Den Verlust aushalten

Kraut-Kapelle: Christa Jeitner interpretiert die Auferstehung Christi

Von Tilman Asmus Fischer

Fastentuch oder Grabtuch? – Diese Frage mag sich stellen, wer Christa Jeitners Werk „Die Wand ist leer“ in der historischen Kraut-Kapelle in der Berliner Nikolaikirche besichtigt. Wie bereits mehrere Künstler vor ihr war sie eingeladen, sich kreativ mit dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Wandgemälde der Auferstehung auseinanderzusetzen. Boten die zuvor gezeigten Werke jedoch vor allem eigene künstlerische Interpretationen der Auferstehungsthematik – und überwanden sie damit zugleich den Verlust, der in der restaurierten Kapelle durch die weiße Wand an der Stelle des historischen Gemäldes signalisiert wird –, so geht Jeitner einen anderen Weg.

Die Wand ist nicht nur leer – sie bleibt es auch: Die Künstlerin versucht sich nicht an einer Überwindung der Leere und des Verlustes – sie macht vielmehr beide selbst zum Thema und lädt damit auch den Betrachter ein, sich damit auseinanderzusetzen. Dominiert wird ihre Installation von einem leinenen Vorhang, der die Wand in Teilen verhüllt und bei dem sich eben die Frage stellt: Ist er als Anspielung auf Fastentücher zu verstehen, wie sie zwischen Aschermittwoch und Ostern traditionell Hochaltäre verhüllen? Oder legt der historische Ort der zerstörten Auferstehungsdarstellung doch nahe, ihn als Repräsentation des Grabtuches zu deuten, das in der Grabhöhle vom Auferstandenen zeugt?

Es mag gerade die Spannung zwischen diesen beiden Deutungsalternativen sein, die Jeitners Arbeit in besonderer Weise auszeichnet – womöglich gerade auch in den Wochen nach Ostern, indem die Installation mahnt, trotz des Sieges über den Tod den Karfreitag nicht für unbedeutend zu erachten und in seinem theologischen Gehalt zu vernachlässigen. Schmerz, Verlust und Tod mögen nicht das letzte Wort haben, aber sie hallen nach. Daran gemahnt auch der kleine bronzene Korpus des Gekreuzigten, der – gleich von einem Kruzifix gefallen – vor den Füßen des Betrachters in Staub und Asche liegt. Leid und Schmerz hallen aber nicht nur nach im Gedächtnis – dem individuellen wie dem kulturellen – nach; sie dringen selbst immer wieder ins Blickfeld und werden Wirklichkeit. Als Jeitner zehn Jahre alt war endete der Zweite Weltkrieg. Als sie an der Installation arbeitete, brach wieder Krieg in Europa aus. Womöglich steht auch diese Erfahrung hinter „Die Wand ist leer“.

Christa Jeitner, „Die Wand ist leer“, ist bis zum 5. Juli zu sehen im Museum Nikolaikirche, Nikolaikirchplatz, Berlin-Mitte, täglich 10 – 18 Uhr

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 25/2022.

Ein protestantischer Erinnerungsort

Das Theologische Konvikt plant eine Ausstellung zur Geschichte des eigenen Hauses

Von Tilman Asmus Fischer

Als sich der Förderverein „Konvikt Borsigstraße 5“ im Jahre 2018 auflöste, weil sein Vereinszweck – der Erhalt des früheren Sprachenkonvikts und heutigen Theologischen Konvikts – mit der Übernahme der Nutzung durch die Hilfswerksiedlung erfüllt war, übertrug er sein Vermögen auf die neugegründete „Gemeinschaft des Theologischen Konvikt Berlin e.V.“. Dies war mit dem Auftrag der Einrichtung einer öffentlich zugänglichen Ausstellung zur Geschichte des historischen Gebäudekomplexes verbunden. Dieses Vorhaben steht nun bald vor der Vollendung. Ab 2023 soll eine 13teilige Schautafelausstellung im Hof des Konvikts die Geschichte dieses protestantischen Erinnerungsorts dokumentieren.

Die Bedeutung wie die Bedeutungsvielfalt dieses Ortes treten bereits aus der Konzeption hervor: So liegt der Schwerpunkt, dem der zweite Teil der Ausstellung gewidmet ist, auf der kirchen- und zeitgeschichtlich gewichtigsten Epoche – derjenigen des Sprachenkovikts, der staatsunabhängigen kirchlichen Hochschule in den Jahren der SED-Herrschaft. Hier geht es nicht nur um die Aufrechterhaltung eines Raumes freien theologischen Denkens, sondern zugleich um dessen Bedeutung für politisches Engagement aus christlicher Verantwortung. Dies gilt insbesondere für die im Konvikt – unter Beteiligung evangelischer Theologen wie Markus Meckel – vorbereitete Gründung der Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) im Oktober 1989 und das Bündnis „Demokratie Jetzt“, zu dessen Gründern der am Konvikt tätige Kirchenhistoriker Wolfgang Ullmann zählte.

Jedoch geht die Geschichte des Theologischen Konvikts nicht in derjenigen der Opposition gegen die kommunistische Gewaltherrschaft auf. Vielmehr reicht sie zurück in das diakonische Wirken im Berlin der Kaiserzeit. Sie beginnt 1878 mit der Gründung des Waisenhauses „Zoar“, an das sich bald ein Heim für junge alleinstehende Frauen anschloss, die in die Hauptstadt zogen. Dieses Werk war eine der Institutionen, aus denen die Bahnhofsmission in Deutschland hervorging. Zwischen den 1920er und 1950er Jahren waren zwischen der Borsig- und Tieckstraße verschiedene evangelische Institutionen angesiedelt, darunter bereits ein Studentenwohnheim. Studentisches Leben prägt seitdem die gesamte Anlage um die 1898 bis 1900 errichtete Golgathakirche.

Als Kuratorin konnte die Gemeinschaft des Theologischen Konvikt mit der freischaffenden Historikerin Martina Voigt, eine Spezialistin für die Geschichte des Nationalsozialismus mit einem Schwerpunkt auf der Kirche im Dritten Reich, gewinnen. Diese hatte zuletzt im Auftrag der der Landeskirche und der Kirchengemeinde in Kooperation mit der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand den 2020 eröffneten Erinnerungsort für Heinrich Vogel im Pfarrhaus von Dobbrikow gestaltet. Der prominente Vertreter der Bekennenden Kirche war nach Ende des Zweiten Weltkriegs Professor an der Kirchlichen Hochschule Berlin, die ihren Sitz in West-Berlin hatte und als deren Ost-Berliner Außenstelle das Sprachenkonvikt firmierte.

