Antikoloniales im Berlin der Zwanziger

Eine Ausstellung der Villa Oppenheim

Tilman A. Fischer

Seit 2017 prägt die Netflix-Serie „Babylon Berlin“ wie kaum ein anderes Produkt der Populärkultur das Bild der deutschen Hauptstadt in den goldenen Zwanzigern. Dieses Bild freilich ist erstaunlich weiß, stellt man in Rechnung, dass Berlin schon damals eine von globaler Mobilität geprägte Weltstadt war und die Kapitale eines Landes, in dem Menschen lebten, die aus dessen gerade erst abgetretenen Kolonialgebieten stammten.

Dies mag an Leerstellen im kollektiven Gedächtnis erinnern, wie sie immer wieder – und zuletzt mit zunehmender Vehemenz – problematisiert werden. Einen wichtigen Beitrag dazu, diese Lücken zu schließen, leistet die Ausstellung „Solidarisiert euch! Schwarzer Widerstand und globaler Antikolonialismus in Berlin, 1919–1933“ im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim.

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Erschienen in: Berliner Zeitung, Nr. 37, Dienstag, 13. Februar 2024, Seite 11.

Eine Chance für Bildung und Verständigung

Die Union Evangelischen Kirchen plant die Rückkehr eines Kunstschatzes nach Danzig. Ein Gastkommentar

Von Tilman A. Fischer

Bereits seit Jahrzehnten zeigt das Lübecker Annen-Museum wechselnde Einzelstücke aus dem Danziger Paramentenschatz – kunsthistorisch bedeutende liturgische Gewänder aus vorreformatorischer Zeit, die sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Besitz der evangelischen Marienkirchengemeinde in Danzig befunden hatten. Deren letzter Pfarrer, Gerhard Gülzow, rettete die kostbaren Textilien vor der Kriegszerstörung. Deren einer Teil landete in Thüringen, von wo er bereits kurz nach dem Krieg nach Danzig verbracht wurde – freilich nicht in die Marienkirche, sondern rechtswidrig in den staatlichen Besitz des Nationalmuseums Danzig. Der andere Teil gelangte – ebenso wie übrigens viele vertriebene Danziger – nach Lübeck. Hier wird er im Annen-Museum als Leihgabe der Union Evangelischer Kirchen (UEK), der Rechtsnachfolgerin der Danziger Gemeinde, öffentlich präsentiert – ebenso wie Einzelstücke im Germanische Nationalmuseum in Nürnberg.

Am 8. Dezember 2022 teilte die UEK über eine Pressemitteilung mit, sich mit der heute katholischen Marienkirchengemeinde in Danzig in einem „Letter of Intent“ auf eine Rückkehr der Paramente an ihren Herkunftsort und in das Eigentum der katholischen Gemeinde verständigt zu haben – unter der Auflage einer adäquaten Präsentation sowie konservatorischen Betreuung und bei fortgesetzter Präsenz von Einzelstücken als Leihgaben in Lübeck und Nürnberg. Diese Entscheidung bietet eine große Bildungschance: Am historischen Ort kann ausgehend von dem Paramentenschatz die Bedeutung des gemeinsamen deutsch-polnischen Kulturerbes – sowie die gemeinsame bzw. geteilte Geschichte beider Nationen – der Öffentlichkeit sichtbar gemacht und erschlossen werden.

Überrascht von der Entscheidung wurden im vergangenen Jahr die noch lebenden Vertriebenen aus Danzig und dessen Umland – dem früheren Westpreußen – sowie ihre historisch interessierten Nachfahren, die von dieser Vereinbarung erst durch die Presse erfuhren. Umso erfreulicher war es, dass die UEK ein Jahr später, am 8. Dezember 2023, die Öffentlichkeit zu einer Informations- und Diskussionsveranstaltung ins Haus Hansestadt Danzig in Lübeck eingeladen hat. Hier kamen neben Mitgliedern des deutsch-polnischen Beirats, der die Rückkehr der Paramente begleitet, auch Vertreter der Vertriebenen und ihrer Nachfahren zu Wort. Aus deren Reihen wurden kritische Anfragen – teils auch eine klare Ablehnung des Vorhabens –, jedoch auch weiterführende Vorschläge formuliert wie die Schaffung einer europäischen Institution, die für Bewahrung und Präsentation der Paramente in Danzig verantwortlich sein solle.

Erfreulich klar bekannten sich sowohl der Prälat der Marienkirche, Ireneusz Bradtke, als auch der Danziger Kunsthistoriker Tomasz Torbus zur gemeinsamen deutsch-polnischen – mithin europäischen – Prägung der kulturellen Identität Danzigs. Der von deutscher Seite her den Beirat koordinierende Oberkirchenrat Martin Evang betonte in seinem Statement, dass die UEK seit jeher wiederholt erhobene Eigentumsansprüche des polnischen Staates auf Sakralkunst evangelischer Gemeinden aus den früheren, heute zu Polen gehörenden, Kirchenprovinzen stets abgelehnt habe. Die anvisierte Schenkung erfolge aus voller Freiheit – dies werde auch durch den zu unterzeichnenden Schenkungsvertrag nochmals festgeschrieben.

Der Autor dieses Beitrags selbst würdigte als Vertreter der Westpreußischen Gesellschaft die beabsichtigte Rückkehr der Paramente als Beitrag sowohl der deutsch-polnischen Verständigung im obigen Sinne als auch als einen solchen der Ökumene. Der Gesichtspunkt, dass die UEK ihr rechtmäßiges Eigentum aus freiem Willen schenke, sei dabei insofern bedeutsam, als diese Klarstellung davor bewahre, die Schenkung mit gegenwärtigen Diskurse um die Restitution von Raubkunst zu vermischen.

Zu hoffen ist, dass die Einbindung der Vertriebenen und ihrer Nachfahren auf dem weiteren Weg hin zur Rückkehr der Paramente fortgesetzt wird. Eine solche Einbindung ist theologisch gut begründet: zum einen als Ausdruck der seelsorgerlichen Verantwortung gegenüber den betroffenen Mitgliedern der UEK-Gliedkirchen, zum anderen vom Selbstverständnis einer Kirche her, die sich als zivilgesellschaftlicher Akteur im Austausch mit anderen Kräften der Zivilgesellschaft versteht. Sollte dem Rechnung getragen werden, besteht Aussicht, dass die Rückkehr der Paramente tatsächlich zu Verständigung und Versöhnung beiträgt.

Tilman Asmus Fischer ist Vorstandsbeauftragter der Westpreußischen Gesellschaft – Landsmannschaft Westpreußen e.V. Der evangelische Theologe ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig.

Unter ähnlichem Titel erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 2/2024. Eine Kurzfassung erschien in: Evangelisch Zeitung (Schleswig Holstein) 2/2024.

Stein gewordene Erinnerung

Westpreußische Denkmäler nach dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft – eine Spurensuche

„Und Jakob nahm einen Stein und richtete ihn auf als Denkmal.“ (Gen 31,45) Bereits das Alte Testament bezeugt das urmenschliche Bedürfnis, existenziellen Erlebnissen und Erfahrungen sichtbaren und dauerhaften Ausdruck zu verleihen, sie durch das Errichten von Gedenksteinen – später Denkmälern – in das Gesicht der Landschaft einzuschreiben. Im Moment erleben wir vielfältige Debatten um die symbolische Gestaltung des öffentlichen Raums in Form von Straßennamen oder Denkmälern. Solche Diskussionen, wie wir sie in freiheitlichen Demokratien führen, waren und sind in autoritären Systemen nicht möglich. In ihnen ist der öffentliche Raum den Narrativen der politischen Führung unterworfen. Dies galt auch für die Volksrepublik Polen – mit der Folge, dass in den historischen deutschen Ostgebieten Erinnerungen an die früheren Bewohner eliminiert, die verbliebene deutsche Bevölkerung mangels der Möglichkeit politischer Artikulation von der Gestaltung des öffentlichen Raums ausgeschlossen und ein sichtbares Gedenken an deutsche Kriegsopfer per se tabuisiert war.

Mit dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft fand nicht nur eine Demokratisierung des politischen Systems, sondern ebenso eine solche der Erinnerungskultur und des öffentlichen Raums statt. Bisher unterdrückte Positionen hatten die Möglichkeit, sich zu artikulieren. Was bedeutet dies für die Denkmal-Landschaft einer Region? Dies sei im Folgenden für das Land an der unteren Weichsel nachvollzogen. Hier kam es seit 1990 zu vielfältigen Initiativen, das deutsche Erbe als Teil gemeinsamer deutsch-polnischer Geschichte sowie das Schicksal der deutschen Vertreibungsopfer öffentlich bewusst zu machen. Initiatoren waren sowohl Angehörige der deutschen Volksgruppe und Heimatvertriebene als auch Kirchengemeinden oder weitere zivilgesellschaftliche und kommunale Akteure. Welche historischen Phänomene werden mit den von ihnen errichteten Denkmälern auf welche Weise thematisch? Und welche gestalterischen Akzente setzen die unterschiedlichen Denkmäler?

Für eine Spurensuche bietet sich der von Gisela Borchers erstellte und 2013 von der Landsmannschaft Westpreußen herausgegebene Katalog „Erinnerungsstätten in Westpreußen“ als Ausgangspunkt an. Auch wenn diese Zusammenschau – schon ob der Tatsache, dass sie vor zehn Jahren erschienen ist – keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, vermag sie doch eine grundlegende Orientierung zu geben über die Entwicklungen der westpreußischen Denkmal-Landschaft nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Versucht man, aus den zusammengetragenen 134 Erinnerungsstätten eine Typologie westpreußischer Denkmäler zu entwickeln, ergeben sich auf den ersten Blick zwei große Kategorien: Es sind dies zunächst Denkmäler, die sich auf die Geschichte der Region vor Flucht und Vertreibung beziehen, und sodann solche, die ebendiese im Rahmen des Zweiten Weltkriegs thematisieren.

