Charta der deutschen Heimatvertriebenen und Lastenausgleichsgesetz – Erfolgsgeschichte und Modell?

Online-Diskussionsveranstaltung des Bundes der Vertriebenen mit Prof. Dr. Manfred Kittel und Dr. Bernd Fabritius. Moderation: Tilman Asmus Fischer.

Aufgezeichnet am 25. November 2021 in der Hauptstadtvertretung des BdV im Deutschlandhaus. Die Veranstaltung wurde gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung.

Auf den Spuren eines wirkmächtigen Narrativs

Bücher über ein Wirtschaftswunder, das es nie gab und bis heute die Gemüter bewegt

Von Tilman Asmus Fischer

Noch 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist eines der Phänomene, die die deutsche Nachkriegsgeschichte prägten, in aller Munde: das Wirtschaftswunder – mit seiner Lichtgestalt Ludwig Erhard im Zentrum. Dabei weisen Wirtschaftshistoriker bereits seit Jahren auf die Fragilität dieses historischen Narrativs hin. So bereits im September 2020 Werner Abelshauser im „Spiegel“-Interview: „Es ist seit Jahrzehnten Forschungsstand, dass Erhards Nimbus als Vater des Wirtschaftswunders ein Mythos ist. Aber das hat vor allem damit zu tun, dass die Erzählung vom Wirtschaftswunder selbst ein Mythos ist.“ Denn bis ein Jahr vor Kriegsende habe die deutsche Wirtschaft zu den „führenden der Welt gezählt“: eine „Hightech-Ökonomie“, die „systematisch Wissenschaft und Wirtschaft verband“. Daran habe die Bundesrepublik unmittelbar anknüpfen können.

Ludwig Erhard mit seinem Buch, 1957 (Bundesarchiv, B 145 Bild-F004204-0003 / Adrian, Doris / CC-BY-SA 3.0)

Mit Daten und Fakten untermauert kann Abelshauser festhalten: „In der berühmten Stunde null war Deutschland ökonomisch potenter als vor dem Krieg.“ Daher gilt für ihn: „Diese hoch entwickelte Ökonomie ist in den Fünfzigerjahren nicht vom Himmel gefallen, sie war längst da. Erhard hat sich ihrer bedient und sie weltweit erfolgreich gemacht. Das ist sein bleibendes Verdienst.“ Trotz oder gerade wegen des mythischen Charakters des Wirtschaftswunders, lohnt es sich noch heute, diesem – als Teil deutscher Nachkriegsgeschichte- und Identität – nachzuspüren. Dies ermöglichen zwei Bücher auf je eigene Weise.

Bei dem einen handelt es sich gewissermaßen um ,das Buch zum Wirtschaftswunder‘, Ludwig Erhards Klassiker „Wohlstand für alle“. Dem Reprint der letzten von Erhard autorisierten Fassung aus dem Jahre 1964 ist ein kundiges Vorwort von Lars P. Feld, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, vorangestellt. Beschlossen wird es von einem Epilog zur „Nachwirkungsmacht von ,Wohlstand für alle‘“ von Ulrich Blum und Roland Tichy, stellvertretender Vorsitzender und Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung. Bei dem zweiten Titel handelt es sich um eine zeitgeschichtliche Studie des Historikers Manfred Kittel über die Politik des bundesdeutschen Lastenausgleichs von 1952 bis 1975. Stellen die deutschen Ostvertriebenen die „Stiefkinder des Wirtschaftswunders“ dar, fragt der Gründungsdirektor der Bundesstiftung „Flucht Vertreibung Versöhnung“.

Das zum 70-jährigen Jubiläum des Econ-Verlags herausgegebene Reprint seines Bestsellers von Erhard ist ein in doppelter Hinsicht bemerkenswertes Dokument. Zum einen ermöglicht es einen unmittelbaren Eindruck vom Geist der Wirtschaftswunderjahre und vom hiermit einhergehenden Selbstbewusstsein seines so empfundenen Spiritus Rector. Dies kündigen bereits einzelne der Kapitelüberschriften an: „Die Geburt der Marktwirtschaft“ – „Die Meisterung der Hochkonjunktur“ – „Marktwirtschaft überwindet Planwirtschaft“ – „Marktwirtschaft ermöglicht gerechten Lohn“ – „Versorgungsstaat – der moderne Wahn“ – „Der Phönix steigt aus der Asche“. Wer eintaucht, kann dieser Fortschrittsgläubigkeit auf vielen der Seiten nachspüren.