Woran es den Initiatoren gegenwärtig noch mangelt, sind historische Aufnahmen der Innenräume bzw. des Studentenalltags früherer Generationen. „Es wäre schon schön, wenn wir zum Beispiel zeigen könnten, wie ein Studentenzimmer in den 1930er oder 1970er Jahren ausgesehen hat“, so Voigt. Frühere Konviktsbewohner und -bewohnerinnen – oder ihre Nachfahren –, die über Fotografien, Zeichnungen oder andere spannende Dokumente der Hausgeschichte verfügen, sind gebeten, diese dem Konvikt zur Digitalisierung und möglichen Verwendung in der Ausstellung zur Verfügung zu stellen.

Weitere Informationen und Kontakt zum Konvikt: www.theologischeskonvikt.de; Ephorus Pfarrer Dr. Volker Jastrzembski: 030 / 53 64 96 81Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 23/2022.

Gotteshaus als Ort der Lokalgeschichte

In der früheren Kleinmachnower Auferstehungskirche entsteht ein Lokalmuseum. Ein Wochenende mit Interviewfilmen eröffnet zeitgeschichtliche Einblicke

Von Tilman Asmus Fischer

Am Karfreitag des Jahres 2018 war die Kleinmachnower Auferstehungskirche entwidmet worden, nachdem durch zuzugsbedingtes Gemeindewachstum der Umzug in ein neugebautes Gemeindezentrum mit Kirchsaal notwendig geworden war. Fast ein halbes Jahrzehnt später kehrt nun wieder Leben in das zwischenzeitlich durch die Kommune erworbene Baudenkmal ein: Auf einen letztjährigen Beschluss der Gemeindevertretung hin entsteht ein Kleinmachnow-Museum. Hiermit entspricht die Politik einem jahrzehntelangen Wunsch aus der Zivilgesellschaft, den bereits seit den 1990er Jahren der Heimat- und Kulturverein Kleinmachnow artikuliert hatte und dessen sich in den vergangenen Jahren zudem die Museumsinitiative Kleinmachnow angenommen hatte. Dritte im Boot ist die Aktionsgruppe Stolpersteine Kleinmachnow. Alle drei Vereine haben ihren Sitz im früheren Gotteshaus im Jägerstieg, wo sie zudem die fortgesetzte Beteiligung der Zivilgesellschaft an dem von der Gemeinde getragenen Museum sicherstellen sollen. Gegenwärtig richten sich die Planungen auf den anstehenden denkmalschutzgerechten Umbau – künftig sollen festangestellte Mitarbeiter den Archiv- und Ausstellungsbetrieb sicherstellen. Hans Schimkönig, zweiter Vorsitzender der Museumsinitiative freut sich, dass damit in absehbarer Zeit ein Museum für diesen „spannenden Ort am Rande Berlins“ entsteht: „Kleinmachnow war nicht nur ein bekannter Wohnort der DDR-Elite, sondern auch zahlreicher Intellektueller und Künstler, wie Schriftstellerin Christa Wolff. Die Ereignisse der Zeitgeschichte hatten immer auch Einfluss auf die Gemeinde – nicht zuletzt nach der Wende, als es viele Konflikte zwischen Hausbewohnern und Alteigentümern gab.“

Noch vor dem Umbau können sich Interessierte einen Eindruck von den bisherigen Sammlungsaktivitäten der Initiatoren (und vom historischen Gebäude) machen: So präsentiert vom 11. bis 26. Juni die Ausstellung „Kleinmachnower Orte im Wandel der Zeit“ die ersten Ergebnisse eines Foto-Sammlungsaufrufs. Einen eigenen Beitrag zur Dokumentation der Lokalgeschichte seit den Jahren des Nationalsozialismus leistet Schimkönig selbst durch den Aufbau eines Zeitzeugenfilmarchivs. Der studierte Regisseur und Drehbuchautor hat in den vergangenen Jahren gemeinsam mit Kameramann Marco Casiglieri 24 Interviewfilme von 50 bis 120 Minuten Länge gedreht, in denen je eine Bürgerin bzw. ein Bürger Kleinmachnows zu Wort kommt. „Ziel ist es“, so Schimkönig, „die Menschen ihre Erlebnisse und Perspektiven berichten zu lassen.“ Diese können durchaus in Spannung zueinander stehen, wie sich an den Jahren der DDR zeigt: „Einige haben gelitten, andere haben das System mitgetragen. Alle haben jedoch Ende der 1980er Jahre gemerkt, dass es knirscht – auch die SED-Leute.“ Zur Premiere acht neuer Interviewfilme ist die Öffentlichkeit vom 17. bis 19. Juni im Rahmen eines langen Filmwochenendes in den Jägerstieg eingeladen. Die älteren Filme stehen im Foyer des künftigen Museums auf Tablets zur Verfügung. Es ist dies bereits die zweite Veranstaltung dieses Formats – neben Präsentationen in den Kleinmachnower Kammerspielen.

Einer der Zeitzeugen, die bereits bei einer der früheren Uraufführungen präsentiert worden waren, ist der Naturwissenschaftler Gerhard Casperson, der sich zur Wendezeit in der Bürgerrechtsbewegung und bereits zuvor in der evangelischen Kirchengemeinde engagierte. Mit ihm kommt auch die Kirche als zivilgesellschaftliche Kraft in den Blick – und somit die Heimstatt des künftigen Museums selbst als lokalgeschichtliches Denkmal. Dies nicht nur als Ort der Erinnerung an Treffen der Umweltbewegung, Gemeindeveranstaltungen mit Systemkritikern wie Stefan Heym oder Bürgerversammlungen des Jahres 1989, von denen Casperson zu berichten weiß. Noch heute zeugt in dem Gebäude ein Kunstwerk von der jüngeren Kirchengeschichte: Es handelt sich um ein Kirchenfenster aus Kunstglas. Geschaffen wurde es in den 1980er Jahren von niemand anderem als dem Grafiker Herbert Sander, dem Schöpfer des bekannten Emblems der Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“. Dass im Museum Kleinmachnow das Kunstwerk zu sehen sein und über den Künstler informiert werden wird, versteht sich für die Initiatoren von selbst.

2. Langes Filmwochenende im zukünftigen Museum Kleinmachnow: 17. Juni, 17-22 Uhr u. 18./19. Juni, 11-22 Uhr; Jägerstieg 2, Kleinmachnow; Eintritt frei. Weitere Informationen: https://museumsinitiative-kleinmachnow.de/

In ähnlicher Form erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 22/2022.

Auferstehung Christi und Transzendenz der Natur

Im Sinne einer „experimentellen Denkmalpflege“ lädt das Museum Nikolaikirche Künstler ein, das dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallene Wandgemälde „Auferstehung Christi“ in der Grabkapelle der Familie Kraut an seinem historischen Ort durch eigene Werke zu kommentieren. Gegenwärtig wird im Rahmen der Reihe „Kunstraum Kraut“ das Gemälde „Auferstehung, Wiedergeburt, Vergänglichkeit“ von Johanna Staniczek gezeigt. Tilman A. Fischer sprach mit der Künstlerin und Kurator Albrecht Henkys.

