Geißeln der Menschheit“. Um ein Ende dieser „Geißeln“ zu erreichen, genüge es aber nicht, „pauschal nach Friedensverhandlungen zu rufen, wie es einige tun“, denn „mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln außer über die eigene Kapitulation“. Voraussetzung für einen Frieden sei daher, „dass Putin erkennt: Er wird seine Ziele nicht erreichen. Sein Imperialismus wird nicht siegen.“

Humanitäre Hilfe und Brückenbau

Von diesem Ausgangspunkt aus entfaltete der Kanzler die militärische und humanitäre Unterstützungspolitik seiner Regierung – und würdigte mit Blick auf die Flüchtlingsaufnahme ebenso den Einsatz der Zivilgesellschaft. In diesem Zusammenhang dankte Scholz dem Bund der Vertriebenen dafür, sich „über alle Maßen engagiert“ zu haben, „zum Beispiel durch Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer vor Ort in den Beratungsstellen oder online. Sie haben Hilfe für Flüchtlinge in der Ukraine organisiert […]. Auch über die Landsmannschaften haben Sie Spenden- und Hilfsaktionen ins Leben gerufen – in enger Zusammenarbeit mit den deutschen Minderheiten in der Ukraine, Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien.“ Es habe sich „wieder einmal gezeigt, wie gut und eng“ deren Verbindungen seien: „sie sind wahre Brückenbauer“.

Angesichts des lange Zeit in der öffentlichen Diskussion perpetuierten Bildes, die als reaktionär empfundenen Vertriebenenverbände seien nicht repräsentativ für die Gesamtheit der von ihnen vertretenen gesellschaftlichen Gruppe, war es bezeichnend, dass Scholz dezidiert betonte, die „Vertriebenen, aber eben auch ein Verband wie der BdV haben die richtigen Schlüsse aus der Geschichte gezogen, indem sie eben nicht im ständigen Rückblick einer vermeintlich guten alten Zeit nachtrauern, sondern dabei mithelfen, dass unsere Gegenwart und Zukunft geprägt sind von mehr Menschlichkeit, Mitgefühl und Versöhnung.“

Bekenntnis zur Kulturförderung weckt Erwartungen

Daher sei es „gut für unser Land, wenn die Kinder- und Enkelgenerationen am Schicksal der Heimatvertriebenen und Spätaussiedler Anteil nehmen.“ Familienforschung, Erkundung der Regionalgeschichte, vor allem aber die vielfältigen Kontakte der Heimatvertriebenen und ihrer Nachfahren – einschließlich hieraus entwickelter karitativer Projekte – bezeichnete Scholz als einen „Teil der Aussöhnung in Europa“, für den bereits „im Jahr 1950 die wegweisende Charta der Heimatvertriebenen“ gestanden habe, „in der es heißt: ‚Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.‘“ Vor diesem Hintergrund bekannte sich Scholz „ganz ausdrücklich zur Unterstützung des Bundes der Vertriebenen und seiner Versöhnungsarbeit“: „Dazu zählt, die Kultur und die Geschichte der Deutschen aus den ehemaligen Siedlungsgebieten im östlichen Europa lebendig zu halten.“

Diese Worte des Bundeskanzlers stehen freilich in einer gewissen Spannung zum restriktiven Haushaltsansatz von Kulturstaatsministerin Claudia Roth für die Projektmittel im Bereich der Kulturarbeit nach dem Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz (BVFG). Deren Kürzung stellt eine wesentliche Einschränkung insbesondere für die Arbeit der Kulturreferenten dar. Daher vermögen die Ausführungen des Bundeskanzlers vor allem die Erwartung zu wecken, dass ihnen am Kabinettstisch Entscheidungen folgen, die insgesamt zu einer Besserung der finanziellen Situation führen. Dabei müssten sie nicht zuletzt auch dazu beitragen, dass die staatlichen Institutionen an der kooperativen Haltung gegenüber den Vertriebenenorganisationen festhalten, zu welcher der Regierungsbeschluss zur Kulturförderung nach BVFG von 2016 verpflichtet – und die etwa die Arbeit der Kulturstiftung Westpreußen bzw. des Westpreußischen Landesmuseums betrifft: „Rückgrat des Bereichs sind die institutionell durch den Bund geförderten Museen, Kulturreferentinnen und -referenten, die Einrichtungen der kulturellen Vermittlung und Öffentlichkeitsarbeit sowie die Forschungsinstitute, die ihre aus § 96 BVFG folgenden Aufgaben auch in bewährter Kooperation mit den Landsmannschaften und den landsmannschaftlichen Verbänden erfüllen.“

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2023.

„Der Heilige Stuhl wackelt ein bisschen“

Weltgebetstag 2023: Gespräch mit dem taiwanesischen Repräsentanten in Deutschland

Taiwan steht im Zentrum des Weltgebetstags 2023, der heute begangen wird. Aus diesem Anlass hat zeitzeichen-Mitarbeiter Tilman Asmus Fischer mit Professor Jhy-Wey Shieh gesprochen. Er ist Repräsentant von Taiwan in der Bundesrepublik Deutschland.