Verschwundene Friedhöfe

Die bedeutendste Gruppe der auf die Geschichte Westpreußens bezogenen Denkmäler bilden Gedenksteine und Erinnerungstafeln für frühere städtische sowie evangelische, katholische, mennonitische und jüdische Friedhöfe (im Einzelfall auch von Familiengräbern) bzw. zur Erinnerung an die deutsche Vorgeschichte von Friedhöfen, die heute noch bestehen. Diese Dominanz verwundert nicht – stellt das Grabmal selbst bereits eine der ältesten und in unterschiedlichen Kulturen verbreitete Form des Denkmals und des Personengedächtnisses dar. Die an zerstörte Friedhöfe erinnernden Gedenksteine greifen naheliegenderweise die Form von Grabsteinen auf – in der Regel dürften sie wohl auch von ortsansässigen Steinmetzen gefertigt worden sein. Dies gilt auch für die Gestaltung von Gedenksteinen, die – wie in Graudenz oder Marienburg – an mehrere Friedhöfe einer Gebietskörperschaft oder im ländlichen Raum vielfach an sämtliche Friedhöfe eines Kirchspiels erinnern. Dementsprechend wurde auch von der Deutschen Minderheit auf dem Garnisonsfriedhof am Hagelsberg ein Gedenkstein errichtet, und zwar im Jahre  2001, d.h. nur ein Jahr bevor der seitens der Stadt geschaffene „Friedhof der nicht existierenden Friedhöfe“ entstand. Dieser stellt – so die offizielle Interpretation durch die Stadt Danzig – eine „Form der Wiedergutmachung für die Verwüstung und Auflösung der ehemaligen Danziger Friedhöfe nach dem Krieg“ dar, „eine Form der Erinnerung an alle die, die keine Gräber bzw. keinen Grabstein mehr haben“ – wobei dezidiert die religiöse Dimension des Totengedächtnisses akzentuiert wird:

„Neben den sich dort befindlichen original Grabplatten von aufgelösten Friedhöfen, befindet sich dort an zentraler Stelle ein ‚Altar‘ mit der Inschrift ‚Denen, die keine Namen haben‘. Er ragt aus den Trümmern zerbrochener Grabplatten empor, die Embleme verschiedener, im alten (wie auch im heutigen) Danzig vertretener Religionsgemeinschaften tragen.“ (gdansk.pl)

Die Gestaltung des „Altars“ verwendet dabei eine spezifische Motivik, die nicht nur der Bruchstückhaftigkeit des sie umgebenden Lapidariums entspricht, sondern die sich zugleich als theologische Aussage über den unvollständig-fragmentarischen Charakter der menschlichen Existenz lesen lässt. Kann dieses Moment als anthropologische Konstante in der Lebensgeschichte und Identität jedes Menschen aufgefunden werden, so tritt sie doch in den Schicksalen, die sich mit Krieg und Vertreibung verbinden, in besonderer Weise hervor. Insofern funktioniert das Denkmal nicht nur als Verweis auf die verlorenen Friedhöfe, sondern eröffnet zugleich eine Bildsprache, die von den Angehörigen der dort Bestatteten zu Erfahrungen aus der eigenen Lebens- oder Familiengeschichte in Beziehung gesetzt werden kann. Auch in Elbing wurden überkommene Grabsteine zerstörter Friedhöfe in vergleichbarer Weise in einem Lapidarium zusammengetragen.

Anwesenheit des Abwesenden

Von den der (zumeist christlich konnotierten) Sepulkralkultur eng verbundenen Erinnerungsformen an verschwundene Friedhöfe und die dort Begrabenen lassen sich Linien ziehen zu den weiteren Typen von Denkmälern, die wir hier betrachten wollen. Dies betrifft zum einen das Bedürfnis, an nicht mehr existente historische Gebäude und die mit ihnen verbundenen Menschen zu erinnern. Auch hier werden zumeist Gedenksteine aufgestellt, um auf Abwesendes zu verweisen, es in der Betonung seiner Abwesenheit wieder anwesend zu machen. Auffällig ist, dass es sich hierbei vor allem um Kirchen handelt und somit, wie bei den Friedhöfen, abermals um religiöse Erinnerungsorte; im Falle der Kirchen um solche, mit denen sich nicht nur die Feste des Jahreskreises bzw. Kirchenjahres, sondern ebenso biographische Passagenriten (Taufe, Kommunion bzw. Konfirmation, Trauung und ggf. Trauerfeiern) verbinden. Ästhetisch interessant ist die Gestaltung eines Gedenksteins für die 1967 abgerissene evangelische Kirche in Heidemühl (Kreis Konitz). Dieser besteht nicht aus bearbeitetem Naturstein, sondern stellt das Imitat einer Gemäuerruine dar, in die ein einzelner Stein des ursprünglichen Gebäudes als Relikt bewahrt bleibt. Damit wird in besonderer Weise sowohl das Verlorene symbolisch vergegenwärtigt als auch – ähnlich wie im Falle des „Friedhofs der nicht existierenden Friedhöfe“ – auf das Fragmentarische der menschlichen bzw. historischen Existenz verwiesen. In diesen Zusammenhang gehören im Übrigen Erinnerungstafeln, die an entwidmeten oder anderen Konfessionen übertragenen Kirchengebäuden auf die ursprünglich dort ansässige Gemeinde verweisen, wie etwa auf den Sitz des ersten Betsaals der Mennonitengemeinde in Elbing.

Andere Gedenktafeln erinnern an Institutionen, die zwar nicht von religiöser, jedoch von allgemein lebensweltlicher oder biographischer Bedeutung waren: Dies gilt für die frühere Wache der Elbinger Berufsfeuerwehr, auf die in der Hindenburgstraße ein klassischer Gedenkstein verweist, ebenso wie für Schulen. So macht an der Henryk-Sienkiewicz-Schule in Marienburg eine Tafel deren Geschichte als Luisenschule bis 1945 kenntlich. Dass Denkmäler nicht nur mit Verlust in Verbindung stehen, sondern sich auch der Motivation verdanken, kulturelle Traditionen einer gesellschaftlichen Gruppe wie der deutschen Minderheit öffentlich zu exponieren, zeigt ein Beispiel aus Rehdorf (Kreis Stuhm): Hier erinnert ein von der Deutschen Minderheit Stuhm-Christburg gestifteter Naturstein mit Metalltafel an den dort bis Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden „Hammerkrug“ , eine Schmiede mit Wirtshaus. Ergänzen ließe sich hier noch eine Reihe von Gedenksteinen und -tafeln, die an Geburts- und Wohnhäusern auf Persönlichkeiten von lokalhistorischer bzw. regionalhistorischer wie zeitgeschichtlicher und überregionaler Bedeutung hinweisen. Auch diese erfüllen die Funktion, bis zum Ende der kommunistischen Diktatur bestehende Lücken in der Erinnerungslandschaft zu schließen.

Erinnerung an Krieg und Vertreibung

Eine Zwitterposition zwischen den beiden Kategorien der kulturhistorischen Denkmäler und jener, die Flucht und Vertreibung sowie den Zweiten Weltkrieg als ihren Kontext thematisieren, nehmen wiederhergestellte und neu errichtete Kriegerdenkmäler bzw. Gedenksteine für Gefallene des Krieges 1870/71 sowie des Ersten Weltkrieges ein, insofern sie einerseits die Geschichte Westpreußens vor der Vertreibung dokumentieren, andererseits jedoch Gestaltungsformen prägen, die nach 1945 aufgegriffen werden. Dabei knüpfen auch sie sämtlich an den Archetypus des Grabmals an. Zu einer gewissen einheitlichen Anmutung der Denkmäler für Gefallene verschiedener Epochen trägt zudem der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei, der etwa in Danzig auf dem Hagelsberg um das Jahr 2000 sowohl die Grabstätte deutscher Soldaten aus dem deutsch-französischen Krieg als auch diejenige der Gefallenen des Ersten Weltkrieges in schlichter moderner Gestalt wiederherstellte. Der Krieger-Gedenkstein aus dem Ersten Weltkrieg in Baumgarth (Kreis Stuhm)  wiederum wurde gemäß dem historischen Vorbild und somit in traditioneller Gestalt auf Initiative von Heimatkreis und deutscher Minderheit rekonstruiert. Gemeinsam ist sämtlichen Kriegerdenkmälern die Gestaltung in strengen Formen und zumeist in Schwarz- wie Grautönen.

An die moderne und schlichte Gestalt der älteren Kriegerdenkmäler auf dem Hagelsberg kann die dortige – gleichfalls vom Volksbund errichtete – Grablege für deutsche Gefallene des Zweiten Weltkriegs anknüpfen. Sie wird durch ein Totenbuch ergänzt, das den dort erinnerten Schicksalen Namen gibt. Weniger standardisiert sind die teils aus privater Initiative entstandenen Denkmäler, die sowohl an die Opfer des Nationalsozialismus als auch an die Opfer von Flucht und Vertreibung erinnern. Ein Alleinstellungsmerkmal kommt dem [bekannten] Denkmal zur Erinnerung an die Eisenbahntransporte jüdischer Kinder aus der Freien Stadt Danzig nach England 1938/1939 auf dem Vorplatz des Danziger Hauptbahnhofs zu, insofern es plastisch die Betroffenen – Kinder am Bahnsteig – als Gerettete zeigt. Besondere Erwähnung verdient zudem ein Gedenkstein aus dem Jahr 1996 in Tiegenhof (Kreis Großes Werder), der mit der zweisprachigen Beschriftung „Gedenket der Toten – Frieden dieser Stadt“ und mithin ohne eine differenzierende Benennung einzelner Opfergruppen des Krieges auskommt. Andere Denkmäler hingegen konkretisieren sehr detailliert die Personen und Ereignisse, auf die sie Bezug nehmen. So heißt es etwa auf einer 1999 von der Truso-Vereinigung an der Dorfkirche Lenzen (Kreis Elbing) installierten zweisprachigen Erinnerungstafel: „An die bei Kriegsende 1945 in Lenzen ermordeten und an den Folgen des Krieges gestorbenen und gefallenen 286 Dorfbewohnern und den in Lenzen erschossenen deutschen Soldaten“.

Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, wie sich die westpreußische Denkmal-Landschaft im Zeitraum einer Generation pluralisiert hat. Dabei sind die oft von deutschen und polnischen Initiatoren gewählten Themen und Gestaltungsformen nicht zuletzt auch ein Zeugnis der grenzüberschreitenden Verständigung. Inzwischen finden sich sogar auch solche Denkmäler, die auf wichtige Akteure ebendieses Verständigungs- und Versöhnungsprozesses selbst verweisen. So erinnert in Elbing etwa am ehemaligen Gymnasium eine Gedenktafel an den Publizisten Erich Brost als einen „Mann der deutsch-polnischen Verständigung – geboren in Elbing“. Insofern Verständigung immer weiter gemeinsamer Anstrengungen bedarf, dürfte das gleiche auch für die Aushandlungsprozesse um die erinnerungskulturelle Gestaltung des öffentlichen Raums im historischen Westpreußen gelten. Ihre weitere Entwicklung gilt es mit Interesse abzuwarten.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

„Gewalt sei ferne den Dingen!“

Der Westpreußen-Kongress 2023 fragte nach der historischen und aktuellen Bedeutung des Johann Amos Comenius

In gewisser Weise ‚aus der Zeit gefallen‘ war der diesjährige Westpreußen-Kongress mit seinem Thema „Johann Amos Comenius im Land an der unteren Weichsel: Interkulturelle Spuren eines universellen Gelehrten, Theologen und Pädagogen“. Ursprünglich geplant für 2020, dem 350. Todesjahr von Comenius, vereitelte die Corona-Pandemie die Durchführung der Konferenz. Angesichts der Bedeutung, die einem der großen mitteleuropäischen Ireniker gerade in Zeiten des Krieges in Europa zukommt, hielt die Westpreußische Gesellschaft (WPG) jedoch an dem Vorhaben fest. Und so konnte die Schriftführerin der WPG, Heidrun Ratza-Potrykus, am 22. September jeweils 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland und aus Polen in Warendorf begrüßen und die dreitägige, durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat geförderte Tagung eröffnen.

Auf den ersten, freilich arg oberflächlichen Blick mag der im Titel der Tagung hervorgehobene lokale Bezug zum „Land an der unteren Weichsel“ verwundern. Die gleichwohl hohe Relevanz dieser weit gereisten, zentralen Gestalt der europäischen Geistesgeschichte für diesen Kulturraum strich der Tagungsleiter und WPG-Vorstandsvorsitzende Professor Dr. Erik Fischer in seinen einführenden Worten heraus. Nicht nur, dass der 1592 im mährischen Niwnitz geborenen Comenius von 1642 bis 1648 im seinerzeit schwedisch besetzten Elbing lebte und intensiv am dortigen Geistesleben Anteil nahm; sein Wirken im Königlichen Preußen war auch mit der interkulturellen und interkonfessionellen Beziehungs- und Konfliktgeschichte der Region eng verbunden. Insbesondere unter verständigungspolitischen Gesichtspunkten erscheint es, so Fischer, darüber hinaus fruchtbringend den Wirkungen von Comenius im deutschen, polnischen wie gesamteuropäischen Diskurs nachzuspüren und diese bis in die Gegenwart hinein zu verfolgen.

Einen praktischen und lebensnahen Einstieg in die Kongressthematik bot der Freitagabend mit seinem thematischen Schwerpunkt „Der Comenius-Garten in Berlin – ein Raum zum Leben, Forschen und zur wissenschaftshistorischen Rekonstruktion eines Welt- und Menschenbilds“. Im Zentrum stand die Anfang der 1990er Jahre am Böhmischen Dorf in Neukölln entstandene Parkanlage, die ausgehend von Comenius Werk „Pampaedia“ (Allerziehung) als eine dem menschlichen Lebensweg entsprechende Aufeinanderfolge von „Schulen“ gestaltet ist. Den Garten und die dort im Geiste von Comenius geleistete Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen porträtierte zunächst die RBB-Dokumentation „Das Seelenparadies von Neukölln“ von Heiderose Häsler und Felix Krüger. Anschließend vertiefte die Leiterin des Gartens, die Literaturwissenschaftlerin und Wissenschaftshistorikerin Dr. Neele Illner M. A., in einem Gespräch mit dem Berichterstatter sowie den Tagungsteilnehmerinnen und Tagungsteilnehmern die Einblicke in die Konzeption des Gartens. Dabei schilderte sie anschaulich die Verschränkung von Wissenschaft und Pädagogik, bei der Kinder ganz im Sinne des comenianischen Denkens als Entdecker von Natur ernst genommen werden. Gerade an solch einem universalen Weltzugang wurden die hohen ökumenischen und interreligiösen Potenziale sichtbar, die sich im kulturell pluralen Umfeld des Gartens auf besondere Weise bewähren.

Die ersten drei Vorträge des zweiten Kongresstages boten eine historische Annäherung an Comenius, die sich von einer Makro- zu einer Mikroperspektive hin bewegte. So beleuchtete Professor Dr. Karin Friedrich, Historikerin an der schottischen Universität Aberdeen und Trägerin des Westpreußischen Kulturpreises 2023, zunächst anhand der „Konfessionelle[n] Wissensnetzwerke im frühneuzeitlichen Polen-Litauen“ wesentliche Momente der Religions-, Politik- und Geistesgeschichte des Königlichen Preußen im Zeitalter der Konfessionalisierung. In genau diesen Kontext stellte der Berliner Altphilologe und Lateindidaktiker Professor Dr. Andreas Fritsch sodann seinen Vortrag über „Johann Amos Comenius – Sein Lebenswerk im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges und seine nachhaltige Wirkung“, vor dessen Hintergrund der Theologe Pfr. i. R. Dr. Manfred Richter (Berlin) sich wiederum auf „Comenius Elbinger Jahre und das Colloquium Charitativum“ konzentrierte.

Friedrich führte ihre Zuhörer in das Geistesleben der polnisch-litauischen Adelsrepublik ein, die bis in die Zeit des dortigen Wirkens von Johann Amos Comenius zwar nicht frei von interkonfessionellen Konflikten war, jedoch von seiner politischen wie rechtlichen Konstitution her durch grundlegende Prinzipien des Glaubensfreiheit geprägt wurde. Die Referentin warnte in ihrem Vortrag nachdrücklich davor, „Modelle der Konfessionalisierung von oben, wie sie oft in der deutschen Reformationsgeschichte angewandt wurden“, auf die Lage in Polen-Litauen zu übertragen, obschon es „Versuche von adligen oder städtischen Machteliten“ gegeben habe, „von oben herab Religionspolitik zu betreiben“. Vielmehr warb sie für das historiographische „Bild einer multi- und interkonfessionalen Gesellschaft, in der Gestalten wie Comenius das Geistesleben bereichern konnten, bis die Krise des 17. Jahrhunderts – der Dreißigjährige Krieg und dann der zweite Nordische Krieg – diese intellektuellen und konfessionellen Freiräume wieder einengte oder gar zerstörte.“

Welche Bedeutung Comenius Werk unter den historischen Bedingungen des Dreißigjährigen Krieges gewann und in späteren Zeiten weiterhin entfaltete, zeichnete Fritsch anhand wichtiger Stationen der Lebens- und Wirkungsgeschichte nach. Eine paradigmatische Rolle kam dabei dem in unterschiedlichen Fassungen über die Jahrzehnte hinweg verwendeten Emblem zu, das Comenius als letzter Bischof der alten Böhmischen Brüder hat entwerfen lassen. Es versinnbildlicht seinen zentralen Wahlspruch: „Omnia sponte fluant absit violentia rebus“ – „Alles fließe von selbst; Gewalt sei ferne den Dingen!“ Von hier aus zog der Referent die Verbindungslinien zu den einschlägigen großen Werken des Pädagogen und Theologen: der „Didactica Magna“ (Große Didaktik) sowie den Schriften „Orbis sensualium pictus“ (Die sichtbare Welt) und „Unum necessarium“ (Das einzig Notwendige). Dabei bot er zugleich immer wieder Ausblicke auf die Comenius-Rezeption der Zeitgenossen und nachfolgender Generationen.

Nach einleitenden Worten zur religiösen Situation in Comenius Wirkungsumfeld stellte Richter in seinem Vortrag zunächst die Vorgeschichte des Aufenthalts im Königlichen Preußen dar: eine durch hohe Mobilität geprägte Lebensphase, die Comenius vom polnischen Exil der Brüder in Lissa bis nach London führte. Vor dem Hintergrund der religionspolitischen Situation in Polen-Litauen sowie des Plans des Königs, ein vermittelndes Religionsgespräch aller Konfliktparteien in Thorn durchzuführen – das „Colloquium Charitativum“ von 1645 –, ging der Referent näher auf Comenius‘ Rolle bei den Vorbereitungen auf dieses wichtige Ereignis ein. Dabei gab Richter einen Überblick über die zu diesem Anlass verfassten Schriften, u. a. „Von der Versöhnung der ‚Dissidenten‘ in den Glaubensfragen der Christen“. Gerade an der Unversöhnlichkeit der konfligierenden konfessionellen Lager scheiterte jedoch schließlich das Konzil. Was dagegen blieb und nachhaltige Wirkung entfaltete, waren die ebenfalls in diese Jahre fallenden pädagogischen Arbeiten von Comenius und insbesondere sein Sprachlehrwerk „Novissima Linguarum Methodus“, auf dessen Bedeutung Richter abschließend verwies.