Mit dem „Kunstraum Kraut“ haben Sie, Herr Henkys, Künstlerinnen und Künstler zur Auseinandersetzung mit dem Thema Auferstehung eingeladen, auf die Sie, Frau Staniczek, und Ihre Kollegen sich eingelassen haben. Welche Deutungen sind dabei zustande gekommen?

Staniczek: Es sind ganz unterschiedliche Positionen entstanden. Einige Künstler haben sich – wenn auch mit höchst unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksweisen – explizit auf die ehemalige figurative Darstellung bezogen. Andere, wie ich, haben das nicht gemacht. Wichtig war uns aber allen, dass in der Mitte etwas Besonderes ist, wo in der ehemaligen barocken Wanddarstellung der auferstandene Jesus zu sehen war. Heute überlegt man sich: Was ist das für mich, Auferstehung? Jeder denkt mal darüber nach, wie es weitergeht nach dem Tod – spätestens, wenn die Eltern oder ein teurer Freund verstorben sind. Mein Bild entspringt eher aus einem pantheistischen Glauben. Als erstes sieht man die Auferstehung in der Natur – im Zentrum das Kommen des Lichts, der Sonne. Und so, wie die Natur immer wieder aufersteht, ersteht auch der Mensch auf – auch gefühlsmäßig.

Henkys: Mich hat bewegt, wie die Künstlerinnen und Künstler mit dem Paradoxon der anwesenden Abwesenheit oder der abwesenden Anwesenheit umgegangen sind, was ja hier ganz besonders weit getrieben ist, insofern die Anwesenheit des Auferstandenen gar kein Bildthema ist, sondern als Licht symbolisiert wird. Es ist in den zeitlichen Dimensionen der Kunstgeschichte noch gar nicht so lange her, dass man – im späteren Mittelalter – begonnen hat, Auferstehungsszenen zu malen. Diese Unfasslichkeit ist als Bildthema zuvor eigentlich nicht üblich gewesen. Sicher sind bereits auch vor der Reformation Auferstehungsszenen gemalt worden, aber das Auferstehungsthema so dezidiert bildlich zu fassen, ist eigentlich reformatorisch: Die Überwindung des Todes und der Sünden, das mit Vergebung verbundene Heilsversprechen und die Aussicht auf ein neues, ewiges Leben werden durch die Auferstehung symbolisiert. Von da an wird diese Darstellung dann auch in der Grabmalskunst dominant – und so auch in der Kapelle Kraut. Zuvor – als diese reformationstheologischen Ideen noch nicht im Mittelpunkt standen – hat man sich mit expliziten Darstellungen der Auferstehung eher zurückgehalten und diese vor allem durch Pflanzen symbolisiert.

„Auferstehung, Wiedergeburt, Vergänglichkeit“ von Johanna Staniczek

Pflanzen- und Naturelemente sind auch für Ihr Gemälde bedeutend, Frau Staniczek. Woher rührt die Motivik des Bildes?

Staniczek: Hinter den Waldmotiven stehen ganz intensive Erfahrungen aus meiner Kindheit auf der schwäbischen Alb. Das eine ist die Schneeschmelze. Das andere die Bäume, die von jeher für Schutz stehen, bei deren Betrachtung ich auch an Verstorbene, etwa meinen Vater, denke. Für den Entwurf habe ich auch neben den Bäumen Blumen gewählt, die auf mittelalterliche Mariendarstellungen verweisen. Ebenso steht das Blau  des Himmels, das in der Akelei, der Blume der Gotik vorkommt, für das Blau des Schutzmantels der Maria. Die Akelei wurde als Sieg des Lebens über den Tod gedeutet. Bei der Farbgebung habe ich mich an den Farben in der Kapelle und an Farben im Barock orientiert und so im unteren Bereich ganz bewusst auf Erdfarben reduziert – Ocker, einen rötlichen Braunton, Terra di Siena und Caput mortuum. Im oberen Bereich habe ich auch ausschließlich Naturfarben gewählt und nicht etwa für mittelalterliche Mariendarstellungen typische Ultramarinblau.

Henkys: Ich finde, dass Dein bildnerisches Herangehen ganz stark davon mitgeprägt ist, dass Du Deine Materialien selbst herstellst. Du bist vom ersten Moment des Prozesses wirklich engstens verbunden – und auch erdverbunden, indem Du Erdfarben selber anteigst, Dir die Pastellbrocken backst und so weiter. Die Materialien sind in der Natur entstanden und Du holst sie – bildlich gesprochen – aus der Erde und bringst sie auf das Bild. Das ist bemerkenswert sichtbar.

Wie verhält sich der enge Naturbezug in Ihrer Arbeit zur religiösen Dimension Ihres Gemäldes?

Staniczek: Ich habe immer tiefe Empfindungen, wenn ich in einem sakralen Raum stehe, aber auch, wenn ich im Wald stehe. Der Wald ist für mich nicht zum Joggen da. Das kann man machen, aber da steckt noch viel mehr darin. Die Natur ist unsere Lebensgrundlage: die Pflanzen, die Wälder, die Flüsse, die Erde. Die Umwelt hat immer auch eine transzendente Dimension. Und eine Kunst, in der ich dies erkennen kann, ist für mich das größte.

In ähnlicher Form erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 15/2022.

Aus dem Dornröschenschlaf erwacht

Das Berliner Hugenotten-Museum wartet mit überarbeiteter Dauerausstellung und neuen inhaltlichen Akzenten auf

Über viele Jahre führte das Hugenottenmuseum trotz seiner prominenten Lage im Französischen Dom am Gendarmenmarkt ein Schattendasein innerhalb der Berliner Museumslandschaft; eine Tatsache, deren Gründe einem mit Fragen von Museumskonzeptionen und -gestaltungen vertrauten Besucher rasch offensichtlich wurden. Umso mehr kann man sich mit den Trägern dieser aus zivilgesellschaftlichem Engagement heraus entstandenen Erinnerungs- und Informationsstätte nun freuen, dass nach einer Gebäudesanierung sowie einer – durch die französisch-reformierte Gemeinde, private Spender und vor allem die Lottostiftung ermöglichten – Neugestaltung der Dauerausstellung das Museum merklich aus seinem bisherigen Dornröschenschlaf erwacht ist.

Die neue Dauerausstellung eröffnet umfassend Einblick in die Geschichte der Hugenotten von ihrem Eintreffen als Glaubensflüchtlinge im Hohenzollernstaat bis zur Gegenwart der französisch-reformierten Christen in Deutschland – neues Gewicht legt das Museum aber auch auf die Darstellung der Entstehung und des Erbes der Hugenotten in ihrem französischen Heimatland. Im Fokus der Ausstellung stehen spürbar die Kerngebiete der hugenottischen Ansiedlung in Brandenburg; gleichwohl finden auch die Ansiedlungen in den historischen preußischen West- und Ostgebieten Erwähnung. Zudem hat das Museumsteam bereits mit seiner letzten Sonderausstellung deutlich gemacht, dass es ihm auch um die Hugenotten aus dem weiteren Ostseeraum getan ist: gewidmet war die unter dem Titel „Der große Künstler des kleinen Formats“ stehende Schau im Obergeschoss des Museums dem 1726 in Danzig geborenen Grafiker Daniel Chodowiecki.