Ende der 1980er-Jahre gelang der Republik China, so der offizielle Name, die erfolgreiche Transformation von einer Militärdiktatur in eine lebendige Demokratie. Der Volksrepublik China gilt Taiwan jedoch als abtrünnige Provinz – und weltweit erkennen nun 14 Staaten die Republik als souveränen Staat an. Christen standen als politische Akteure sowohl auf der Seite der Demokratiebewegung als auch derjenigen der mit Kriegsrecht regierenden Kuomintang. Heute genießen insbesondere buddhistische Tempel politischen Einfluss. Vor dem Hintergrund dieser Gemengelage sieht Professor Jhy-Wey Shieh, der Repräsentant Taiwans in der Bundesrepublik Deutschland, den diesjährigen Weltgebetstag als ein hoffnungsvolles Zeichen.

zeitzeichen: Exzellenz, drei Tage vor dem heutigen Weltgebetstag hat Taiwan wie jedes Jahr an den 28. Februar 1947 erinnert. Welche Ereignisse verbinden sich mit diesem Datum?

Jhy-Wey Shieh: 1945 hatte die Republik China, die damals ganz China umfasste, die Herrschaft über Taiwan übernommen und von der japanischen Kolonialherrschaft befreit. Schnell wurden jedoch die hiermit verbundenen Hoffnungen der Taiwaner auf ein Ende der kulturellen Unterdrückung enttäuscht, da die in China regierende „Nationale Volkspartei Chinas“ Kuomintang (KMT) unter Chiang Kai-shek ihrerseits Taiwans Sprache und kulturelle Identität zugunsten des Mandarin und einer gesamtchinesischen Identität zu unterdrücken begann. Proteste der Taiwaner und gewaltsame Reaktionen der chinesischen Regierung führten ab dem 28. Februar 1947 zu einem Massaker, dem 10.000 bis 30.000 Zivilsten zum Opfer fielen. Zugleich war der 28. Februar 1947 ein Vorbote der Zeit von 1949 bis 1987, in der die KMT – nach der Vertreibung vom Festland durch die Kommunisten unter Mao – Taiwan mit dem Instrument des Kriegsrechts als Ein-Parteien-Staat regierte.

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Gefährdete Unabhängigkeit

Welche Leitlogik prägt die Militärseelsorge? Ein ökumenisches Gespräch offenbart theologische Leerstellen

Von Tilman Asmus Fischer

Als die beiden evangelischen Theologen Isolde Karle und Niklas Peuckmann 2020 ihren Sammelband „Seelsorge in der Bundeswehr. Perspektiven aus Theorie und Praxis“ herausgaben, betonten sie in ihrer Einleitung in besonderer Weise die Herausforderung, „die stets gefährdete Unabhängigkeit der Militärseelsorge zu erhalten und zu fördern“: „Jede ‚Bereichsseelsorge‘, mithin jede Seelsorge, die in einer nicht-religiösen Institution angesiedelt ist, steht in der Gefahr, von der Leitlogik der gastgebenden Institution absorbiert zu werden. Das Soziale ist in aller Regel stärker als das Bewusstsein, deshalb lassen sich Seelsorgerinnen und Seelsorger leicht in den Sog der Systemlogik ziehen, die in einer Institution vorherrschend ist, – ob das die Schule, das Krankenhaus oder die Bundeswehr ist. In der Bundeswehr scheint diese Dynamik besonders ausgeprägt zu sein.“

Anschauungsmaterial dieser ‚Dynamik‘ bot am 7. Februar ein vom „Berlin Center for Intellectual Diaspora“ an der Katholischen Akademie veranstaltetes Hintergrundgespräch unter dem Titel: „Seele und Moral der Truppe – was tut und was soll Militärseelsorge heute?“ Eingeladen hatte das Center, dessen Leiterin Dr. Gesine Palmer den Abend moderierte, drei ‚Strausberger‘: die Leiter des Evangelischen bzw. Katholischen Militärpfarramts Strausberg, die Militärdekane Otto Adomat und Siegfried Weber, sowie den im Kommando Heer mit Sitz in Strausberg für Fragen der Inneren Führung zuständigen Oberst York Buchholtz.

Auf dem Podium
Auf dem Podium (v.l.n.r.): Militärdekan Siegfried Weber, Dr. Gesine Palmer, Militärdekan Otto Adomat, Oberst York Buchholtz (Foto: Ting-Chia Wu).

Gewiss, alle drei betonten dezidiert den hohen Wert der rechtlich verbrieften Unabhängigkeit der Militärseelsorge in der Bundeswehr: Die Bindung der Geistlichen an das Beicht- bzw. Seelsorgegeheimnis, ihre Stellung jenseits der militärischen Hierarchie und den damit gewährten Schutz vor einer Indienstnahme der Seelsorge durch die militärische Führung. Dennoch stimmten die Kurzvorträge sowie die Diskussion nachdenklich mit Blick auf das zur Sprache gebrachte pastorale Selbstverständnis bzw. theologische Hintergrundannahmen, bei denen sich wiederholt die Frage aufdrängte, welche ‚Leitlogik‘ für sie ausschlaggebend ist: eine militärische oder eine kirchliche bzw. theologische.