Zum anderen dokumentiert die Neuausgabe eben die – Blum und Tichy nennen es (nicht zu Unrecht) – „Nachwirkungsmacht“ von „Wohlstand für alle“; man könnte jedoch auch sagen, dessen Potenzial zur Indienstnahme für aktuelle wirtschaftspolitische Programmatiken. Anders als im Falle etwa von Sarah Wagenknecht geschieht dies bei den Vertretern der nach dem historischen Verfasser benannten Stiftung durch eine neoliberale Lesart Erhards. In den Worten seiner Interpreten klingt dies dann wie folgt: „Der vorliegende Text hat auch gut 70 Jahre nach seinem ersten Erscheinen die Wirkungsmacht, für eine Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft in dem Sinne zu werben, dass Freiheit und Verantwortung zwei Seiten einer Medaille sind und private Initiative Vorzug vor staatlichem Paternalismus hat. Dies umzusetzen, obliegt niemand anderem als den Mitgliedern unseres demokratischen Gemeinwesens.“

In Kittels Studie wiederum hat die historische Analyse klaren Vorrang vor dem historischen Narrativ. Dies ist umso wichtiger, als der von ihm beleuchtete Lastenausgleich vielleicht nicht an Prominenz, jedoch, wo er öffentlich thematisiert wird, an Strahlkraft dem Wirtschaftswunder in nichts nachsteht. Umso mehr in den vergangenen Jahren, da die Gesamtleistung der Integration der deutschen Heimatvertriebenen bisweilen zur Blaupause für die Bewältigung der aktuellen Flüchtlingskrise(n) erhoben wurde.

Auf die Fragwürdigkeit solcher – zumindest pauschaler – Vergleiche hatte Manfred Kittel in den vergangenen Jahren wiederholt in Artikeln, Vorträgen und Interviews hingewiesen. Auch in dieser Hinsicht kommt dem umfangreichen Werk, welches in der Schriftenreihe der „Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“ erschienen ist, eine gewisse Brisanz zu. Dabei handelt es sich ganz dezidiert nicht um einen tagesaktuellen Debattenbeitrag, sondern um eine wissenschaftliche Analyse, der die in sie investierte Akribie auch nach Drucklegung noch abzuspüren ist.

Zu den Details und Nuancen, die Kittel zum Lastenausgleich sowie dem um ihn geführten politischen Diskurs herausarbeitet, gehört vor allem das bisher in der breiten Öffentlichkeit kaum thematisierte Schicksal des ostdeutschen Mittelstandes: der Landwirte und Betriebseigentümer aus den Ostgebieten, die am Gesamtvolumen des Lastenausgleichs in vergleichsweise nur geringem Umfang Anteil erhielten und daher einen sozialen Abstieg erlebten. Diese Entwicklung sowie die hieraus resultierenden politischen Diskussionen in den ersten drei Jahrzehnten der Bundesrepublik zeichnet Kittel auf der Grundlage jahrelanger Archivrecherchen nach. Damit verhilft er auf exemplarische Weise zu einer differenzierten Sicht auf die jüngere deutsche Sozialgeschichte.

  • Ludwig Erhard: Wohlstand für alle. Ullstein, Berlin 2020. 400 Seiten, ISBN 9-78343021-039-3, EUR 20,–
  • Manfred Kittel: Stiefkinder des Wirtschaftswunders? Die deutschen Ostvertriebenen und die Politik des Lastenausgleichs (1952 bis 1975). Droste, Düsseldorf 2020, 672 Seiten, ISBN 978-3-7700-5349-0, EUR 68,–

Erschienen am 12. August 2021 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Wie sozial ist digital?

Wie in der digitalisierten Welt noch Mitbestimmung möglich ist

Von Tilman Asmus Fischer

Das zurückliegende Jahr war infolge der – anhaltenden – Corona-Pandemie von vielfältigen Umwälzungen gekennzeichnet, die in besonderer Weise das Wirtschaftsleben betrafen. So stehen die Schlagwörter „Homeoffice“ und „Amazon“ zum einen für eine gravierende Flexibilisierung der Arbeitswelt, zum anderen für die nicht minder einschneidende Beschleunigung des Siegeszuges, welchen der Online-Versandhandel zulasten überkommener Marktakteure bereits vor Jahren angetreten hatte. Dies sind nur zwei der zentralen Herausforderungen, welche die Digitalisierung für Wirtschaft und Gesellschaft mit sich bringt. Im Kern geht es dabei um die Frage, wie sich unter den Bedingungen der Wirtschaft 4.0 ein soziales Miteinander gestalten lässt.