Interessenten, die womöglich ob der pandemischen Lage gegenwärtig noch vor einer Reise in die Bundeshauptstadt absehen, sei die attraktive Website, die einen virtuellen Rundgang anbietet, ebenso ans Herz gelegt wie das zur Neueröffnung erschienene und gleichfalls ansprechend gestaltete Buch „Refuge Berlin Brandenburg. Migration und Leben der Hugenotten 1672 bis heute“. Dessen inhaltliche Ausrichtung entspricht den programmatischen Orientierungen, die auch die neue Dauerausstellung prägen; daher erscheint es sachgemäß, an dieser Stelle Buch und Ausstellung gemeinsam zu betrachten. Einem Katalog-Teil vorgeschaltet findet sich eine Aufsatzsammlung, die einen Überblick gibt über „Verfolgung und Flucht der Hugenotten und ihre Aufnahme in Brandenburg-Preußen“ (Susanne Lachenicht) und das Edikt von Potsdam (Matthias Asche) sowie die Geschichte der Französischen Friedrichstadtkirche (Klaus Merten) beleuchtet.

Sodann wird der Band eröffnet von einem Beitrag des Historikers Etienne François, der dazu gewonnen werden konnte, die „Hugenottengeschichte als deutsch-französische und europäische Geschichte“ zu interpretieren. Dies entspricht dem Paradigmenwechsel von einer nationalen zu einer europäischen Geschichtsdeutung, der sich in den zurückliegenden Jahren auch in der Kulturarbeit nach § 96 BVFG durchgesetzt und in der Arbeit der ostdeutschen Landesmuseen bewährt hat. Dem mit der Migration der Hugenotten einhergehenden Kulturtransfer wie der heutigen Bedeutung der in hugenottischer Tradition stehenden reformierten Gemeinden und ihrer Glieder als Mittler zwischen Deutschland und Frankreich spürt auch die Ausstellung nach.

Eine weitere Parallele zur ostdeutschen Kulturarbeit tut sich im Bewusstsein für Fragen der Geschichtsrezeption und Identitätsbildung auf. So nimmt ein Aufsatz von Alexander Schunka „Hugenottische Erinnerungskulturen“ in den Blick. Darum bemüht sich – in einer durchaus selbstkritischen Haltung – auch das Museum, indem es dem Besucher ermöglicht, parallel zur Darstellung des historischen Schicksals der Hugenotten die Herausbildung hugenottischer Selbstdeutungen nachzuvollziehen. Dies gelingt in besonders spannender Weise für das 19. Jahrhundert, in dem hugenottische Identität und deutscher Nationalismus eine aufschlussreiche Amalgamierung erfuhren.

Eine dritte Gemeinsamkeit prägt – erkennbar museumsdidaktisch motiviert – vornehmlich die Dauerausstellung und weniger den Katalog: die Aktualisierung des Themas historischer Vertriebenengruppen durch das Aufzeigen von Bezügen zu aktueller Zwangsmigration. So wird etwa die auf die Flucht mitgenommene Reisetruhe der Familie Bousset mit der Abbildung einer Flüchtlingsgruppe unserer Zeit kombiniert. Abzuwarten bleibt aber noch, wie die zugehörige Medienstation – die wie andere digitale Angebote der Ausstellung leider nicht bis zur Eröffnung fertiggestellt werden konnte – späterhin Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen heutigen und historischen Zwangsmigranten konkretisieren wird.

Somit erscheint auch ein wiederholter Besuch dieses aus dem Dornröschenschlaf erwachten Museum als durchaus reizvoll.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2022.

Leben und Sterben im Zeichen des Auferstandenen

Klaus Killisch und Markus Rheinfurth interpretieren mit einer Installation die „Auferstehung Christi“

Von Tilman Asmus Fischer

„Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich.“ Mit diesen Worten endete ursprünglich das Markusevangelium im 8. Vers des 16. Kapitels. Dass die Frauen, welche das leere Grab entdeckten, die Botschaft nicht weitersagten, war für die Tradenten des Textes derart unbefriedigend, dass sie den uns vertrauten sekundären Markusschluss an den ursprünglichen anfügten. Damit freilich nahmen sie dem Evangelium seine ursprüngliche Pointe, adressierte das abrupte Ende in Vers acht doch den Hörer bzw. Leser des Evangeliums. Wie stellt er sich selbst zur Botschaft der Jünglings – „Er ist auferstanden…“ – und seinem Auftrag – „Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat“?

Welche Konsequenzen ziehen wir aus der Botschaft der Auferstehung Jesu für unser eigenes Leben? Begeben wir uns in die Nachfolge? – Die hiermit angesprochene existenziale Dimension des Evangeliums ist, wie gezeigt, im Zuge der Textüberlieferung abgeschwächt worden, aber sie ist nicht verloren gegangen. Artikuliert wird sie immer wieder – und nicht nur in Theologie und Wortverkündigung. Eine spannende künstlerische Annäherung stellt die Installation „fragments“ von Klaus Killisch und Markus Rheinfurth dar, die noch bis zum 21. März in der rekonstruierten Grabkapelle für Johann Andreas von Kraut und seine Ehefrau Anna Ursula in der Berliner Nikolaikirche zu sehen ist. Nicht wiederhergestellt werden konnte nach Kriegszerstörung von dem 1725 vollendeten Gesamtkunstwerk Johann Georg Glumes die barocke Decken- und Wandmalereien. Letzte zeigte die „Auferstehung Christi“. Diese Leerstelle bietet gegenwärtig neun Künstlerinnen und Künstlern den Raum, nacheinander ihre Auseinandersetzungen mit dem verlorenen Gemälde und seiner Thematik zu präsentieren.

Die Interpretation durch Killisch und Rheinfurth ist dominiert durch das grelle Licht einer blauen Neonröhre, welche die Bildfläche durchzieht. Man mag sich durch sie an den sich öffnenden Himmel bei der Taufe Jesu erinnert fühlen – womöglich aber auch an den Riss, der beim Tod Jesu durch den Vorhang des Jerusalemer Tempels geht. In Jesu Wirken, Leiden, Sterben – aber ebenso in seiner Auferstehung offenbart Gott seinen Willen zum Heil der Welt und bricht mit dieser Offenbarung in das Leben desjenigen herein, der sich von dieser Offenbarung ansprechen lässt. Und wer von dieser Offenbarung her die Wirklichkeit wahrnimmt, kann in ihr Zeichen und Hinweise des göttlichen Wirkens entdecken, ebenso wie im Kunstwerk zwischen dynamisch changierenden Farbflächen die Grabtücher Jesu sichtbar werden.