Am deutlichsten war die Prägung durch eine kirchliche ‚Leitlogik‘ beim katholischen Militärdekan Weber zu erkennen, der das Aufgabenprofil eines Militärgeistlichen prinzipiell als demjenigen des Priesters in einer Zivilgemeinde gleichgestaltet beschrieb. Weber sprach als bodenständiger Praktiker, als zugewandter Seelsorger, der – Grundvoraussetzung seines Dienstes – „Menschen mag“ und „Soldaten mag“. Durch ihn – wie durch die anderen Podiumsteilnehmern – wurde jedoch kaum die Ebene einer kritischen Hinterfragung des militärseelsorgerlichen Wirkens im von Karle und Peuckmann skizzierten Sinne erreicht. Die Diskussion verblieb weitestgehend in einer positivistischen Darstellung des selbsterlebten Ist-Zustandes der Pastoral unter Soldaten.

Hellhörig konnte man freilich werden, als Weber seinen evangelischen Amtskollegen als „Kamerad Adomat“ titulierte. Dass Militärgeistliche – zumal im Kontext und vor dem Hintergrund gemeinsam erlebter Einsatzerfahrungen – für die ihnen anbefohlenen Soldaten die Bezeichnung des Kameraden verwenden, ist nachvollziehbar und mag womöglich auch unter poimenischen Gesichtspunkten legitim sein. Was aber sagt es über die hinter dem eigenen Dienst als Pfarrer stehenden Überzeugungen aus, wenn man im Miteinander unter Amtsbrüdern – und eben nicht im Austausch mit der ‚gastgebenden Institution‘ – eine Selbstbezeichnung verwendet, die sich gerade nicht aus dem gemeinsamen kirchlichen Dienst, sondern aus der ‚Systemlogik‘ des Militärischen speist?

Diese Anrede mag aber vielleicht auch dadurch getriggert worden sein, dass „Kamerad Adomat“ sich selbst recht rustikal in Szene setzte. So klar er sein Wirken auch durch konsequenten Bezug auf Seelsorge und Verkündigung als ein geistliches profilierte, erstaunt doch, dass er in seinem Eingangsstatement als persönliche Motivation zum Dienst als Militärseelsorger den Wunsch fokussierte, „meinem Land – der Bundesrepublik – etwas zurückzugeben“. Dies entspricht dem legitimen soldatischen Selbstverständnis „Wir dienen Deutschland“ – fraglich ist hingegen, ob diese Akzentsetzung dem Proprium entspricht, welches der Wahlspruch der Evangelischen Militärseelsorge insinuiert: „domini sumus“. Werden Militärseelsorger in der theologischen Fachliteratur gerne als „outstanding insiders“ bezeichnet, so konnte man bei Adomat eher den ‚insider‘ als das ‚outstanding‘ betont sehen. So wird er gewiss mit der Beobachtung recht haben, dass die Einsatzwirklichkeit mit erlebter Auftragserfüllung, Kameradschaft und der Begegnung mit Soldaten befreundeter Armeen über geistige Ressourcen für den soldatischen Dienst verfügt. Seine Stilisierung der religiösen Dimension von Kriegserfahrungen ließ jedoch eine kritische Haltung gegenüber der Lebenswirklichkeit der ihm anvertrauten Soldaten vermissen. Dabei täte man dem evangelischen Militärdekan unrecht, ihn als Militaristen misszuverstehen – konnte er doch andererseits etwa die Bedeutung der Versöhnungsliturgie von Coventry im Militärgesangbuch und damit Versöhnung als Zielperspektive auch soldatischen Handelns hervorheben.

Karle und Peuckmann sehen den Trend zur ‚Absorbierung‘ von Militärgeistlichen durch das System Bundeswehr nicht zuletzt darin begründet es sich hierbei um eine Institution handelt, „die ausgeprägter als andere Institutionen, in denen Seelsorgerinnen und Seelsorger tätig sind, durch hierarchische Strukturen bestimmt ist und zugleich dazu tendiert, Seelsorgerinnen und Seelsorger als fest integrierte Bestandteile des Systems zu begreifen.“ Diese Tendenz klang auch bei Oberst Buchholtz an, der in seinem Eingangsstatement von der Militärseelsorge auch als „Führungsinstrument“ sprechen konnte, zu dessen Nutzung er jeden militärischen Führer nur ermuntern könne. Bereits zuvor hatte er betont, dass viele der Angehörigen von Kampfverbänden zwar keine Christen seien, aber der mit Einsatzrealität konfrontierte Soldat dennoch eine Person brauche, die ihm sagt: „Du kämpfst für das richtige.“ Diese Engführung der Seelsorge auf die moralische Legitimierung des kriegsvölkerrechtlich Legalen mag der Systemlogik einer Armee entsprechen – und die Offenheit, in der sich Oberst Buchholtz zu dieser Haltung bekannte, verdient Anerkennung. Bemerkenswert ist jedoch, dass keiner der anwesenden Militärseelsorger sie theologisch begründet hinterfragte.