Noch vor der Pandemie (im September 2019) befasste sich hiermit eine interdisziplinäre Fachtagung im Rahmen der Tagungsreihe „Sozialethik konkret“, welche von der Katholisch-Sozialen Akademie „Franz Hitze Haus“, der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ sowie der Konrad-Adenauer-Stiftung getragen und in Kooperation mit dem Institut der Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster und dem (katholischen) Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre der Ruhr-Universität Bochum (RUB) durchgeführt wird. Ihre Beiträge sind nun in einem Sammelband erschienen, der die sozialethischen Problemstellungen tatsächlich sehr ‚konkret‘ – bzw. auf die politische und wohlfahrtsverbandliche Praxis fokussiert – vermisst. Die Schwerpunkte setzen die Hauptvorträge „Digitalisierung und Auswirkungen auf die Sozialversicherungen“ (Gerhard Kruip), „Die Besteuerung der Digitalwirtschaft“ (Florian Neumeier), „Arbeitnehmer-Mitbestimmung in einer digitalisierten Arbeitswelt“ (Philip Wenkel) und „New Welfare Consensus – Freie Wohlfahrtspflege in der digitalen Transformation“ (Eva M. Welskop-Deffaa), denen jeweils zwei Korreferate zugeordnet sind, welche die Problemfelder exemplarisch vertiefen, jedoch auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Positionen der Hauptreferenten leisten. Damit illustriert der Band die Kontroversität der aktuellen wissenschaftlichen wie politischen Debatte um eine sozialverträgliche bzw. menschenfreundliche Gestaltung der Digitalisierung.

So weist Kruip auf den bestehenden Handlungsbedarf im Bereich der Sozialversicherungen hin. Zwar sieht er im Unterschied zu landläufigen Krisenszenarien nicht die Gefahr eines Endes der „Arbeitsgesellschaft“, jedoch zeigt er auf, in welchem Maße sinkende Löhne und Verschiebungen hin zu verstärkter Solo-Selbständigkeit die bisherige Finanzierung des Sozialversicherungssystems infrage stellen. Im Rahmen seiner Überlegungen zu einer Neugestaltung des Systems wirft er die Frage nach einer Umstellung auf Steuerfinanzierung auf. Hiergegen wendet sich Hermann-Josef Große Kracht in seinem Korreferat (Wer soll das bezahlen?). Ebenso zeigt er sich über Kruips Vorschlag einer Deregulierung der Arbeitszeit- und Arbeitsschutzgesetzgebung – „angesichts der ja auch von Kruip bedauerten Massenrealität ungesicherter Arbeitsverhältnisse“ – irritiert. Viel grundsätzlicher kritisiert Karsten Mause (Digitale Transformation und das deutsche Sozialversicherungssystem: Polit-ökonomische Anmerkungen), Kruip habe als Theologe und Sozialethiker darauf verzichtet, „dass zumindest kurz erläutert wird, welche sozialethischen Kategorien und Perspektiven in Bezug auf den im Beitragstitel benannten Themenbereich […] relevant sind.“ Eine solche Verständigung wäre ferner – so ist im Anschluss an Mause anzumerken – für die Gesamtthematik von Tagung und Sammelband einleitend wünschenswert gewesen.