Selbst sind diese im Farbton des Marmors gehalten, der die restliche Kapelle und vor allem das Krautsche Grabmal dominiert. Womöglich ein Hinweis darauf, dass der Raum des Kunstwerkes als christliche Grabkapelle bestimmt war von einem Leben, dass sich eben auf den Gekreuzigten und Auferstandenen bezogen wusste. Oder wie es der Heidelberger Katechismus formuliert: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? – Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.“

In ähnlicher Form erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 5/2022.

Museum Nikolaikirche, Berlin-Mitte; Öffnungszeiten: Di bis So, 10 bis 18 Uhr; Eintrittspreis: 5/3 Euro (bis 18 Jahre Eintritt frei); http://www.stadtmuseum.de/nikolaikirche

Bischof der geteilten Stadt

Vor der Wende rang Alfred Kardinal Bengsch um Ost und West. Das Porträt eines ‚Theologen der Einheit‘

Von Tilman Asmus Fischer

Zur Zeitgeschichte des Erzbistums Berlin sind gegenwärtig wichtige Veröffentlichungen zu vermerken. Bereits vergangenes Jahr waren posthum die Memoiren Joachim Kardinal Meisners erschienen, der von 1980 bis 1989 Bischof in der geteilten Stadt gewesen war. Heuer unternimmt nun die neue Monografie des Kirchenhistorikers Stefan Samerski den verdienstvollen Versuch, die Lücke zwischen dem umfangreich erforschten Julius Kardinal Döpfner (Berliner Bischof 1957–1961) und Meisner zu füllen: Mit „Alfred Bengsch. Bischof im geteilten Berlin“ legt Samerski zu dessen 100. Geburtstag bzw. dem 60. Jahrestag seiner Inthronisation eine Biografie des wohl prägendsten Berliner Oberhirten der Vorwendezeit vor.

Erzbischof Dr. Alfred Kardinal Bengsch 1978 in Erfurt
(Bundesarchiv, Bild 183-T0924-0004 / Ludwig, Jürgen / CC-BY-SA 3.0)

Das Buch war mit Interesse zu erwarten gewesen, kommt Bensch doch zum einen im kollektiven Gedächtnis des mitteldeutschen Katholizismus die Rolle einer bedeutenden Führungspersönlichkeit zu; zum anderen waren seine ekklesiologisch konservativen Positionen sowie seine politische Abstinenz stets auch Gegenstand deutlicher Kritik. Samerski bedient weder ein hagiographisches Narrativ, noch zeichnet er Bengsch als Dunkelmann. Vielmehr wählt er den Weg einer sachlich-positivistischen Lebensdarstellung, die sowohl die Bedeutung des Kardinals als auch die Ambivalenzen benennt, die sich damit verbanden, als Oberhirte unter den Bedingungen eines kirchenfeindlichen Regimes zu agieren. Dabei stützt sich Samerski auf einen umfangreichen Bestand an Druckerzeugnissen, Archivalien und selbstgeführten Zeitzeugeninterviews. Freilich hat der gewählte Zugriff den Preis, dass bisweilen unterschiedliche Perspektiven der Quellen auf Bengschs Persönlichkeit und Wirken nebeneinander und in Spannung zueinander stehen, ohne gewichtet oder an eine These des Biographen rückgekoppelt zu werden.

Vor allem ist jedoch zu würdigen, dass Samerski nicht der naheliegenden Versuchung erliegt, seine Bengsch-Biografie – aufgrund der Brisanz der ihren Hintergrund bildenden deutschen Teilungsgeschichte – auf die kirchenpolitische Figur zu reduzieren. Vielmehr reflektiert er nachhaltig Bengsch als Theologen sowie die theologischen Motive seines Handelns. Dies gilt zum einen für die bereits früh entwickelte kreuzestheologische Prägung Bengschs. So würdigt Papst Benedikt XVI. als der wohl prominenteste zitierte Zeitzeuge dessen theologisches Profil im Kontext der Nachkriegszeit: „Gegenüber der damals vorherrschenden einseitigen Orientierung an der Inkarnation hat Bengsch das Kreuz als den Richtpunkt der Theologie herausgestellt.“ Zum anderen tritt in dem von Samerski gezeichneten Porträt des Kardinals deutlich die ‚Einheit‘ als zentrales Motiv von Theologie, Ekklesiologie und folglich auch des kirchenpolitischen Wirkens Bengschs hervor. Dies bedeutete nicht zuletzt das permanente Ringen des Erzbischofs um das eine Bistum in Ost und West – also um den Erhalt des kirchenpolitischen Status quo. Dass dieser nicht zuletzt durch eine politische Abstinenz erkauft wurde, die der Oberhirte nicht nur selbst übte, sondern auch in seinem Einflussgebiet rigide durchsetzte, verschweigt der Autor nicht.

Das kirchenpolitische Vermächtnis Bengschs tritt bei Samerski nicht nur hinsichtlich der Diözese des Kardinals, sondern gerade auch unter weltkirchlicher Perspektive in den Blick. Dies gilt zum einen für die ausführlich gewürdigte Beteiligung Bengschs am Zweiten Vatikanischen Konzil. Zum anderen trägt die Lebensdarstellung ganz deutlich die Handschrift ihres – durch wichtige Forschungen zur ostmitteleuropäischen Kirchengeschichte hervorgetretenen – Verfassers, wo in besonderer Weise die Verbundenheit des Berliner Bischofs zu den Geschwistern in anderen Ostblock-Staaten hervorgehoben wird. Diese, sowie die eigene Lage in der „DDR“ brachte ihn Teils in deutliche Opposition zur unter dem Pontifikat Pauls VI. entwickelten vatikanischen Ostpolitik, die über die Köpfe des örtlichen Klerus hinweg auf direkte Verhandlungen zwischen Vatikan und Ostblock-Regierungen setzte. Zudem entwickelte Bengsch, wie Samerski an vielen Beispielen zeigt, eine „persönliche Ostpolitik“ auf der Grundlage persönlicher Beziehungen, nicht nur zum Krakauer Erzbischof und späteren Papst Johannes Paul II., sondern auch in die Tschechoslowakei oder nach Litauen.