In anderer Form erschienen am 16. Februar 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

„Putins Intention war klar gescheitert“

Ein Blick auf die Hintergründe und Folgen des Kriegs in der Ukraine

Von Tilman Asmus Fischer

„Warum dieser Krieg? Warum jetzt?“ Diese Fragen prägten den Tenor des medialen Echos auf den russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 – und mit ihnen überschreibt Gwendolyn Sasse das erste Kapitel ihres Ende desselben Jahres in der Reihe „C. H. Beck Wissen“ erschienen Buches, welches dem „Krieg gegen die Ukraine“ eine prägnante Überblicksdarstellung und Analyse widmet. Dabei erwartet den Leser mehr als eine Ereignisgeschichte der vergangenen fast zwölf Monate, nämlich eine kluge und weitsichtige Einordnung ebendieser in historische und politische Prozesse seit dem Untergang der Sowjetunion und insbesondere ab 2014. Denn der Krieg beginnt für die Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien begründetermaßen bereits mit der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion und geht nach dem unmittelbar hieran anschließenden Krieg im Donbas mit dem Angriffskrieg 2022 bereits in seine dritte Phase.

Das Geschehen seit 2014, sowie seine Folgen sind Gegenstand des zweiten Teils des Buches, während sich der erste der Vorgeschichte annimmt und Entwicklungen sowohl in der Ukraine als auch in Russland fokussiert. Dabei vermeidet Sasse explizit eine Verengung auf das Narrativ von „Putins Krieg“, sondern bietet zur Erklärung der Eskalation seit Februar 2022 vielmehr ein „Geflecht von miteinander verbundenen Entwicklungen“ an, welches seine Mitte findet in „Russlands autoritäre[m] Systemerhalt samt seiner neo-imperialen Machtprojektion“ hat. Hinzu treten als weitere entscheidende Faktoren „die Durchdringung der russischen Gesellschaft mit staatlicher Geschichtspolitik und Propaganda“, „die Demokratisierung und Westorientierung der Ukraine“, „die Stärkung einer staatszentrierten ukrainischen Identität“, „die zunehmende Diskrepanz zwischen westlichen und russischen Sicherheitswahrnehmungen“, „die wachsenden Widersprüche in der westlichen Russland-Politik“ sowie „die Sukzessive Ausweitung des Krieges seit 2014“.

In Aufgriff einzelner dieser Faktoren vertieft Sasse die Perspektive auf die Ukraine und Russland in einzelnen Kapiteln zu drei zentralen Aspekten: Hinsichtlich der Ukraine nimmt sie einerseits unter den Schlagwörtern „Unabhängigkeit und Territorium“ die Diskurse um die territoriale Integrität und Identität der Ukraine nach dem Ende der Sowjetunion in den Blick. Andererseits entwirft sie eine stimmige Geschichte der politischen Transformation der Ukraine seit ihrer Eigenständigkeit, in der aufgrund des „enge[n] Zusammenhang[s] von Protest und Transformation“ die „Gesellschaft zur Hauptfigur“ wird. Russland tritt nochmals unter den Gesichtspunkten des „Autoritarismus und (Neo-)Imperialismus“ in Erscheinung. Dabei schlägt die Autorin, die selbst den Lehrstuhl für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin bekleidet, als Interpretament für das gegenwärtige russische Regime den Begriff „digitaler Autoritarismus“ vor. Dieser „erfasst die miteinander verwobenen Aspekte von Überwachungsmechanismen, der Omnipräsenz staatlicher Propaganda und der Medienaufsicht, eine bewusste Verunsicherung der Bevölkerung durch unterschiedliche Darstellungen internationaler Ereignisse und die teilweise Kontrolle des Internets auf dem Weg zum deklarierten Ziel eines spezifisch russischen ‚souveränen Internets‘“.

Der nüchtern-klarsichtige Zugriff, der bereits den ersten Teil des Buchs prägte, kommt ebenso im zweiten, die Jahre ab 2014 erörternden, Teil auf wohltuende Weise zu Geltung. Denn die Autorin zeichnet sich ebenso durch ‚Mut zur These‘, wie durch sachliche Unvoreingenommenheit in der Begründung aus. So benennt Sie mehrfach und ohne Umschweife dass aus allen Befunden ihrer Analyse sprechende Kriegsziel Russlands, wie es sich in den vergangenen Jahren entwickelt hat: „Es geht um die Zerstörung des ukrainischen Staats und der Idee einer eigenständigen ukraininischen Nation.“ Die deutliche Einschätzung der verbrecherischen Kriegsführung durch den Kreml verleitet Sasse jedoch nicht dazu, in anti-russische Narrative zu verfallen. So vermag sie etwa auf die Schwarzmeer-Halbinsel bezogene historische Narrative und Ansprüche krimtatarischer, russischer wie ukrainischer Provenienz gleichermaßen zur Geltung zu bringen – unbeschadet der Feststellung, dass es sich bei der Krim vor 2014 soziokulturell wie -politisch um einen „typischen Teil des Südostens der Ukraine“ handelte.