Und so kommt der Hauptvortrag des Wirtschaftswissenschaftlers Neumeier auch gleich ohne explizite sozialethische Bezugnahme aus. Dafür verdeutlicht er jedoch anhand der geplanten EU-Digitalsteuer die Hürden der Umsetzung eines ethisch gebotenen Vorhabens – in diesem Fall, „Steuervermeidungspraktiken multinationaler Unternehmen Einhalt zu gebieten“ – in der politischen Praxis. So führe die geplante Gesetzgebung neben „zahlreichen konzeptionellen Problemen“ zu einer „erheblichen steuerlichen Mehrbelastung der Digitalwirtschaft, was die digitale Entwicklung innerhalb der EU erheblich hemmen könne“. Eine sozialethische Perspektive auf die „Steueroase Internet“ bietet zumindest Joachim Neumeier, Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der RUB, in seinem Korreferat. Zugleich weist er auf eine interessante Alternative zur Digitalsteuer hin: „Für europäische Staaten besteht die Möglichkeit, durch den Erwerb von Anteilen an den Konzernen an deren Gewinnen teilzuhaben. Dies könnte geschehen, wenn die Bundesbank – ähnlich wie die Schweizer Notenbank – in US-amerikanische Aktien investieren würde.“ Sind die beiden ersten Themenfelder in der Wahrnehmbarkeit ihrer – fraglos bestehenden – lebensweltlichen Konsequenzen eher mittelbarer Natur, berühren diejenigen der Mitbestimmung  sowie der Wohlfahrtspflege Fragen, die in unmittelbarer Weise mit Erfahrungen von Arbeitsnehmern und anderen Bürgern korrespondieren.

So gelangt Wenkel in seinem Hauptvortrag zu der Problembeschreibung, „dass die ohnehin hohen Hürden für die Etablierung von betrieblicher Mitbestimmung durch die Digitalierung der Arbeit noch angehoben werden können“. Dabei markiert er nicht nur „neue Arbeitsformen“, die Mitbestimmung verunmöglichen, als Ursache, sondern ebenso eine „neue Arbeitskultur“, die mit einem geringeren Willen der Arbeitnehmer zur Mitbestimmung einhergeht. Im Anschluss hieran fordert Arnd Küppers in seinem Korreferat (Mitbestimmung in digitalen Arbeitswelten – Herausforderungen und Zukunftsperspektiven), „den Begriff der arbeitnehmerähnlichen Person“ seitens des Gesetzgebers „klar[zu]stellen und deren Rechtsverhältnisse [zu] regeln“: „in Richtung eines zeitgemäßen arbeitsrechtlichen Schutzes, der natürlich auch die Einbeziehung in die Betriebsverfassung bzw. in ebenfalls zeitgemäß anzupassende neue Mitbestimmungsformen beinhalten sollte“.

Eine nochmalige Weitung der Perspektive auf Digitalisierung und Solidarität nehmen die Beiträge zum „New Welfare Consensus“ vor, die auf einer ganz grundsätzlichen wie praktischen Ebene die Notwendigkeit der Ermöglichung gesamtgesellschaftlicher „digitaler Teilhabe“ sowie der Wahrnehmung des Internets als „Sozialraum“ (so Susanne Bruch in ihrem Beitrag) verdeutlichen.

Um den Sammelband wird somit, wer wissenschaftlich oder in der beruflichen Praxis mit den konkreten Folgen der Digitalisierung auf Sozialpolitik und Wohlfahrt befasst ist, nicht herumkommen. Für eine erste Beschäftigung mit wirtschafts- und sozialethischen Aspekten der Digitalisierung empfiehlt es sich, die insgesamt doch sehr speziellen Beiträge ergänzend zu einem grundlegenderen wirtschaftsethischen Entwurf zu lesen, wie Joachim Wiemeyer ihn mit seinem evangelischen Kollegen Traugott Jähnichen unlängst vorgelegt hat (Wirtschaftsethik 4.0. Der digitale Wandel als wirtschaftsethische Herausforderung, Stuttgart 2020).

Martin Dabrowski / Patricia Ehret / Mark Radtke (Hrsg.): Digitale Transformation und Solidarität. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2020, 165 Seiten, ISBN-13: 978-350670-314-9, EUR 69,–

Erschienen am 8. Juli 2021 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Die Digitalisierung ist kein Automatismus

Angesichts der wirtschaftspolitischen Herausforderungen der Digitalisierung appelliert der evangelische Sozialethiker Traugott Jähnichen an den Gestaltungsauftrag der Politik. Hierüber sowie über die gemeinsam mit seinem katholischen Kollegen Joachim Wiemeyer verfasste „Wirtschaftsethik 4.0“ spricht er im Interview mit Tilman Asmus Fischer.

Herr Jähnichen, Homeoffice und Onlineversandhandel sind zwei Schlagworte, die mit Blick auf die Konsequenzen der Corona-Krise für das Wirtschaftsleben von zentraler Bedeutung sind. Welche wirtschaftsethischen Herausforderungen der Digitalisierung stellen sich im Pandemiejahr 2020 wie unter einem Brennglas dar?