Auf Ambivalenzen mag – neben den oben ausgeführten Aspekten – auch hinweisen, was das Buch für die gegenwärtige Diskussion um sexuellen Missbrauch im kirchlichen Kontext austrägt. Dass diese – tagespolitisch brisante – Passage kurz ausfällt, ist der Tatsache geschuldet, dass das grundlegende juristische Gutachten „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich des Erzbistums Berlin seit 1946“ erst kurz vor Fertigstellung des Buchmanuskripts veröffentlicht wurde. Zwei Fallbeispiele, die Samerski nachverfolgt, deuten darauf hin, dass Bengsch in entsprechenden Fällen nicht tatenlos blieb, jedoch auch nicht zu einer Aufklärung im engeren – und erst recht strafrechtlichen – Sinne beitrug. Man wird sich jedoch dem Votum des Biografen anschließen müssen: „Zukünftige historische Studien müssen auch hier Klarheit und Einordnung bringen.“

Das ist auch für einzelne Aspekte der Staat-Kirche-Beziehungen in der DDR unter Bengsch in Anschlag zu bringen und gilt ganz gewiss für den Einfluss der beiden Prälaten Paul Dissemond (1920–2006; Generalsekretär der Berliner Bischofskonferenz) und Gerhard Lange (1933–2018; Beauftragter für die Kontakte zur DDR-Regierung) für die Amtsführung Bengschs. In seinen Memoiren hatte Meisner erhebliche Kritik an deren Staatsnähe und negativer kirchenpolitischer Einflussnahmen erhoben. Leider verzichtet Samerski auf eine tiefergehende Einordnung dieser auch die Amtszeit von Meisners Vorgänger betreffenden Vorwürfe aus kirchenhistorischer Perspektive.

Stefan Samerski, Alfred Bengsch, Bischof im geteilten Berlin, Herder, Freiburg i. Br. 2021. 256 Seiten, ISBN 978-3-451-38820-0, 38 Euro.

In ähnlicher Form erschienen am 7. Oktober 2021 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Von einem, der standhielt

Die Erinnerungen des Joachim Kardinal Meisner

Er gehörte zu den polarisierendsten und kontroversesten Persönlichkeiten des deutschen Katholizismus im 20. Jahrhundert: der Erfurter Weihbischof, Berliner Bischof und Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner (1933-2017). Die Schlachten um seine theologischen und kirchenpolitischen Positionen sind geschlagen, die Fronten waren früh – und sind teils über seinen Tod hinaus bis heute – verhärtet. Und so ist auch von den unlängst posthum erschienenen Lebenserinnerungen nicht zu erwarten, dass sie in die alten Debatten von Ökumene über Sexualethik bis Sakralkunst neue Dynamik bringen.

Jedoch vermögen sie womöglich – den Anhängern wie Kritikern des konservativen Frontmanns in der Deutschen Bischofskonferenz – zu erhellen, in welchem Maße Faktoren der Zeitgeschichte das theologische Profil und die Frömmigkeit eines markanten Kirchenführers der vergangenen Jahrzehnte prägten. Dies waren vor allem zum einen Flucht und Vertreibung, die für den gebürtigen Breslauer den Verlust seiner schlesischen Heimat bedeuteten, zum anderen die kommunistische Gewaltherrschaft in der SBZ/„DDR“, die Meisner als heranwachsender Katholik, Theologiestudent, Priester und Bischof in ihren unterschiedlichsten Facetten kennenlernte.

Rückblickend gelangt der Verfasser selbst zu einer klaren Interpretation der Bedeutung der Jahre bis 1989 für sein Wirkens im westlichen bzw. wiedervereinigten Deutschland: „Im Grunde waren diese Erfahrungen auch ein gutes Noviziat für später. Es hat uns immun gemacht gegen die Versuchungen der sogenannten freien Welt, die nicht aufgibt, einen Bischof zu sich hinüberzuziehen. Doch wenn er diesen Versuchungen erliegt, um es leichter zu haben, hat er nichts mehr in der Hand, weil er alles weggegeben hat. So wie Hans im Glück bleibt ihm dann nur noch ein Stein. Wer sich anpasst, kann gleich einpacken.“ Unbenommen der Frage, welche Berechtigung dem für diese Deutung konstitutiven Verfallsnarrativ mit Blick auf die ‚freie Welt‘ – also den Westen – zukommt: Die hieraus sprechende Prägekraft biografischer Erfahrungen für das theologische Profil Meisners findet nicht zuletzt darin Bestätigung, dass die Herausgeber der Erinnerungen (Meisners Testamentsvollstrecker Msgr. Markus Bosbach und die Journalistin Gudrun Schmidt, die Meisners Erinnerungen aufzeichnete und edierte) den Schlusssatz als Buchtitel ausgewählt haben.

Drei Grundlinien lassen sich für diese spezifische Prägung Meisners ausmachen: Zum einen betont Meisner eine spezifisch schlesische Frömmigkeit, die vor allem vor dem Hintergrund des protestantischen bzw. säkularen Umfeldes in Mitteldeutschland ab 1945 Strahlkraft gewinnt. Zum anderen arbeitet er die ideologischen und praktisch-politischen Konfrontationen zwischen Kirche und SED-Regime heraus. Zuletzt gewährt der frühere Berliner Bischof, der als solcher Grenzgänger zwischen Ost(-Berlin) und West(-Berlin) war, Einblick in die sich zumeist im Untergrund vollziehende Unterstützung der katholischen Kirche in den anderen Warschauer-Pakt-Staaten.

Im Zusammenhang mit dem eigenen Lebenslauf gibt Meisner immer wieder wichtige Hinweise zur Prosopographie des Klerus im ostzonalen Katholizismus. Neben Erinnerungen an einzelne Persönlichkeiten gilt dies im Besonderen für die sich aus der Gesamtschau ergebende Bedeutung ostdeutscher (und darunter vor allem schlesischer) Geistlicher für die katholische Kirche in der SBZ/„DDR“. Angesichts der Akribie, mit der Meisner ansonsten die entsprechenden Traditionslinien hervorhebt, erstaunt ein Bericht aus seiner Berliner Amtszeit (1980-1989): Nach dem behördlichen Verbot für katholische Jugendliche aus der „DDR“, wie zuvor mit polnischen Altersgenossen nach Tschenstochau zu wallfahrten, habe man sich entschieden „eine Wallfahrt von Berlin nach Rügen“ einzuführen, wo es freilich „nur eine kleine Kirche als Heiligtum gab“. Weder findet sich hier ein Hinweis darauf, dass der Bau der erwähnten Kapelle „Maria Meeresstern“ vor dem Ersten Weltkrieg von dem schlesischen Priester und späteren letzten deutschen Bischof des Ermlands Maximilian Kaller betrieben worden war; noch wird erwähnt, dass ebendiese Kapelle bereits auf eine kurze Wallfahrtstradition zurückblicken konnte, die 1951 von heimatvertriebenen Katholiken in der Diaspora begründet worden war. Sollte beides dem kundigen Katholiken und Schlesier Meisner unbekannt gewesen sein?

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: DOD – Deutscher Ostdienst 5/2020.

Joachim Kardinal Meisner, Wer sich anpasst, kann gleich einpacken. Lebenserinnerungen, Freiburg i. Br. 2020.