Dabei betont die Autorin wiederholt die faktische Relativierung ethnischer Identitätsmarker durch die Herausbildung einer staatlich orientierten Identität unter den Bürgern der Ukraine – bei gleichzeitiger Akzentuierung der regionalen Diversität innerhalb der ukrainischen Identitätsbildungsprozesse. Ausgehend von Ergebnissen der empirischen Sozialforschung zeigt Sasse dann gar auch, dass „Russlands Krieg gegen die Ukraine […] schon in seinen ersten zwei Phasen eine übergeordnete staatliche [ukrainische; TAF] Identität gestärkt [hatte], anstatt intern polarisierend zu wirken. Putins Intention war klar gescheitert.“ Exklusiv mit der dritten Phase des Krieges – also ab dem 24. Februar 2022 – befassen sich lediglich gut 20 Seiten, die in dichter Weise die zurückliegenden fast zwölf Monate rekapitulieren und analysieren. Dabei wird die Bereitschaft der Ukraine zu Verhandlungen ebenso deutlich wie Russlands gänzlich gegenläufige Haltung. Zurückhaltend ist Sasses Einschätzung zur kurzfristigen Wirksamkeit der westlichen Sanktionspolitik – mit Blick auf das Abstimmungsverhalten der VN-Gremien im Fall des Krieges, warnt sie gar, „dass Russland bei weitem nicht so international isoliert ist, wie im Westen oft betont wird“.

Es ist zu erwarten, dass der bereits vorliegenden zweiten Auflage von Sasses lesenswertem Buch noch weitere folgen werden, die dann womöglich als „korrigiert“, „überarbeitet“ oder „erweitert“ gekennzeichnet sein werden. Dies wird jedoch lediglich Daten, Karten, Frontverläufe und Prognosen betreffen. Keiner Revision bedürfen wird Sasses Plädoyer für einen neuen Blick des Westens auf die Ukraine – bzw. den gesamten ostmitteleuropäischen Raum. Die Autorin fordert – und dies zurecht – nicht weniger als „die Anerkennung (post-)imperialer Denkmuster, die zu lange die Sowjetunion mit Russland gleichsetzten und die Länder Ostmitteleuropas in ihrer politischen und kulturellen Vielfalt von unserer Wahrnehmung abkoppelten“. Wiederholt entlarvt Sasse an verschiedenen Stellen die Wirkmächtigkeit derartiger Denkmuster, die – etwa im Falle der lange Jahre in die Irre gehenden deutschen Russlandpolitik – fatale Konsequenzen zeitigten. Man kann nur hoffen, dass die ‚Zeitenwende‘ nicht nur für die militärische Infrastruktur und eine geostrategische Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik, sondern ebenso für westliche Narrative über ‚den Osten‘ nachhaltige Wirkung entfaltet. Gwendolyn Sasse leistet hierzu jedenfalls einen wesentlichen Beitrag.  

Gwendolyn Sasse: Der Krieg gegen die Ukraine. Hintergründe, Ereignisse, Folgen. C.H. Beck München 2022, 128 Seiten, ISBN-13: 978-340679-305-9, EUR 12,–

Erschienen am 2. Februar 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

„Breite Kreise haben die Bedeutung der Ukraine erkannt“

Welche Einsichten eröffnet der Krieg in der Ukraine über Russland? Und wie nachhaltig wird er die politische Landschaft in der Ukraine verändern? Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien, gibt Antworten.

Gwendolyn Sasse ist Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien. Jüngst veröffentlichte sie die Gesamtdarstellung „Der Krieg gegen die Ukraine“ (C.H. Beck).

Frau Sasse, in Ihrem kürzlich erschienenen Buch bieten Sie eine schlüssige Darstellung und Deutung des bisherigen Krieges Russlands gegen die Ukraine. Waren die Ereignisse seit dem 24. Februar 2022für Sie in den vorangegangenen Jahren vorhersehbar?

Es ist wichtig, den Beginn des Krieges auf 2014 zu datieren: Mit der Krim-Annexion beginnt der Krieg Russlands gegen die Ukraine, er setzt sich dann im Donbass-Krieg, den es ohne Russlands militärische und finanzielle Unterstützung nicht gegeben hätte, fort, und das ganze kulminiert dann in der dritten Phase dieses Krieges mit der großen Invasion ab letztem Februar. Ich habe die Krim-Annexion nicht vorhergesehen – und ich bin jemand, der sich seit den 90er Jahren mit der Krim beschäftigt hat – und ich würde soweit gehen, zu sagen: Auch die Krim-Bevölkerung, die ukrainische Bevölkerung und Politik ohnehin, aber auch die Bevölkerung in Russland sind von dem Akt überrascht worden.

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Beauftragte in schwierigen Zeiten

Natalie Pawlik im Interview

Russlands Krieg gegen die Ukraine, Diskriminierung deutscher Schüler in Polen – die Lage, in der Natalie Pawlik MdB das Amt der Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten angetreten hat, kann gewiss nicht als leicht bezeichnet werden. Im Interview mit Tilman A. Fischer spricht die 1992 im sibirischen Wostok geborene Sozialdemokratin über ihre Positionen, persönliche Anliegen und die Erfahrungen der ersten Monate im Amt.

Frau Pawlik, Sie sind als russlanddeutsche Spätaussiedlerin nach Deutschland gekommen. Gibt es einen konkreten biographischen Moment, von dem Sie rückblickend sagen würden, dass Ihnen die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Gruppe der Aussiedler erstmals explizit bewusst geworden ist?