Im Anschluss an die geistes-, lebens- und werkgeschichtlichen Ausführungen eröffnete ein von Fritsch geleiteter Workshop den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Gelegenheit, eigene „Erfahrungen mit der Lektüre von Comenius-Texten“ zu sammeln. Im Zentrum standen Auszüge aus der in den 1620er und 1630er Jahren entstandenen und 1657 schließlich gedruckten „Didactica Magna“. Durch die Lektüre und Diskussion der Texte wurde die Didaktik von Comenius in ihrem ganzheitlichen – mithin gesellschaftsreformerischen – Anspruch deutlich: So wollte er, wie er in der Einleitung programmatisch erklärt, „die Schulen ordnen und zur Blüte bringen, auf dass sie zu wahren und lebendigen Menschenwerkstätten werden, zu Pflanzschulen der Kirchen, Staaten und Hauswesen“. Darüber hinaus wurde der comenianische Ansatz auf seine humanistischen und theologischen Hintergrundannahmen hin durchleuchtet. Auf diese Weise traten die Konturen einer gleichsam ‚optimistischen Anthropologie‘ hervor, die sich in einer Abschwächung der lutherischen Erbsündenlehre ausdrückte. So schreibt Comenius im fünften Kapitel: „Niemand möge uns also, wenn die Heilmittel der Verderbnis zur Beratung stehen, mit dem Einwurf der Verderbnis kommen, weil Gott dies ja durch seinen Geist mit Hilfe der verordneten Mittel hinwegräumen will.“

An die Arbeitsgruppe schlossen sich am Samstagabend und Sonntagmorgen wiederum drei thematisch miteinander verbundene Vorträge an, diesmal gruppiert um Fragestellungen der Comenius-Rezeption: Dr. Hartmut Rudolph, Theologe und früherer Leiter der Potsdamer Leibniz-Editionsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, erläuterte anhand von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und Daniel Ernst Jablonski (1660-1741) die „Wirkungsgeschichte von Johann Amos Comenius“ im „Diskurs der Frühaufklärung“. Professor Dr. Erik Fischer näherte sich Comenius als einer „europäische[n] Leitfigur“ an, indem er die Geschichte und das Konzept der niederländischen „Stichting Comenius Museum“ im niederländischen Naarden, dem Ort der letzten Ruhestätte des Theologen, betrachtete. Einblicke in die Comenius-Rezeption im mitteleuropäischen Raum gewährte wiederum (digital zugeschaltet) Dr. Barbara Dobrowolska, Pädagogin an der der Fakultät für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule in Siedlce, mit ihrem Vortrag: „Jan Amos Komeński in der zeitgenössischen polnischen Pädagogik – Stand der Forschung und Reflexionen“.

Rudolph nahm zunächst Comenius und Leibniz als zwei „Repräsentanten der europäischen Frühaufklärung“ in den Blick. Dabei zeigte er neben Übereinstimmungen auch „konzeptionelle Unterschiede im Denken und Wirken dieser beiden herausragenden Gestalten“ auf. Von diesem spannungsvollen Verhältnis ausgehend verfolgte er eine weitere, prosopographische Verbindungslinie über den Enkel von Comenius, den in Nassenhuben bei Danzig geborenen Berliner Hofprediger und Bischof der Brüder-Unität Daniel Ernst Jablonski. Der Referent würdigte ausführlich dessen Zusammenwirken mit Leibniz, „vor allem bei dem Bemühen, die getrennten Kirchen der Reformation, Calvinisten und Lutheraner, einander anzunähern und zu versöhnen“. Zwar ließen sich, so Rudolph, „in Jablonskis Wissenschaftsverständnis doch auch Hinweise auf eine gewisse Distanz gegenüber einer allzu planen frühaufklärerischen Perfektibilität finden“ – allerdings sei festzustellen, dass „sich beide jedoch in ihrem trotz mancher Misserfolge unbeirrten aktiven Wirken für die Einheit der Kirchen“ nicht unterschieden hätten.

Inwiefern Comenius wiederum bis in die Gegenwart hinein den Gedanken einer geistigen Einheit Europas zu verkörpern vermag, verdeutlichte der Vortrag von Fischer. Er zeichnete nach, wie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich aus dem tschechischen Volk heraus das Ansinnen entwickelt hat, einem der größten Söhne ihres Landes ein würdiges Andenken zu schaffen, und wie diese Bestrebungen schließlich zur Entstehung des Erinnerungsortes in Naarden führten. Hier war Comenius nach seinem Tod – wahrscheinlich auf Betreiben seiner Mäzene, der Familie de Geer – beigesetzt worden: Die Kapelle, in der sich das erst 1929 identifizierte Grab befindet, war bereits von 1933 bis 1937 in ein von tschechischen Künstlern gestaltetes Mausoleum umgewandelt worden. Seit 1992 befindet sich im Nachbargebäude zudem ein sehenswertes und klug konzipiertes Museum, das seine Besucher auf sinnfällige Weise über Leben und Werk des mährischen Denkers informiert.

Die fortwährende Präsenz von Comenius Schriften in der polnischen Pädagogik und insbesondere in der bildungsgeschichtlichen Forschung demonstrierte Dobrowolska anhand der jüngeren sowie aktuellen Fachliteratur. Einen besonderen Schwerpunkt legte sie dabei auf die Arbeiten der Comenius-Spezialistin Barbara Sitarska. Indem sie ihren Vortrag durch den Hinweis auf einen weiteren, von Sitarska in Niewęgłosz bei Radzyń Podlaski gegründeten Comenius-Garten abrundete, schloss sich zugleich der Bogen zum Beginn des Kongresses, der vom Neuköllner Projekt seinen Ausgangspunkt genommen hatte.

Dabei war der Schlussvortrag von Pfr. i.R. Dr. Justus Werdin (Frankfurt/Oder) gleichfalls von comenianischem Geist durchwebt, kreiste er doch um eines der zentralen Lebensthemen des großen Irenikers: die Einheit der Kirche. Der langjährige Referent des Berliner Missionswerks für grenzüberschreitende Ökumene und für Osteuropa hatte seine Ausführungen unter den Titel „Bewegungen und Erfahrungen: Ansätze zu grenzüberschreitender Ökumene“ gestellt. Ausgangspunkt war die interkonfessionelle, zwischen Deutschland und Polen eröffnete Gesprächsinitiative: die „ökumenischen Konsultationen der Bischöfe an Oder und Neiße“. Die hier in Gang gesetzten Entwicklungen in der innerprotestantischen Ökumene – konkret zwischen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen – beleuchtete er anhand der Gemeindepartnerschaft zwischen dem Berliner Dom und der Kirche St. Trinitatis in Warschau. Abschließend erörterte Werden die angestrebte Rückkehr des mittelalterlichen Paramentenschatzes an die Danziger Marienkirche – einen Prozess, den der Referent selbst als Beiratsmitglied begleitet.

Die von Werdin vollzogene Perspektivöffnung leitete dann in die Abschlussdiskussion mit den Referentinnen und Referenten über. Dabei wurde ein doppelter Grundkonsens deutlich: Einerseits war man sich einig, dass Comenius auch heute noch wichtige Impulse für die Verständigung sowohl zwischen den Konfessionen als auch zwischen den Völkern Europas zu geben vermag. Andererseits mussten die Anwesenden konstatieren, dass sich die unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen gegenwärtig eher zurückhaltend mit Comenius befassen. Hier wäre, so die gemeinsame Sichtweise, eine stärkere Popularisierung seiner Lebens- und Wirkungsgeschichte wünschenswert, um das comenianische Denken in Kirche, Theologie und Zivilgesellschaft fruchtbar zu machen. Einen Beitrag hierzu mag der Kongress bereits erbracht haben, einen weiteren – und zudem nachhaltigen – wird die Westpreußische Gesellschaft leisten, die beabsichtigt, die Erträge des Kongresses durch das von ihr herausgegebene Westpreußen-Jahrbuch in naher Zukunft einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“

Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“ der Deutschen Gesellschaft e.V. – in Kooperation mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen sowie der Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland – für junge Spätaussiedler, Nachfahren von Heimatvertriebenen und Angehörige der deutschen Minderheiten. In der Veranstaltung werden die Beiträge der Preisträgerinnen und Preisträger vorgestellt und gewürdigt. Durch den Abend führt Tilman A. Fischer.

Buchvorstellung „Die zwei Gesichter der Zerstörung. Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen“ (von Prof. Dr. Manfred Kittel)

Programm:

Grußworte: Thomas Konhäuser, Geschäftsführer der Kulturstiftung Dr. Florian R. Simon, Verleger (Duncker & Humblot)

Einführung: Tilman A. Fischer, Theologe und Journalist, Berlin

Buchvorstellung: Manfred Kittel, Professor für Neuere und Neueste Geschichte und ehem. Gründungsdirektor der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Berlin/Regensburg

Kommentar: Dr. Christean Wagner, Hessischer Kultus- und Justizminister a. D. und Vorsitzender der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, Wiesbaden

Diskussion: „Ethnische Vertreibungen zwischen Erinnerungskultur und Völkerrecht“

Moderation: Tilman A. Fischer

Schlussworte: Thomas Konhäuser

Im Windschatten der Danziger Paramente

Anmerkungen zur Übergabe west- und ostpreußischer Kirchenglocken an ihre Heimatgemeinden durch die Diözese Rottenburg-Stuttgart

Im Windschatten der Auseinandersetzung um die beabsichtigte Übertragung des Danziger Paramentenschatzes durch die Union Evangelischer Kirchen an die Danziger Marienkirchengemeinde, kam es zu einem vergleichbaren Vorgang seitens der katholischen Kirche – konkret des Bistums Rottenburg-Stuttgart. Ende Juni übergab Bischof Dr. Gebhard Fürst in Begleitung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann drei Kirchenglocken an ihre west- und ostpreußischen Ursprungsgemeinden: in Dietrichsdorf (Kreis Stuhm), Frauenburg (Kreis Braunsberg) und Siegfriedswalde (Kreis Heilsberg). Diese waren auf Anordnung des nationalsozialistischen Regimes während des Zweiten Weltkriegs der Rüstungsindustrie zugeführt worden. Letztlich nicht eingeschmolzen, wurden sie – so wie ca. 1.300 andere Glocken – aus den deutschen Ostgebieten an westdeutsche Gemeinden verliehen.