Gefordert ist der „ganze Kerl“

Seit 150 Jahren wirken die Dominikaner in Berlin-Moabit. Inmitten einer Großpfarrei mit Zehntausenden Katholiken evangelisieren sie mit weltkirchlichem Ideenreichtum

Von Tilman Asmus Fischer

„Und da war es, als ob alles ruhig und klar würde, und ich ging mit einem Glücksgefühl nach Hause…“ So erinnert sich Romano Guardini, im Wintersemester 1905/1906 Student der Nationalökonomie an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, an sein Berufungserlebnis, das ihm während eines Hochamts in der Kirche des Dominikanerklosters St. Paulus in Berlin-Moabit widerfuhr. Hier in der Oldenburger Straße wirkt der Orden der Prediger heuer seit nunmehr 150 Jahren. So, wie dieser Ort vor mehr als 100 Jahren für Romano Guardini – der anschließend Priester und einer der bedeutendsten Religionsphilosophen seines Jahrhunderts wurde – wirksam geworden ist, wollen die Dominikaner auch heute aus dem und für den Glauben wirken.

Und so verstehen sie sich – ganz im Sinne der Neuevangelisation – als aktive Zelle in der Bundeshauptstadt, die mit ihren Angeboten auch über ihren unmittelbaren Stadtteil hinaus ausstrahlt. In einem weitgehend säkularen Lebensraum wie Berlin bedeutet dies, immer wieder neue Wege zu gehen und hergebrachte Strukturen zu überdenken. Leitend ist hierbei für Pater Michael Dillmann, den Prior des Klosters, die immer neue Frage: „Wo kann sich der Orden profilieren? Was kann man aus einem solchen Kloster ,machen‘?“

Seit Anfang des Jahres bildet St. Paulus das Zentrum der neuen Großpfarrei St. Elisabeth, die von Pater Michael geleitet wird. Damit sind die Brüder für die gesamte Pfarrpastoral in sechs Kirchen und für 26.000 Katholiken in Tiergarten und Wedding verantwortlich. Hinzu kommen die Betreuung weiterer Kapellen sowie die Krankenhausseelsorge an der Charité. Bestritten werden diese Aufgaben – neben Haupt- und Ehrenamtlichen in den einzelnen Gemeinden – vom Konvent in St. Paulus, einer internationalen und verhältnismäßig jungen Gruppe von acht Patres: sechs der Ordensmitglieder – von denen der jüngste 37 und der älteste 92 Jahre alt ist – haben das 60. Lebensjahr noch nicht erreicht; und neben fünf deutschen Brüdern stammen drei aus Polen, Belarus und der englischen Provinz des Ordens.

Allein in der Pfarrkirche St. Paulus besuchen jeden Sonntag in vier Messen mehr als 500 Menschen den Gottesdienst. „Wir legen“, so Pater Michael, „großen Wert auf Predigt und Liturgie, die wir mit besonderer Feierlichkeit begehen.“ Dies gilt gerade auch für die Sonntagabendmesse, die von den jungen Sängerinnen und Sängern der Vokalschola „Ave Florum Flos“ mit vierstimmigen Gesängen in Tradition des Liturgischen Instituts der Dominikaner in Krakau begleitet wird. Einer weiteren Krakauer Inspiration – der dortigen Gruppe „Christus in der Altstadt“ – verdankt sich die Initiative junger Katholiken „Christus in Moabit“, die sich einmal im Monat zur Messe und Anbetung trifft und auf der Straße offen Menschen einlädt, daran teilzunehmen.

Junge Erwachsene anzusprechen, ist auch das Ziel weiterer Angebote, mit denen sich die Brüder zudem an Interessierte über die eigene Pfarrgemeinde hinaus wenden. „Mit unserer ,Dominikanischen Glaubensschule‘ richten wir uns an erwachsene Taufbewerber und Menschen, die sich auf ihre Firmung vorbereiten wollen“, berichtet Pater Michael – doch sei auch willkommen, wer seinen Glauben unabhängig von einem solchen Anlass vertiefen wolle; darunter immer wieder auch Menschen, die beabsichtigten, zur katholischen Kirche zu konvertieren. In dreizehn Sitzungen werden jährlich mit circa 25 Teilnehmern Fragen der Kirchengeschichte, Liturgie, Dogmatik und Ethik sowie der persönlichen Frömmigkeit erörtert. „Am Ende des letzten Jahrgangs standen sechs Taufen in der Osternacht“, so Pater Michael: „Es waren aber auch schon mal mehr.“

Schon jetzt wirken zudem einzelne der Konventsmitglieder außerhalb von Berlin im Namen ihres Ordens: So ist Pater Rodrigo Kahl als Liturgiedozent am Priesterseminar der Petrusbruderschaft in Wigratzbad tätig. Und Pater Thomas Grießbach lehrt als Professor der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart sowie an weiteren deutschen Universitäten Rhetorische Kommunikation beziehungsweise berät Unternehmen wie Bistümer in Fragen der Personal- und Organisationsentwicklung.

Über die Jahrzehnte hinweg haben sich um das Kloster herum weitere Orte kirchlichen Lebens angesiedelt. Dabei ist zunächst an die beiden muttersprachlichen Gemeinden zu denken, die hier Gottesdienste in ungarischer Sprache und nach maronitischem Ritus feiern; hinzu kommen ferner polnische Gottesdienste. In einzelnen Räumlichkeiten des Klosters sind Einrichtungen der Caritas beheimatet, und in der unmittelbaren Nachbarschaft entstanden ein katholischer Hort mit 250 Kindern und eine katholische Grundschule mit circa 400 Schülern. Zudem existieren Dominikanische Laiengemeinschaften, die am geistlichen Leben in St. Paulus teilnehmen.

In den kommenden Jahren soll das Seminarangebot der Dominikaner systematisch ausgebaut werden: Geplant ist die Einrichtung eines „Dominikanischen Zentrums für Katechese und Spiritualität“, das für ganz Berlin neben Vorträgen und Exerzitien auch Ehe- und Taufvorbereitungskurse sowie Trauerbegleitung und Einführungen in die dominikanische Spiritualität und Mystik anbietet. Der Prior weiß, dass diese Vorhaben von den Brüdern viel verlangen – aber so sei das nun einmal: „Evangelisierung fordert den ,ganzen Kerl‘.“

Erschienen am 22. August 2019 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Reformatorische Freiheit – in Brandenburg und Preußen

Eine Ausstellung nimmt gemeinsam mit polnischen Partnern die Reformation in den Blick und zeigt Teile der Silberbibliothek Herzog Albrechts von Preußen

Die Ausstellungen, die während des zurückliegenden Jahres aus Anlass des Reformationsjubiläums gezeigt wurden, sind kaum zu überblicken. Ihre Vielfalt ist Ausdruck des Facettenreichtums dessen, was gemeinhin als ‚die Reformationsgeschichte‘ bezeichnet wird. Dies gilt vor allem für die unterschiedlichen regionalen Ausprägungen, die die reformatorischen Kirchenwesen im Prozess ihrer Entstehung und Etablierung entwickelten. Die Ausstellung „Reformation und Freiheit. Luther und die Folgen für Preußen und Brandenburg“, die noch bis zum 21. Januar im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (Potsdam) zu sehen ist, stellt exemplarisch die Reformation in zwei historischen Kulturlandschaften gegenüber, die späterhin unter der gemeinsamen Krone der Hohenzollern standen – und heute in der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen liegen: dem Kurfürstentum Brandenburg und dem Herzogtum Preußen.