Dadurch, dass ich meinen Großvater noch kennengelernt habe, dessen Biographie sehr von den Kriegsfolgen geprägt war, war das Schicksal der Russlanddeutschen immer ein Thema in unserer Familie. Wir haben – zumal aufgrund der Traumatisierung meines Großvaters – immer offen über diese Geschichte gesprochen. So richtig ist mir in der Grundschule bewusst geworden, dass wir zu einer besonderen Gruppe gehören: Ich wohnte in einem Aussiedlerwohnheim – andere Mitschüler in „normalen“ Häusern oder Wohnungen. Dass wir irgendwie anders sind, wurde ab diesem Zeitpunkt immer deutlicher. Außerdem hatte ich in meiner Biographie immer wieder Phasen – zum Beispiel als Teenager –, in denen ich mehr mit russischsprachigen Menschen zu tun hatte und dadurch natürlich auch in Identitätskonflikte gekommen bin.

Wann wurden diese Erfahrungen und Zusammenhänge für Sie als Politikerin relevant?

Seit dem „Fall Lisa“, im Jahr 2016, habe ich angefangen mich sehr offensiv mit Aussiedlerpolitik zu befassen, weil es mich sehr geärgert hat, wie zu der Zeit in den Medien über Russlanddeutsche berichtet wurde. Eine ganze Gruppe wurde damals in ein negatives Licht gerückt. Es hat mich wütend gemacht, dass nicht die Vielfalt der russlanddeutschen Community, die Vielen, die sich engagieren und Teil dieser Gesellschaft sind, im Fokus standen, sondern die Russlanddeutschen immer nur in einem negativen Kontext dargestellt wurden. Das wollte ich damals nicht zulassen und so habe ich begonnen, mich intensiv mit Aussiedlerpolitik und den Herausforderungen der Community zu beschäftigen

Welche Erfahrungen haben Sie in den Jahren als Jugendliche und junge Politikerin mit den Selbstorganisationen der Deutschen aus Russland gesammelt?

Als Jugendliche war ich in der Tanzgruppe „Internationaler Club Bad Nauheim“ aktiv – zusammen mit Menschen aus unterschiedlichen Nationen, darunter viele Russischsprachige: jüdische Kontingentflüchtlinge und Russlanddeutsche. Hierüber kam ich zur Deutschen Jugend aus Russland (DJR), dort habe ich recht früh begonnen Theater zu spielen und an Jugendprojekten teilzunehmen. Seit 2016/17 bin ich auch Mitglied bei der Deutschen Jugend aus Russland in Hessen. Dort habe ich im Rahmen der politischen Bildungsarbeit als Referentin und Teilnehmerin mitgewirkt. Im Rahmen meiner neuen Aufgabe als Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten arbeite ich sehr eng mit den Selbstorganisationen, den Vereinen und Landsmannschaften der verschiedenen Aussiedlergruppen zusammen. Dieser enge Austausch und der regelmäßige Kontakt sind mir auch sehr wichtig.

Nun ist das Verhältnis Ihrer Partei zu den organisierten Vertriebenen und Aussiedlern historisch nicht spannungsfrei. Wie reagierte man in den Reihen der SPD auf Ihr Engagement?

In der SPD wurde es immer sehr positiv wahrgenommen, dass ich mich als Russlanddeutsche in der Partei engagiere. Zugleich habe ich immer versucht, innerhalb der Partei einen Zugang zu aussiedlerpolitischen Themen zu organisieren und für gegenseitiges Verständnis zu sorgen und Menschen zusammenzubringen. Es ist natürlich immer herausfordernd, in der SPD – wie auch in den anderen Parteien – ein Bewusstsein für aussiedler- und vertriebenenpolitische Fragen zu schaffen, da diese oft als Nischenthemen abgestempelt werden. Dennoch konnte ich immer wieder offene Türen einrennen. Was mich jedoch aufgebracht hat, war, wenn ich auch aus den eigenen Reihen Kommentare über „die Russlanddeutschen“, die als „die Russen“ oder „die AfD-Wähler“ bezeichnet wurden, gehört habe. Ich sehe es als meine Aufgabe an, dafür zu sorgen, das Wissen über die Anliegen und die Geschichte von Aussiedlern und Vertrieben weiterzutragen und dafür zu sorgen, dass Vorurteile abgebaut werden.

Und wie sieht es umgekehrt aus: Wie werden Sie als sozialdemokratische Fachpolitikerin von den Zielgruppen wahrgenommen?

Bei meiner Tätigkeit geht es vordergründig um die Anliegen der Angehörigen der nationalen Minderheiten, der deutschen Minderheiten und der verschiedenen Aussiedler- und Vertriebenengruppen. Da spielt meine Parteizugehörigkeit eine nebensächliche Rolle. Es freut mich aber natürlich, wenn es mir gelingt, innerhalb der Sozialdemokratie ein Interesse für die Themen der Vertriebenen und Heimatverbliebenen herzustellen, ebenso wie ich mich freue, wenn sich Vertriebene und Heimatverbliebene sozialdemokratischen Ideen öffnen. Tatsächlich hatten – etwa die deutschen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa (MOE) sowie den Staaten der ehemaligen Sowjetunion – bisher wenige direkte Berührungspunkte mit der SPD. Nicht zuletzt, weil die Position des Aussiedlerbeauftragten lange Zeit konservativ besetzt war, aber auch, weil es in der SPD bisher keine große Gruppe gibt, die sich für die deutschen Minderheiten engagiert. Anfang November hatten wir aber bereits ein gutes Treffen zwischen der Spitze der SPD-Bundestagsfraktion und der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Minderheiten (AGDM). Das sind Brücken, die ich gut bauen kann und bauen möchte, auch im Sinne der politischen Vielfalt und Überparteilichkeit in diesem Politikfeld.