Dass dieser Vorgang – wenn auch nicht in der Intensität wie im Fall der Paramente – auf Kritik aus den Reihen der deutschen Heimatvertriebenen und ihrer Nachfahren gestoßen ist, mag insbesondere an der Kommunikation seitens der Diözese liegen. Zwar werden in dem entsprechenden Bericht, den das Bischöfliches Ordinariat am 25. Juni online veröffentliche, die historischen Zusammenhänge präzise erläutert – insbesondere, dass es sich um Glocken „aus den ehemals deutschen Ostgebieten“ handelt. Dies wird jedoch – zumindest für den oberflächlichen Leser – dadurch verstellt, dass der Untertitel erklärt, Bischof und Ministerpräsident hätten die Glocken „zurück nach Polen“ gebracht. Mit der Rückkehr in ihre Heimatkirchen kommen die Glocken nun zwar selbstredend in das heutige Polen. Nach Polen kommen die Glocken jedoch nicht „zurück“, sondern erstmals. In einem Bericht vom Folgetag war dann dezidiert von „Glockenrückgaben“ die Rede. Im Falle der Paramente hatte die UEK demgegenüber explizit festgehalten, dass „nicht von einer Rückgabe, Rückführung oder Restitution die Rede, sondern von ihrer Rückkehr oder auch Heimkehr zur Marienkirche Danzig“.

Dass die Übergabe der Glocken dadurch motiviert ist, einen Beitrag zur Versöhnung zwischen Deutschen und Polen zu leisten, wird aus den entsprechenden Veröffentlichungen der Diözese deutlich. (Und hierzu gehörte für Bischof Fürst dann auch ein Gedenken an die deutschen Vertreibungsopfer am für sie errichteten Gedenkstein in Frauenburg.) Umso wichtiger wäre es, in diesen Zusammenhängen ebensolche Formulierungen zu vermeiden, die einen Akt der Versöhnung in Wiedergutmachungs- und Entschädigungsdiskurse einzulesen erlauben. Gelegenheit dazu, hier für mehr Klarheit zu sorgen, wird das Bistum in den kommenden Jahren haben, in denen es beabsichtigt, im Rahmen des Projekts „Friedensglocken für Europa“ „weitere Glocken in ihre Heimatgemeinden im heutigen Polen und Tschechien“ zu übergeben.

Tilman Asmus Fischer

Weitere Informationen zum „Friedensglocken“-Projekt finden sich hier: https://www.drs.de/friedensglocken.html

Erschienen in: Der Westpreuße – Unser Danzig. Landsmannschaftliche Nachrichten 3/2023.

„Rückkehr“ – nicht: „ Rückgabe“

Zur Diskussion um den Danziger Paramentenschatz

Von Tilman Asmus Fischer

Am 8 Dezember 2022 hatten die Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK), das Erzbistum Danzig und die Gemeinde der Danziger Marienkirche in Hannover einen „Letter of Intent“ unterzeichnet, dessen Inhalt nach Bekanntwerden durch eine offizielle Pressemitteilung zu anhaltenden kontroversen Diskussionen geführt hat: Die im Besitz der UEK befindlichen Stücke des Danziger Paramentenschatzes sollen durch Schenkung in den Besitz der Marienkirche übergehen. Parallel zur – teils mit verbitterten Stellungnahmen geführten – öffentlichen Debatte, kam es in inzwischen zu konstruktiven Gesprächen zwischen der UEK bzw. EKD und Vertretern aus dem Bereich der Vertriebenenpolitik. – Der in diesem Zusammenhang gewonnene Kenntnisstand, der die Gesamtlage in einem deutlich veränderten, klareren Licht erscheinen lässt, soll hier dokumentiert und zudem auf die hiermit verbundenen kulturpolitischen Perspektiven hin befragt werden.

Nachdem es am 28. April 2023 in Hannover zu einem Gespräch zwischen dem Präsidenten des BdV, Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius, und dem Präsidenten des EKD-Kirchenamtes, Dr. Hans Ulrich Anke, über grundsätzliche Fragen der Beziehung zwischen beiden Institutionen gekommen und dabei auch die Problematik des Paramentenschatzes angesprochen worden war, wandte sich am 16. Mai Bischöfin Petra Bosse-Huber in einem Brief an den BdV – und bezog die Westpreußische Gesellschaft wie den Bund der Danziger in die Korrespondenz mit ein. In ihrem Schreiben erläutert die Vizepräsidentin des Kirchenamtes und Leiterin des Amtsbereichs der UEK das Vorhaben zum Danziger Paramentenschatz. Diese bisher umfassendste offizielle kirchliche Stellungnahme sei hier mit Erlaubnis der Verfasserin dokumentiert.

Die Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) ist als Rechtsnachfolgerin der früheren Evangelischen Kirche der Union (EKU) bzw. der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union (ApU) Eigentümerin der (vorwiegend liturgischen) Gegenstände, die aus den am Ende des Zweiten Weltkriegs untergegangenen deutschen Evangelischen Kirchengemeinden im heutigen Polen von Mitgliedern dieser Gemeinden auf ihrer Flucht nach Westen mitgenommen und auf diese Weise häufig vor Verlust und Zerstörung gerettet worden sind. Diese Gegenstände sind von der EKU erfasst und in regulären Verfahren entweder an Evangelische Kirchengemeinden in Deutschland zu kirchlichem Gebrauch ausgeliehen worden oder werden als Dauerleihgaben der EKU/UEK in Museen in Deutschland aufbewahrt und ausgestellt. Ersuchen des polnischen Staates zur „Rückführung“ solcher Gegenstände nach Polen wurden seit Jahrzehnten (und werden grundsätzlich weiterhin) von der EKU/UEK abschlägig beschieden; dies wird zum einen mit den Eigentumsrechten begründet, die durch ein Urteil des Berliner Kammergerichts aus dem Jahr 1970 der EKU zugesprochen wurden, zum anderen mit dem Hinweis auf ausstehende zwischenstaatliche Gesamtregelungen zur Rückführung von Kulturgütern.

Allerdings wurden bereits in früheren Jahren in Einzelfällen Gegenstände – so ein Abendmahlskelch aus Jauer und einige historische Kirchenbücher aus Schweidnitz – an die betreffenden Kirchen, die heute zur Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen gehören, übergeben; dies war jeweils mit persönlichen Begegnungen der Beteiligten und mit gemeinsamen Gottesdiensten verbunden.

Auf Initiative des damaligen Bischofs der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Dr. Dr. h. c. Markus Dröge, und auf Beschluss des Präsidiums der UEK nahm die UEK im Jahr 2018 über das Erzbistum Danzig Kontakt zur Marienkirche Danzig auf, um wegen einer möglichen Rückkehr des von dort stammenden Dreifaltigkeitsaltars zu sondieren; dessen Retabel und Predella waren seit Jahrzehnten von der EKU/UEK an die Gemäldegalerie Berlin und an die St. Johannis-Kirchengemeinde Berlin Moabit ausgeliehen. Auf der Grundlage eines zwischen der UEK und der Marienkirche Danzig abgeschlossenen Schenkungsvertrages (und damit unter Anerkennung der vormaligen Eigentümerstellung der UEK) kehrte der Altar im März 2020 in seine Heimatkirche zurück. Aus Anlass einer Ökumenischen Vesper, die zum Trinitatisfest 2022 vom Erzbistum und der Marienkirche Danzig und von der UEK vor diesem Altar gemeinsam gefeiert wurde, wurde die Erarbeitung eines Letter of Intent zum „Danziger Paramentenschatz“ in Aussicht genommen. In ihm sollte – analog zum beim Dreifaltigkeitsaltar gewählten Verfahren – vereinbart werden: (1) die förmliche Schenkung der aus der Marienkirche Danzig stammenden, von Mitgliedern der dortigen Evangelischen Kirchengemeinde gegen Kriegsende bei der Flucht in den Westen geretteten und seit Jahrzehnten in Museen in Lübeck und Nürnberg aufbewahrten Stücke des „Danziger Paramentenschatzes“ von der UEK an die Marienkirche Danzig; (2) ihre Rückkehr zur Marienkirche Danzig zu einem Zeitpunkt, zu dem sie dort museologisch adäquat aufbewahrt und ausgestellt werden können. Ein solcher „Letter of Intent“ wurde am 8. Dezember 2022 in Hannover vom UEK-Vorsitzenden, Kirchenpräsident Dr. Dr. h. c. Volker Jung, vom Danziger Erzbischof Dr. Tadeusz Wojda und vom Pfarrer der Marienkirche Danzig, Prälat lreneusz Bradtke, unterzeichnet. Die Absichtserklärung sieht außer der Eigentumsübertragung durch Schenkung und der Rückkehr der Paramente nach Danzig vor, dass, wie es schon gegenwärtig der Fall ist, auch künftig in Lübeck und Nürnberg einzelne Paramente – dann als Leihgaben der Marienkirche Danzig – ausgestellt sein werden und dass ein gemeinsamer Fachbeirat die Umsetzung des Vorhabens begleitet.

Die auch künftige, dauerhafte Präsenz von Danziger Paramenten in Lübeck und Nürnberg soll gewährleisten, dass die dankbare Erinnerung an die Rettung des Danziger Paramentenschatzes vor Kriegsverlust und -zerstörung durch die aus Danzig geflüchteten und vertriebenen Evangelischen weiterhin in Deutschland lebendig bleibt und gepflegt wird. Diese Erinnerung gehört aber – und das erscheint uns genauso wichtig – zu der Narration, die mit der Rückkehr der Paramente an ihren Ursprungsort, die Marienkirche Danzig, auch dort erzählt werden soll und erzählt werden wird: die Narration von einer gemeinsamen deutschen und polnischen, evangelischen und katholischen Geschichte an der Marienkirche Danzig, die zur Entwicklung einer gemeinsamen europäischen und ökumenischen Zukunftsperspektive herausfordert. Für diese heute mehr als in früheren Jahrzehnten mögliche Sicht, dass auf der Grundlage geschichtlicher Verbundenheit gemeinsame Verantwortung erwächst, muss, das ist der UEK sehr bewusst, auf beiden Seiten von Oder und Neiße geworben werden. Ich werde mich bei meinem Besuch in Danzig Anfang Juni, der wieder mit einem ökumenischen Gottesdienst verbunden sein wird, bei meinen dortigen Gesprächspartnern persönlich dafür einsetzen. Bitte betrachten Sie auch dieses Schreiben als Ausdruck meines Wunsches – und des Anliegens der UEK –, auch bei denen, für die die deutsch-polnische und die evangelisch-katholische Beziehung durch schmerzliche persönliche und familiäre Erinnerungen belastet ist, um Zustimmung zu dem Vorhaben, das ich Ihnen geschildert habe, zu werben.