Menschen im Homeoffice erleben Freiheiten der individuellen Zeitgestaltung. Es sind Spielräume gegeben, Privates und Berufliches neu zu sortieren. Zugleich kann die fehlende Abgrenzung von Lebens- und Arbeitszeit zu einer Dauer- und im Extremfall Überbelastung führen, vor allem wenn zugleich Kinder – etwa wgegen geschlossener Kitas oder Schulen –betreut werden müssen. Der Onlinehandel hat durch die Corona-Pandemie noch einmal einen unglaublichen Schub erhalten, zu Lasten des stationären Handels. Zugleich bauen Online-Händler ihre dominante Markt- und oft auch Machtposition weiter aus, denn sie wissen immer mehr über uns…

Das erste Kapitel Ihrer unlängst erschienene „Wirtschaftsethik 4.0“ setzt ein mit einer Besinnung auf die „Systematik der christlichen Sozialethik“. Welche Einsichten aus deren Tradition sind angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen von bleibender Bedeutung – und wo erfordern diese eine Neujustierung?

Die christliche Sozialethik gehört zu den entscheidenden Impulsen der Ordnungskonzeption der Sozialen Marktwirtschaft. Deren Grundsätze müssen heute auf die Bereiche digitalen Wirtschaftens übertragen werden, insbesondere im Blick auf die Bekämpfung wirtschaftlicher Monopole oder Oligopole. Zugleich stellen sich Fragen des Arbeits- und des Sozialrechts in neuer Weise. Bisher hat sich die christliche Sozialethik stark an dem nationalstaatlichen Rahmen orientiert, dies wird immer unzureichender.

Im Gegenzug ließe sich auch fragen: Haben wir es bei der Wirtschaft 4.0 mit neuen ethischen Herausforderungen zu tun oder mit altbekannten Fragen in neuer Gestalt?

Sowohl als auch. Die neuen ethischen Herausforderungen sehe ich vor allem in der Aufgabe, die historisch mühsam errungenen Arbeitnehmerrechte in der digitalen Arbeitswelt in neuer Weise zu sichern: Das reicht von Mitbestimmungsrechten, der Rolle von Betriebsräten und Gewerkschaften bis hin zu der Frage, wie die Sozialversicherungssysteme mit den Bedingungen der digitalen Arbeitswelten gut verbunden werden können.

Verfasst haben Sie das Buch gemeinsam mit Ihrem katholischen Fachkollegen Joachim Wiemeyer. Es handelt sich also gewissermaßen um einen ökumenischen Entwurf. Wie einmütig fällt ein solches interkonfessionelles Ringen mit Fragen der Digitalisierung aus – bzw. welche Akzentsetzungen steuern jeweils evangelische Sozialethik und katholische Soziallehre bei?

Wir haben das Buch sehr einvernehmlich erarbeitet, sowohl in den theologisch-sozialethischen Grundlagen wie in den ethischen Konkretionen. Wir beziehen uns bewusst auf die inzwischen lange Tradition gemeinsamer Verlautbarungen der Kirchen zu Fragen der Sozial- und Wirtschaftsordnung. Im Blick auf das Verständnis der Subsidiarität gibt es unterschiedliche Akzentsetzungen. Der Protestantismus ist nach wie vor stärker auf den Staat als den Garanten sozialer Sicherungen bezogen als der Katholizismus. Dafür betont die katholische Soziallehre stärker die Bedeutung der Familie und auch sozialer Bewegungen.

Im öffentlichen Diskurs erscheint die Digitalisierung bisweilen als ein unabweisliches Fatum, dem Gesellschaft und Wirtschaft alternativlos ausgeliefert sind. Was spricht für Sie gegen einen solchen „Technikdeterminismus“?