Gibt es so etwas wie einen sozialdemokratischen Schriftzug, der in Ihrer Wahrnehmung des Amtes als Beauftragte der Bundesregierung deutlich werden könnte?

Ich setze Aussiedler- und Vertriebenenpolitik zum einen stark in den gesamtgesellschaftlichen Kontext. Das heißt, ich habe den Anspruch, nicht nur an die Geschichte zu erinnern, sondern tages- und sozialpolitische Bezüge herzustellen: Wie war der Integrationsprozess der Vertriebenen und Aussiedler? Welche strukturellen Hürden müssen sie und ihre Nachkommen auch heute noch meistern? Wie können sie dabei unterstützt werden? Was können wir aus der Geschichte der Aussiedler und Vertriebenen für die Gegenwart lernen, um die Aufnahme- und Integrationsprozesse zu verbessern und Vielfalt in unserer Gesellschaft zu stärken? Zum anderen habe ich einen sehr offenen Heimatbegriff: Für mich ist Heimat nicht diskriminierend, sondern inklusiv. Die Bundesrepublik Deutschland soll auch für Menschen Heimat sein, die woanders geboren wurden und woanders herkommen. Entscheidend ist die Frage, wie eine moderne, vielfältige Gesellschaft aussehen kann, in der Aussiedler sowie die deutschen Heimatvertriebenen und ihre Nachfahren ihre Identität und ihre Mehrsprachigkeit leben können und sie gesellschaftliche und soziale Teilhabe haben. Dabei geht es nicht zuletzt auch um Sichtbarkeit – als Teil der Gesellschaft.

Seit der Ernennung zur Aussiedlerbeauftragten hatten Sie bereits vielfältige Gelegenheiten, ihren Blick über die russlanddeutsche Gemeinschaft hinaus zu weiten. Welche Erfahrungen und Eindrücke sind dabei von zentraler Bedeutung?

Vor meiner Ernennung hatte ich noch keine enge Zusammenarbeit mit Teilen der Landsmannschaften oder den Selbstorganisationen der deutschen Minderheiten in MOE und der Gemeinschaft unabhängiger Staaten. Im Zuge meiner Ernennung habe ich aber natürlich zeitnah Kontakt aufgenommen und die meisten Akteurinnen und Akteure kennengelernt. So konnte ich zum Beispiel im Rahmen des Sudetendeutschen Tages wichtige Vertreterinnen und Vertreter dieser Gruppe kennenlernen, und konnte beispielsweise bei meiner Reise nach Polen der deutschen Minderheit in Polen in ihrer Breite begegnen. Die Auseinandersetzungen mit der Frage des Heimatverlustes und das Ankommen in einer neuen Heimat ähneln den Diskursen, die ich auch aus der russlanddeutschen Community kenne. Es gibt zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppen, für die ich zuständig bin. Gleichwohl ist jede Gruppe in ihrer Geschichte, ihren Traditionen, ihren Arbeitsweisen und ihren Anliegen sehr individuell. Das finde ich spannend zu sehen. Auch meine Besuche bei den nationalen Minderheiten in Deutschland haben meinen Blick nochmal neu für die Geschichte und die Herausforderungen der einzelnen Gruppen geöffnet – mit allen Unterschieden und Gemeinsamkeiten. Am Ende geht es aber doch bei allen um Sichtbarkeit, Teilhabe, Chancen, ein Leben frei von Diskriminierung; und das verbindet, nach meiner Einschätzung, letztlich auch alle Gruppen miteinander.

Sowohl für die deutschen Heimatvertriebenen als auch für die Heimatverbliebenen stellt sich in diesen Jahren die Herausforderung des Erinnerungstransfers. Welche Perspektiven sehen Sie hier?

Es ist sehr wichtig, dass wir weiterhin erinnern. Deshalb sind Institutionen wie das Dokumentationszentrum in Oppeln oder die ostdeutschen Landesmuseen wichtig, die die Geschichte weitertragen. Was ich aber auch betonen möchte: In Polen habe ich eine unglaublich lebendige Jugend der deutschen Minderheit erlebt – sie ist wahnsinnig aktiv. Dort engagieren sich sehr viele junge Menschen, die sich sowohl mit der Geschichte als auch mit der Gegenwart beschäftigen. Das finde ich sehr beeindruckend – und darum geht es eben gerade auch: Dass wir die junge Generation mitnehmen, die dem Ganzen eine Zukunft gibt. Die Jugendarbeit zu stärken ist mir ein wichtiges Anliegen.

Umso fataler sind die Maßnahmen der polnischen Regierung gegen die deutsche Volksgruppe. Wie schätzen Sie deren menschenrechtliche Lage ein und welche Handlungsmöglichkeiten haben Sie?