Einige Tage später, am 25. Mai, nahm die UEK zudem in einer öffentlichen Erklärung zu Vorwürfen Stellung, die das Kirchenamt seit Publik-Werden des „Letter of intent“ erreichten.[1] Dieses Dokument ist auch deshalb bedeutsam, weil es – zugespitzter als der Brief von Bischöfin Bosse-Huber – Befürchtungen zu zerstreuen vermag, welche die Pressemitteilung im Dezember des Vorjahres hatte wecken können.[2]

So wird zum einen der politische Kontext des Vorhabens erhellt und betont, dass die „Initiative zu dem Projekt […] nicht von polnischer Seite, sondern allein von der UEK“ ausgegangen sei und bei ihrer Umsetzung – wie bereits im Falle des Dreifaltigkeitsaltars – „für die UEK nur die Kirche, namentlich die Marienkirche und das Erzbistum Danzig, als Gegenüber auf polnischer Seite in Betracht“ komme. Dabei zieht sich die UEK nicht darauf zurück, dass es sich bei diesen Vorgängen um eine rein „kirchliche“ Angelegenheit ohne politische Implikationen handelt, sondern zeigt sich gerade dafür sensibel: So sei „vor der Rückkehr des Dreifaltigkeitsaltars in die Marienkirche Danzig die Zustimmung zuständiger Stellen der deutschen Bundesregierung eingeholt worden“ und es hätten „an den aus diesem Anlass stattfindenden Feierlichkeiten auch Vertreterinnen und Vertreter der deutschen und der polnischen Politik teilgenommen. Zudem wurde im ‚Letter of Intent‘ zum Danziger Paramentenschatz festgelegt, dass zu den Aufgaben des gemeinsamen Fachbeirats auch die Klärung politischer Fragen gehört, die sich bei diesem Vorhaben stellen.“ Dabei wäre es – so ließe sich anschließen – wünschenswert, dass die Klärung politischer Fragen über den Kreis eines Beirates hinaus auch in die deutschen und polnischen Öffentlichkeiten hineinwirken möge; denn zwischen beiden Staaten und Zivilgesellschaften sind bei allen Fortschritten der letzten Jahrzehnte weiterhin gewichtige Fragen offen. Sie betreffen sowohl die in beiden Ländern betriebenen Erinnerungspolitiken als auch die von Bosse-Huber benannte „ausstehende zwischenstaatliche Gesamtregelungen zur Rückführung von Kulturgütern“. Vielleicht – so eine leise Hoffnung – können die Bemühungen um die Zukunft des Paramentenschatzes den Ausgangspunkt für eine grundsätzliche Diskussion um Perspektiven des deutsch-polnischen Umgangs mit dem gemeinsamen Kulturerbe sein. Dabei – und das muss deutlich gesagt werden – besteht Klärungsbedarf hinsichtlich der (bewusst in den Plural gesetzten) Erinnerungspolitiken – nicht nur zwischen Deutschland und Polen, sondern auch innerhalb Deutschlands. Denn mit den Regelungen zum Verbleib „nur“ einiger Stücke der Paramente in der Bundesrepublik stellt sich – ganz unabhängig von Fragen der Besitzstandswahrung – die Frage, welche Bedeutung und Aufmerksamkeit dem ostdeutschen Kulturerbe im bundesrepublikanischen „Kulturbetrieb“ zukommt. Die UEK mit ihrer jetzigen Entscheidung für hier ganz offensichtlich bestehende gesamtgesellschaftliche Defizite in Geiselhaft nehmen zu wollen, geht am Ziel vorbei. Wenn wir jedoch über den Fall der Paramente darüber ins Gespräch kommen können, welchen Platz ostdeutsches Kulturgut in deutschen Museen und Kultureinrichtungen hat und haben soll, wäre das nur zu begrüßen.

Zum anderen wendet sich die EKU gegen Spekulationen, „als seien die Paramente unrechtmäßig nach Lübeck bzw. Nürnberg und ins Eigentum der UEK, der Rechtsnachfolgerin der untergegangenen evangelischen Marienkirchengemeinde Danzig, gelangt oder als würden sie auf eine Forderung hin zurückerstattet“. Dementsprechend sei „nicht von einer Rückgabe, Rückführung oder Restitution die Rede, sondern von ihrer Rückkehr oder auch Heimkehr zur Marienkirche Danzig“. Die UEK stelle „den Gedanken in den Mittelpunkt, dass die Paramente als historische Objekte und als kulturelles Erbe untrennbar mit der Marienkirche Danzig verbunden sind und dorthin zurückkommen“. Dass dies seitens der UEK so deutlich benannt wird, ist in doppelter Hinsicht zu begrüßen. Erstens steuert eine solche Klarstellung der Gefahr, das Vorhaben in den derzeit in Deutschland populären postkolonialen Restitutionsdiskurs einzulesen – und damit die Geschichte der vertriebenen Danziger Evangelischen in einer Weise zu beschädigen, die nicht nur erinnerungspolitisch fatal, sondern vor allem auch unter pastoralen Gesichtspunkten unverantwortlich wäre. Zweitens tragen die klaren Worte der UEK dazu bei, das Vorhaben auch davor abzusichern, wiederum in Polen von politischen Akteuren (jenseits der unmittelbaren Kooperationspartner) in die dort geführten Restitutionsdiskurse eingelesen zu werden, dessen Forderungen fortwährend an Deutschland adressiert werden. Das Problembewusstsein hierfür scheint bei der UEK in jedem Fall vorhanden zu sein. So schließt die Erklärung mit den Worten: „Den Partnern ist bewusst, dass eine solche neue Erzählung und die sie begleitenden Zeichen der Versöhnung sowohl in Deutschland als auch in Polen ernsten Vorbehalten begegnen, die aus den geschichtlichen Belastungen zwischen beiden Ländern und Konfessionen herrühren. Sie fühlen sich verpflichtet, diesen Vorbehalten verständnisvoll zu begegnen und gleichwohl für die gemeinsam gewonnene Einsicht zu werben.“ Eine aktive Einbeziehung der vertriebenen Danziger (und dabei im Sinne der Ökumene nicht nur der Protestanten) bzw. ihrer Nachfahren und deren Organisationen und Institutionen – wie der Westpreußischen Gesellschaft oder der Kulturstiftung Westpreußen – kann zum Gewinnen von Verständnis gewiss nur beitragen. In jedem Fall ist dem gesamten Fachbeirat, der sich am 2. und 3. Juni in Danzig konstituiert hat, zu wünschen, dass es ihm gelingt, an der von den Initiatoren angestrebte „Narration“ festzuhalten, sie zu stärken und gegen politische Angriffe wie Instrumentalisierungsversuche zu verteidigen, die es gewiss diesseits wie jenseits der Oder geben wird.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 2/2023.


[1] Erklärung zur beabsichtigten Rückkehr des Danziger Paramentenschatzes zur Marienkirche Danzig: https://www.uek-online.de/3-5-artikel-content-1054-erklaerung-danziger-paramentenschaftz-1054.php

[2] „Danziger Paramentenschatz“ kehrt zurück, EKD, 9. Dezember 2022: https://www.ekd.de/ruckkehr-danziger-paramentenschatz-76569.htm

„Gib mir das Deine, damit ich dir das Meine gebe“

Auf den Spuren der Frömmigkeit Dorotheas von Montau

Von Tilman Asmus Fischer

Am 2. Mai ist es genau 630 Jahre her, dass sich Dorothea Swarze als Reklusin in einer Zelle am Dom zu Marienwerder einmauern ließ. Mehr als ein Jahr verbrachte sie hier ein Leben, das geprägt war von Visionen, Kommunionsempfang und seelsorgerlicher Zuwendung zu Ratsuchenden. Heute wird ihr Todestag, der 25. Juni, als gebotener Gedenktag im Erzbistum Ermland, dessen Suffraganbistum Elbing sowie im Deutschen Orden begangen, als dessen Patronin „Dorothea von Montau“ ebenso verehrt wird wie als Patronin Preußens. Jedoch hatte es mehr als ein halbes Jahrtausend dauern sollen, bis der (Ende des 14. Jahrhunderts vom Orden angestoßene) Heiligsprechungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen und der sich über die Jahrhunderte im Preußenland gehaltene – und seit dem 19. Jahrhundert im historischen Ostdeutschland verbreitete – Dorotheenkult am 9. Januar 1976 approbiert wurde. Was aber faszinierte Menschen an der Heiligen Dorothea, sodass man sie als Vorbild im Glauben verstand und bis heute verehrt? Dieser Frage soll hier in zweifacher Weise nachgegangen werden: Zum einen werden zentrale Elemente einer Mystik und Caritas verschränkenden Frömmigkeit nachvollzogen, wie sie die Dorotheen-Überlieferung prägen. Zum anderen wird anhand zweier prominenter Beispiele gezeigt, wie diese Tradition im 20. Jahrhundert aktualisiert wurde.

Stationen des Lebens und der Spiritualität

Welche Stationen – so ist also zunächst zu fragen – liegen auf dem 47 Jahre umfassenden Lebens- und Glaubensweg der Dorothea zwischen ihrer Geburt 1347 in Groß Montau und ihrem Tod als bereits zu Lebzeiten verehrte Mystikerin und Reklusin 1394 im gut 30 km die Weichsel aufwärts liegenden Marienwerder? Bzw. wie stellt die hagiographisch gefärbte Überlieferung diesen Weg dar?