Bucheinband aus der Silberbibliothek Herzog Albrechts von Preußen mit dem Wappen des Herzogs, Silber teilvergoldet, 1556
(Foto: Grzegorz Kumorowicz © Pracownia Fotograficzna Muzeum Warmii i Mazur w Olsztynie)

Im Zentrum steht dabei eine der bedeutendsten Schriften der Reformation Wittenberger Prägung: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, mit der Martin Luther 1520 auf die Bannandrohungsbulle „Exsurge Domine“ von Papst Leo X. geantwortet hatte. Diese 30 Glaubensthesen wurden im 16. Jahrhundert die Schrift mit der höchsten Druckauflage. Die Potsdamer Ausstellung zeichnet anhand des Kurfürstentums Brandenburg und des Herzogtums Preußen nach, wie Luthers Freiheitsverständnis – das zunächst einmal ein religiöses war, jedoch auch politisch interpretiert wurde – konkret historische Folgen zeitigte.

In ihrer Breitenwirkung wurde die Reformation kulturprägend – nicht nur mittels Luthers Bibelübersetzung für die deutsche Sprache. Vielmehr würdigt die Ausstellung auch ihre herausragende Bedeutung für weitere ostmitteleuropäische Schriftsprachen – sowohl das Litauische und Prußische als auch das Sorbische. Darüber hinaus geraten geschichtliche Ereignisse in den Blick, denen in der allgemeinen Reformationsgeschichtsschreibung, wenn überhaupt, dann randständige Bedeutung zukommt: Dies gilt etwa im Falle Preußens für den Aufstand samländischer Bauern gegen den regionalen Adel im Jahre 1525, dem eine politische Auslegung des lutherischen Freiheitsbegriffs zugrunde lag.

Die nationale und kulturelle Grenzen überwindende Wirkung der lutherischen Reformation spiegelt sich auch in einer Reihe der präsentierten Leihgaben, die nicht nur aus Schottland oder – wie eine lateinische Erstausgabe der Freiheitsschrift mit handschriftlichen Anmerkungen aus der Feder des Reformators – aus Elsass-Lothringen, sondern vor allem auch aus der Republik Polen stammen. Dies gilt besonders für Teile der Silberbibliothek Herzog Albrechts von Preußen – einst 20 mit silbernen Einbänden versehene Bände mit zentralen reformatorischen Werken –, die Dank einer deutsch-polnischen Kooperation erstmals im Bundesgebiet gezeigt werden können.

„Wichtige Teile der reformationszeitlichen Schriften aus der Königsberger Bibliothek gelangten nach dem Zweiten Weltkrieg nach Thorn in die Bibliothek der Nikolaus-Kopernikus-Universität, die dort gegründet wurde, darunter auch 12 der 15 überlieferten Bände aus der Silberbibliothek Herzog Albrechts von Preußen“, berichtet die Kuratorin der Ausstellung, Dr. Ruth Slenczka: „Die Universitätsbibliothek gehört somit zu unseren wichtigsten polnischen Leihgebern. Ein Besuch der Bibliothek stand daher im Dezember 2015 auf dem Reiseplan unserer ersten Polenreise. Es entwickelte sich ein lebhafter Austausch, der über einen umfangreichen Leihvertrag hinaus Früchte trug: Im Dezember 2016 veranstalteten wir zusammen mit der Universität Thorn ein wissenschaftliches Kolloquium zur Silberbibliothek, aus dem ein Bestandskatalog der überlieferten Bände hervorging. Zudem drehte der rbb im Frühjahr 2017 mit uns in der Thorner Bibliothek für eine Dokumentation zum Reformationsjubiläum.“

Der Kooperation zwischen dem Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte und der Universitätsbibliothek Thorn kommt mithin eine exemplarische Bedeutung für die grenzübergreifende Erforschung und Bewahrung des gemeinsamen Kulturerbes zu. So erklärt Dr. Slenczka: „Über die Kooperation konnte hier Wissen ausgetauscht und das Bewusstsein für die Deutsche und Polen verbindende Kultur gestärkt werden. Die Potsdamer Ausstellung sowie die rbb-Dokumentation tragen dazu bei, Wissen über das gemeinsame Kulturerbe auch über den verhältnismäßig kleinen Kreis der Wissenschaftler hinaus zu verbreiten.“ Dabei ist bereits im Gegenstand des gemeinsamen Forschungsprojektes eine Überwindung nationaler Denkmuster implizit angelegt. „Die Reformationszeit“, erläutert Dr. Slenczka, „ist als vornationales Zeitalter besonders geeignet, um die Deutsche und Polen verbindende Geschichte als europäisch-gemeinsame Geschichte zu entdecken, zu erforschen und ins Bewusstsein zu bringen. Die Silberbibliothek ist z. B. Teil der Europa verbindenden Hofkunst der Renaissance. Mit nationalgeschichtlich verengten Narrativen kann man ihr nicht gerecht werden.“

Und so braucht es nicht zu verwundern, dass die Kooperationspartner bereits über weiterführende grenzübergreifende Arbeiten zur Silberbibliothek nachdenken. „Mit den Thorner Kollegen zusammen haben wir die Vision einer gemeinsamen Ausstellung zur Silberbibliothek entwickelt, deren Restaurierung in den nächsten Jahren geplant ist“, verrät Dr. Slenczka: „Eine solche Ausstellung könnte sowohl in Polen als auch in Deutschland gezeigt werden. Der deutsche Bestandskatalog macht den Silberschatz zudem auch für die deutsche Forschung zugänglich.“

Umso bedauerlicher ist es, dass wieder einmal die politischen den kulturellen Akteuren hinterherzuhinken scheinen. Dr. Slenczka hält die Zusammenarbeit auf kultureller Ebene für erfolgreicher als auf politischer: „Angestrebt war eine deutsch-polnische Schirmherrschaft der beiden Außenminister über die polnische Ausstellung, mit der die kulturelle Verbundenheit beider Länder zeichenhaft sichtbar werden sollte. Der polnische Außenminister hat die Übernahme der Schirmherrschaft jedoch abgelehnt. Auch der polnische Botschafter nahm in seinem Vortrag innerhalb der die Ausstellung begleitenden Vortragsreihe die Chance einer Besinnung auf die deutsch-polnische Gemeinsamkeit des reformatorischen Erbes nicht wahr.“

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: DOD – Deutscher Ostdienst 6/2017 u. Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2018.