Ich bin sehr erschrocken darüber, dass in Europa, in Polen wieder Diskriminierungen einer Minderheit stattfinden – und zwar so offensichtlich: Wenn einseitig bei der deutschen Minderheit der muttersprachliche Unterricht gekürzt wird, werden damit Kinder für parteipolitische Interessen in Sippenhaft genommen. Das bedeutet ganz konkret: Über 50.000 Kindern wird die Möglichkeit genommen, in muttersprachlichem Deutschunterricht Deutsch zu lernen. Es gehört zu unseren Aufgaben, der deutschen Minderheit in diesen Zeiten zur Seite zu stehen. Ich freue mich sehr, dass wir vor diesem Hintergrund 5 Millionen Euro im Bundeshaushalt 2023 für die außerschulische Sprachförderung der deutschen Minderheit in Polen verankern konnten. Gleichzeitig versucht die Bundesregierung auch, auf diplomatischem Wege dahin zu kommen, dass die Kürzungen zurückgenommen werden.

Blicken wir noch etwas weiter nach Osten, sind wir gegenwärtig mit besonders schwerwiegenden Fragen konfrontiert. Welche Auswirkungen hat der russische Überfall auf die Ukraine auf Ihren Arbeitsbereich?

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine wirkt sich stark auf meine Arbeit aus. Einerseits gibt es dadurch starken Handlungsbedarf für die Heimatverbliebenen, also vor allem für die deutsche Minderheit in der Ukraine. Hier geht es um humanitäre Hilfe und die Unterstützung des Verbandswesens, aber auch um die Frage: Wie schaffen wir es für Menschen, die sich für eine Umsiedlung nach Deutschland entscheiden, eine schnelle Aufnahme im Rahmen eines Härtefallverfahrens zu ermöglichen? Gleiches gilt natürlich für die deutsche Minderheit in Russland, die gegenwärtig massiven Repressionen ausgesetzt ist. Die Organisationskonten sollten gesperrt werden, und zum Teil wurden sie als Agentenorganisationen gehandelt. Gleichzeitig stellt der Wechselkurs die Finanzierung von Projekten der deutschen Minderheit in Russland vor große Herausforderungen. Andererseits passiert sehr viel innerhalb der russischsprachigen Community hier in Deutschland. Es ist allgemein bekannt, dass Putin versucht, auch im Ausland seine Narrative und Desinformationen zu verbreiten. Bei einigen wirkt das nach wie vor. Daher ist es eines meiner zentralen Anliegen, daran zu arbeiten, dass die Desinformationskampagnen nicht erfolgreich sind, sondern dass unsere Gesellschaft zusammenhält. Ich kämpfe dafür, dass Desinformationen ihre Wirkung nicht entfallen können und trete dagegen an, dass Menschen völlig unbehelligt in Blasen der Desinformation unterwegs sind und sich dadurch von unserer Demokratie abkoppeln.

Wie kann das gelingen?

Zum Beispiel sind viele junge Menschen aus den Reihen der Spätaussiedler zuhause großen Konflikten ausgesetzt – oft mit ihren Eltern und Großeltern, die andere Informationen konsumieren. Diese Jugendlichen müssen in der Entwicklung von Kompetenzen unterstützt werden, um mit den Konfliktsituationen zurechtzukommen. Hier gilt es, ihnen im Rahmen der politischen Bildung Kommunikationsstrategien an die Hand zu geben, um auch zuhause unsere demokratischen Werte verteidigen, und Falschinformationen widerlegen zu können. Gleichzeitig ist es natürlich auch wichtig, dass wir die politische und digitale Bildung auch für Erwachsene und ältere Menschen stärken.

Welche Bedeutung kommt den Organisationen der deutschen Aussiedler und Heimatvertriebenen in der Bewältigung der Lage zu?

Wir haben ganz viele Vertriebenen- und Aussiedlerorganisationen, die bei der Aufnahme und der Unterbringung von Geflüchteten unterstützen, Hilfspakete und Spenden gesammelt und in die Ukraine gebracht haben. Unter den Vertriebenen und Spätaussiedlern gibt es eine große Solidarität und ein tiefsitzendes Erschrecken darüber, dass so etwas in Europa wieder passiert ist. Ganz viele russlanddeutsche Organisationen haben sich klar öffentlich gegen diesen Krieg positioniert. Ich bin davon überzeugt, dass diese Stimmen wichtig sind. Gleichzeitig arbeiten auch die Selbstorganisationen daran, dass unsere Gesellschaft gerade in diesen Zeiten zusammenhält.

Was aber kann zuletzt getan werden, um den bedrängten Deutschen in Putins Reich zu helfen?

Für sie öffnen wir ebenfalls das Härtefallverfahren bei der Aufnahme. Ich bin im ständigen Austausch mit den Vertreterinnen und Vertretern dort, um zu sehen, wie wir sie weiterhin unterstützten können. Wir können ihnen Wege zeigen, Russland sicher zu verlassen. Gerade auch im Kontext der Mobilmachung durch Putin haben wir das Härtefallverfahren für Menschen aus Russland geöffnet. Aber auch der deutschen Minderheit stehen wir zur Seite und helfen, wo wir helfen können.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2022.