Groß Montau und Danzig

Als Tochter einer wohlhabenden Bauernfamilie kam Dorothea in Groß Montau (pl. Mątowy Wielkie) zur Welt, das später bis 1920 zum Landkreis Marienburg und anschließend – als Teil der Freien Stadt Danzig – zum Landkreis Großes Werder gehörte; am 6. Februar 1347 wurde sie dort in der Dorfkirche getauft. Bereits ihre Kindheit wird als von einer frühen wie radikalen Frömmigkeit geprägt beschrieben, die asketische Übungen, aber auch Selbstgeißlungen umfasste. 1363 führte die Verheiratung mit dem deutlich älteren Waffenschmied Adalbert Swarze Dorothea nach Danzig. Ihr dortiges Leben lässt sich topographisch wie symbolisch zwischen der Langgasse und Sankt Marien verorten. Die sich auf den Langen Markt hin erstreckende Magistrale war der Ort, an dem sie den Haushalt ihres viele Jahre älteren Mannes führte und die neunfache Mutter (nur ein Kind blieb am Leben) ein von Erkrankungen, menschlicher Härte und Anstrengungen geprägtes Leben führte. Demgegenüber steht die Marienkirche zum einen für Zeiten des Gebetes und er Kontemplation. Zum anderen war das Gotteshaus der Ort, wo sie womöglich im Sommer 1374 die Aufbahrung der im Vorjahr in Rom verstorbenen Birgitta von Schweden erlebte. Deren „Leben und […] Offenbarungen machten einen tiefen Eindruck auf die Hausfrau und Mutter. Sie, die ebenso verheiratet gewesen war wie die schwedische Heilige, wählte diese zu ihrem Vorbild in der Betrachtung der Passion Christi und im Wallfahren.“ (Samerski 2013, 609)

Zum Aufbruch in die Pilgerschaft sollte es jedoch erst zehn Jahre später kommen, sodass hier zunächst noch die in ihrer Danziger Zeit zunehmenden mystischen Erfahrungen in den Blick genommen werden: Denn Dorothea hatte zunehmende Visionen, geriet in Verzückung, prophezeite und verfügte über die Gabe der Herzensschau. Markant für die Frömmigkeit Dorotheas ist das – ihr Leben über wiederholt auftretende – Motiv der Liebeswunden. Diese waren in der Mystik „nur wenigen Auserwählten vorbehalten, die sich im Einigungszustand mit Gott befanden. Johannes vom Kreuz beschreibt sie als anziehende Liebesflamme, welche die Seelen scheinbar vollständig verzehrt, ihnen aber dann, nach dem Vorbild der Wiedergeburt des Phönix, eine neue Seinsform schenkt“ (Niedermeier 2019, 21). Bei Dorothea tritt hier die seit der Antike beliebten Metapher des Liebespfeiles in Erscheinung, die sich mit Hld 2,5c („denn ich bin krank vor Liebe“; vgl. 4,9) verbindet. Bei den zeitgenössischen Mystikerinnen „wird aus der Metapher Erleben“, wobei Dorothea geradezu „fasziniert […] von diesem Motiv war“: Mit „größter, uns heute fast pathologisch anmutender Ausführlichkeit [berichtet sie] davon […], wie sie ihr himmlischer Bräutigam ‚bald mit Liebesdornen, bald mit Pfeilen, bald mit Lanzen und Speeren, die er in ihr Herz abschoß‘, verletzte. In ihrem letzten Lebensjahr zerreißt ihr Christus das Herz so, daß sie meint, sterben zu müssen.“ (Dinzelbacher 1996, 221).

Auf Pilgerschaft zwischen Weichsel und Tiber

Zu einem dieser inneren Entwicklung entsprechenden radialen äußeren Frömmigkeitspraxis gelangte Dorothea ab 1384, als Adalbert Swarze sich – nach längerem Einwirken seiner Frau – bereitfand, Hab und Gut zu verkaufen und sich ganz einem Leben für Gott – insbesondere als Wallfahrer – hinzugeben. Mit den Pilgerreisen weitet sich zugleich der für Dorotheas Vita relevante Raum über das untere Weichselland, ja über den deutschen Sprachraum hinaus, denn sie führten die fromme Frau nicht nur zu den im heutigen Bundesgebiet liegenden Wallfahrtsorten Finsterwalde und Aachen, sondern bis nach Rom. (Während Aachen und Rom in diesem Zusammenhang ‚selbstverständlich‘ klingen, gilt dies für das brandenburgische Finsterwalde nicht. Dies ist eine Folge der Reformation, in deren Zuge die dortige Marienkapelle, nebst der mit ihr verbundenen Wallfahrtspraxis verschwanden.) Der Überlieferung nach gingen diese Reisen für das Ehepaar mit vielfältigen Gefahren für Leib und Leben einher. Dies ist aus den Bedingungen der damaligen Lebenswelt plausibel – zu denen Wegelagerei ebenso zählte wie nur geringfügige Möglichkeiten des Schutzes vor Naturgewalten.

Zugleich ist die Akzentuierung entsprechender Berichte der Pragmatik hagiographischer Texte geschuldet: War kein „rotes“ Martyrium, wie es für die im Zuge der Christenverfolgung Ermordeten überliefert wurde, zu berichten, konnte an seine Stelle das „weiße“, also ein ‚geistliches‘ Martyrium treten, welches sich durch asketische Leidensbereitschaft auszeichnete. Ganz in diesem Sinne entspricht Dorotheas Leben – und dies eigentlich nicht erst als Wallfahrerin, sondern bereits in ihren Visionen – den von Gregor dem Großen überlieferten Worten: „Denn selbst dort, wo keine äußere Verfolgung stattfindet, finden wir das Verdienst des Martyriums im Inneren, wenn die Seele feurig entschlossen gewillt ist, Leiden auf sich zu nehmen.“

Aber nicht nur die Leidensbereitschaft stellt ein an dieser Stelle deutlich werdendes Kontinuum in der Frömmigkeit der Dorothea dar: Ein weiteres ist die Verschränkung von Verinnerlichung und caritativer Zuwendung. Denn von derselben Heiligen, die sich dem Wallfahren und fortgesetzten Visionen hingab, wird berichtet, dass sie zugleich als Helferin von Menschen in Not, Kranken und Armen, in Erscheinung trat. Hierin setzt sich das Bild der jungen Dorothea in Danzig fort, in dem sie uns sowohl als fürsorgende Mutter als auch als eifrige Beterin vor Augen steht.

Marienwerder

Während einer Rom-Wallfahrt Dorotheas starb ihr Mann 1390 in Danzig. In der folgenden Zeit entwickelte sich der Deutschordenspriester Johannes von Marienwerder zu ihrem wichtigsten Mentor. Nicht nur, dass er verhinderte, dass Dorothea aufgrund ihrer eigenwilligen Frömmigkeit in Danzig als Hexe verurteil wurde, und durch die Verschriftlichung ihrer Visionen die Grundlagen der Dorotheenverehrung legte. Vor allem ebnete er ihr den Weg hin zu ihrer letzten Lebensstation: der an den Dom von Marienwerder angebauten Zelle, in der sie sich ein Jahr vor ihrem Tod einmauern ließ. Auch in diesem letzten Lebensabschnitt werden die bereits genannten Kontinuitäten ihrer Frömmigkeit deutlich: einerseits die Leidensbereitschaft (die bei einem Leben als Eingemauerte evident sein dürfte), andererseits das Ineinander von Verinnerlichung und Caritas: Neben der spirituellen Versenkung – mit Visionen und zuletzt täglichem Abendmahlsempfang – stand die Zuwendung zu Menschen, die bei ihr Rat suchten und mit denen sie durch ein kleines Fenster sprach. Aus dieser Zeit ist ein Gebetswort überliefert, das ihre Frömmigkeit zu auf den Punkt zu bringen vermag: „Gib mir das Deine, damit ich dir das Meine gebe – das Deine ist das Leiden am Kreuz, das Meine die Seele, die du mir eingesenkt hast und die so in Wahrheit gerade das Deine ist.“ (Ratzinger, 1429.)

Deutung und Aktualisierung von Leben und Frömmigkeit

Die frühe Bedeutung, die Dorothea im kirchlichen Leben Preußens zukommen, mögen nicht nur der unmittelbar nach ihrem Tod in Marienwerder etablierte Dorotheenkult sowie das vom Deutschen Orden angestrengte Heiligsprechungsverfahren bezeugen, sondern ebenfalls die Tatsache, dass die von ihrem spirituellen Führer und Biographen Johannes von Marienwerder verfasste deutschsprachige Darstellung ihres Lebens knapp 100 Jahre nach Dorotheas Tod, 1492, das erste in Preußen gedruckte Buch war. Die mittelalterliche wie neuzeitliche Rezeption und Deutung der Heiligen Dorothea dokumentiert zu haben, ist das Verdienst verschiedener Theologen und Historiker seit dem 19. Jahrhundert – pars pro toto zu nennen ist der 1894 in Schneidemühl geborene Prälat Dr. theol. Richard Stachnik, der vor der Vertreibung als Priester der Danziger Diözese (und letzter Vorsitzender der Danziger Zentrumspartei) gewirkt hatte und von der Bundesrepublik Deutschland aus den Abschluss des Heiligsprechungsverfahrens vorantrieb. An dieser Stelle seien schlaglichtartig zwei Deutungen der Heiligen Dorothea eingespielt, die im Umfeld ihrer Heiligsprechung zu verorten sind.

Günter Grass: Religion als „Vehikel“

Nur ein Jahr nach der Kultapprobation setzte der Danziger Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger Günter Grass Dorothea (und daneben auch Prälat Stachnik) in seinem Roman „Der Butt“ ein literarisches Denkmal. Hierin erscheint Adalbert Swarze als Wiedergänger des Fischers aus Philipp Otto Runges Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“. In Grass‘ Interpretation hat der Fischer vom Butt als Preis für dessen Freilassung ein Geheimwissen zur Errichtung des Patriarchats erhalten, mit dem er nun über die Menschheitsgeschichte hinweg die Frauen unterdrückt. Dementsprechend ergeht es dann auch Dorothea, die im religiösen Fanatismus einen Weg in die Befreiung erkennt. Und so lässt Grass die Vorsitzende eines feministischen Tribunals, das im Roman über den Butt zu Gericht sitzt, erklären:

„Dorothea Swarze wollte Freiheit für sich. Die Religion und Jesus sind ihr nur das Vehikel und die einzig erlaubte Bezugsperson gewesen, ihren Emanzipationsanspruch durchzusetzen und der penetranten Macht der Männer zu entkommen. Da sie nur die Wahl hatte, als Hexe verbrannt oder als Heilige eingemauert zu werden, hat sie sich entschlossen, dem Domdekan zu Marienwerder eine halbwegs glaubwürdige Legende aufzutischen: um ihrer Freiheit willen. Ein für das Mittelalter typischer Fall, nicht ohne Hinweise in die Gegenwart.“ (Grass, 211.)

Gewiss wird das hieraus sprechende instrumentelle Religionsverständnis dem Zeugnis der Dorothea in seiner Gänze nicht gerecht. Die Einsicht in das emanzipatorische Potential von Spiritualität trifft aber ganz gewiss ein nicht unwesentliches Moment weiblicher Mystik im Mittelalter – zu dem vergleichbare Phänomene sich auch in der Gegenwart finden lassen (vgl. Müller, 247f.).

Joseph Ratzinger: „Wege nach innen“

Einen merklich anderen Akzent setzt eine Deutung, die der Ende vergangenen Jahres verstorbene emeritierte Papst Benedikt XVI. vornahm, als der damalige Erzbischof von München und Freising 1979 in der Münchner Jesuitenkirche Sankt Michael ein Epitaph für die wenige Jahre zuvor Heiliggesprochene enthüllte. Aus diesem Anlass interpretierte er die Entwicklung ihrer Frömmigkeit als „Wege nach innen“. Vom Bild der täglich die Eucharistie Empfangenden her versteht er ihr Leben als „Kreuzesnachfolge, es wird Eintauchen ins Wortlose und Unsagbare der trinitarischen Liebe und es wird darin zugleich ganz marianisch und kirchlich: Menschsein, das Gefäß für den Herrn geworden ist und damit Tür in die Welt für Ihn. Wer ganz dem trinitarischen Gott übereignet ist, der ist ganz aufgemacht, der ist in seine weltumspannende Weite hinein geöffnet, gehört allem und dem Ganzen; der hat nichts mehr von der Enge des alten Menschen, die sich selber sucht und das für Freiheit hält: Der ist wahrhaft neuer Mensch geworden“ (Ratzinger, 1429).

Dabei ginge es fehl, die Deutungen von Grass und Ratzinger dahingehend gegeneinander auszuspielen, dass man diejenige des Dichters als lebensnah und die des Theologen als weltfremd verstünde (wie man Ratzinger leider zu oft missverstanden hat). Denn bei ihm sind die „Wege nach innen“ zugleich immer auch „Wege nach außen“. Dies gilt nicht nur für die Pilgerschaft, sondern ebenso für die als Mutter erwiesene Caritas: Als Mutter „verkörpert sie zuallererst den Realismus des christlichen Menschen. Die Suche nach dem neuen Menschen ist Bejahung und nicht Verneinung. Sie gründet nicht auf einer Verachtung der Schöpfung und der Aufgaben und Möglichkeiten, die sie stellt. Die christliche Hoffnung hat nichts mit Anarchie und mit Schwärmertum zu tun. Der Christ flieht nicht aus den Aufgaben dieser Zeit, er verlästert die Welt nicht, sondern er steht in aller Nüchternheit in ihren Aufgaben“ (Ratzinger, 1427).

In ebendiesem Sinne mag Dorothea von Montau eine Heilige sein, die nicht nur Relevanz für die regionale Kirchengeschichte beanspruchen kann, sondern deren Glaubenszeugnis auch im 21. Jahrhundert noch des Bedenkens wert ist.

Literatur

Peter Dinzelbacher, Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung. Mentalitätsgeschichte und Ikonographie, Paderborn 1996.

Günter Grass, Der Butt (= Günter Grass: Werkausgabe, Bd. 8), Göttingen 1997.

Ulrich Müller, Dorothea von Montau und Sor Juana Ines de la Cruz: Zwei religiöse Frauen aus dem Mittelalter und aus der Barock-Zeit, in: Wolfgang Beutin u. Thomas Bütow (Hgg.), Europäische Mystik vom Hochmittelalter zum Barock. Eine Schlüsselepoche in der europäischen Mentalitäts-, Spiritualitäts- und Individuationsentwicklung. Beiträge der Tagung 1996 und 1997 der Evangelischen Akademie Nordelbien in Bad Segeberg (= Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte, Bd. 21), Frankfurt a.M. 1998, 237-248.

Nina Niedermeier, Heroische Tugend (Katholizismus), in: Compoendium heroicum, 13. Mai 2019 (https://www.compendium-heroicum.de/lemma/heroische-tugend-kath/).

Joseph Ratzinger, „Wege nach innen“: Die heilige Dorothea von Montau. München, 17. Juni 1979, in: ders., Predigten. Homilien – Ansprachen – Meditationen. Dritter Teilband (= Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften, Bd. 14/3), Freiburg i.Br. 2019, 1426-1430.

Stefan Samerski, Dorothea von Montau, in: Joachim Bahlcke et al. (Hgg.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa, Berlin 2013, 609-617.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2023.

Aus dem Dornröschenschlaf erwacht

Das Berliner Hugenotten-Museum wartet mit überarbeiteter Dauerausstellung und neuen inhaltlichen Akzenten auf

Über viele Jahre führte das Hugenottenmuseum trotz seiner prominenten Lage im Französischen Dom am Gendarmenmarkt ein Schattendasein innerhalb der Berliner Museumslandschaft; eine Tatsache, deren Gründe einem mit Fragen von Museumskonzeptionen und -gestaltungen vertrauten Besucher rasch offensichtlich wurden. Umso mehr kann man sich mit den Trägern dieser aus zivilgesellschaftlichem Engagement heraus entstandenen Erinnerungs- und Informationsstätte nun freuen, dass nach einer Gebäudesanierung sowie einer – durch die französisch-reformierte Gemeinde, private Spender und vor allem die Lottostiftung ermöglichten – Neugestaltung der Dauerausstellung das Museum merklich aus seinem bisherigen Dornröschenschlaf erwacht ist.

Die neue Dauerausstellung eröffnet umfassend Einblick in die Geschichte der Hugenotten von ihrem Eintreffen als Glaubensflüchtlinge im Hohenzollernstaat bis zur Gegenwart der französisch-reformierten Christen in Deutschland – neues Gewicht legt das Museum aber auch auf die Darstellung der Entstehung und des Erbes der Hugenotten in ihrem französischen Heimatland. Im Fokus der Ausstellung stehen spürbar die Kerngebiete der hugenottischen Ansiedlung in Brandenburg; gleichwohl finden auch die Ansiedlungen in den historischen preußischen West- und Ostgebieten Erwähnung. Zudem hat das Museumsteam bereits mit seiner letzten Sonderausstellung deutlich gemacht, dass es ihm auch um die Hugenotten aus dem weiteren Ostseeraum getan ist: gewidmet war die unter dem Titel „Der große Künstler des kleinen Formats“ stehende Schau im Obergeschoss des Museums dem 1726 in Danzig geborenen Grafiker Daniel Chodowiecki.

Interessenten, die womöglich ob der pandemischen Lage gegenwärtig noch vor einer Reise in die Bundeshauptstadt absehen, sei die attraktive Website, die einen virtuellen Rundgang anbietet, ebenso ans Herz gelegt wie das zur Neueröffnung erschienene und gleichfalls ansprechend gestaltete Buch „Refuge Berlin Brandenburg. Migration und Leben der Hugenotten 1672 bis heute“. Dessen inhaltliche Ausrichtung entspricht den programmatischen Orientierungen, die auch die neue Dauerausstellung prägen; daher erscheint es sachgemäß, an dieser Stelle Buch und Ausstellung gemeinsam zu betrachten. Einem Katalog-Teil vorgeschaltet findet sich eine Aufsatzsammlung, die einen Überblick gibt über „Verfolgung und Flucht der Hugenotten und ihre Aufnahme in Brandenburg-Preußen“ (Susanne Lachenicht) und das Edikt von Potsdam (Matthias Asche) sowie die Geschichte der Französischen Friedrichstadtkirche (Klaus Merten) beleuchtet.

Sodann wird der Band eröffnet von einem Beitrag des Historikers Etienne François, der dazu gewonnen werden konnte, die „Hugenottengeschichte als deutsch-französische und europäische Geschichte“ zu interpretieren. Dies entspricht dem Paradigmenwechsel von einer nationalen zu einer europäischen Geschichtsdeutung, der sich in den zurückliegenden Jahren auch in der Kulturarbeit nach § 96 BVFG durchgesetzt und in der Arbeit der ostdeutschen Landesmuseen bewährt hat. Dem mit der Migration der Hugenotten einhergehenden Kulturtransfer wie der heutigen Bedeutung der in hugenottischer Tradition stehenden reformierten Gemeinden und ihrer Glieder als Mittler zwischen Deutschland und Frankreich spürt auch die Ausstellung nach.

Eine weitere Parallele zur ostdeutschen Kulturarbeit tut sich im Bewusstsein für Fragen der Geschichtsrezeption und Identitätsbildung auf. So nimmt ein Aufsatz von Alexander Schunka „Hugenottische Erinnerungskulturen“ in den Blick. Darum bemüht sich – in einer durchaus selbstkritischen Haltung – auch das Museum, indem es dem Besucher ermöglicht, parallel zur Darstellung des historischen Schicksals der Hugenotten die Herausbildung hugenottischer Selbstdeutungen nachzuvollziehen. Dies gelingt in besonders spannender Weise für das 19. Jahrhundert, in dem hugenottische Identität und deutscher Nationalismus eine aufschlussreiche Amalgamierung erfuhren.

Eine dritte Gemeinsamkeit prägt – erkennbar museumsdidaktisch motiviert – vornehmlich die Dauerausstellung und weniger den Katalog: die Aktualisierung des Themas historischer Vertriebenengruppen durch das Aufzeigen von Bezügen zu aktueller Zwangsmigration. So wird etwa die auf die Flucht mitgenommene Reisetruhe der Familie Bousset mit der Abbildung einer Flüchtlingsgruppe unserer Zeit kombiniert. Abzuwarten bleibt aber noch, wie die zugehörige Medienstation – die wie andere digitale Angebote der Ausstellung leider nicht bis zur Eröffnung fertiggestellt werden konnte – späterhin Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen heutigen und historischen Zwangsmigranten konkretisieren wird.

Somit erscheint auch ein wiederholter Besuch dieses aus dem Dornröschenschlaf erwachten Museum als durchaus reizvoll.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2022.