Die Digitalisierung ist kein Automatismus. Wie Algorithmen programmiert werden, welche Grenzen durch den Datenschutz gesetzt werden, wie man Monopolbildungen im Netz begrenzt und vieles mehr, das sind Fragen, die im Sinn einer humanen, sozialen und nachhaltigen Gesellschaftsentwicklung durch die Politik geregelt werden müssen. Wie der elektrische Strom vor mehr als hundert Jahren nach und nach alle Lebensbereiche durchdrungen hat, wird dies in einer noch stärker unseren Alltag bestimmenden Weise durch die Digitalisierung geschehen. Dabei halten die zu setzenden Regeln der Gestaltung mit dem schnellen technischen und ökonomischen Wandel nur schwer Schritt. Die Politik ist herausgefordert, gegenüber dem chinesischen System der immer totaleren Staatskontrolle und dem angelsächsischen Laissez-Faire, was den großen Digitalunternehmen weitgehend freies Spiel eröffnet, eine Alternative zu entwickeln.  

Wenn also das Heft des Handelns bei der Politik liegt, welcher vordringlicher Handlungsbedarf besteht aus Perspektive des Sozialethikers gegenwärtig auf den Ebenen der deutschen, europäischen und internationalen Politik?

Ich sehe die europäische Ebene in der Schlüsselposition. Ein Nationalstaat allein kann nur bedingt angemessene Regeln durchsetzen, die Ebene der internationalen Politik ist diesbezüglich bisher nur wenig handlungsfähig und -willig. Selbst die Bekämpfung von Cyber-Kriminalität wird international kaum koordiniert, vermutlich mischen einige Nationalstaaten durch die Duldung oder Förderung krimineller Aktivitäten sogar kräftig mit. Daher gibt es für eine gute Digitalpolitik auf der Ebene der EU keine Alternative. Mit der Datenschutzgrundverordnung ist ein erster, sinnvoller Schritt gegangen worden. Aber auch die EU-Ebene ist in vielerlei Hinsicht unzureichend.

Worin zeigt sich das vornehmlich?

Besonders deutlich wird dies im Blick auf eine koordinierte Steuerpolitik, damit Internet-Riesen wie Amazon und Facebook ihre in Europa erzielten Gewinne angemessen versteuern. Leider gibt es diesbezüglich in der EU einige Länder, die man quasi als Steueroasen bezeichnen muss. Gestaltungsperspektiven über die EU-Ebene hinaus sind vornehmlich für einen Kurswechsel in Richtung Nachhaltigkeit notwendig. Ob der digitale Wandel die Nachhaltigkeit stärkt, ist kein Selbstläufer, sondern muss – idealer Weise durch internationale Vereinbarungen – gesteuert werden. Die nationale Ebene ist vorrangig im Blick auf den Datenschutz herausgefordert. Die Ambivalenzen erleben wir gerade angesichts der Corona-Krise. Ein guter Datenschutz wie in Deutschland ist einerseits sinnvoll, lässt aber andererseits ein in Ostasien – auch in demokratischen Ländern – wirksames Instrument wie die digitale Nachverfolgung von Infektionen fast wirkungslos werden. Wie hier eine Ausbalancierung der Anforderungen zu gestalten ist, bleibt eine offene Frage. Insofern sind durchaus alle Ebenen herausgefordert, zentral sind jedoch eindeutig die Gestaltungsmöglichkeiten der EU.

Traugott Jähnichen und Joachim Wiemeyer, Wirtschaftsethik 4.0. Der digitale Wandel als wirtschafts ethische Herausforderung. Band 15 der Reihe „Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder“, Kohlhammer, Stuttgart 2020, 266 Seiten, 32 Euro

Erschienen in: „die Kirche“ – Evangelische Wochenzeitung für Berlin, Brandenburg und die schlesische Oberlausitz 2/2021.

Rückkehr in die Leitzentrale

Nadav Eyal nimmt der Globalisierung ihren Schrecken und plädiert für Pragmatismus

1979 formulierte der Philosoph Hans Jonas seinen verantwortungsethischen Imperativ: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Zwar nimmt der im selben Jahr geborene israelische Journalist Nadav Eyal in seinem Buch „Revolte“ nicht explizit auf Jonas Bezug. Doch scheint ebendieser Kerngedanke Pate gestanden zu haben, wenn er die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den Anschlägen vom 11. September 2001 als „Zeitalter der Verantwortung“ charakterisiert: „Die Fortentwicklung von Kernwaffen gefährdete zusehends die menschliche Existenz, aber Ängste haben manchmal auch Vorteile, speziell für die Regierenden. Ein solcher Vorteil ist die Vorsicht, und zu deren Wahrung braucht es Verantwortung.“ Relative Stabilität, Frieden und Wohlstandssteigerung waren Früchte dieser Epoche.

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Erschienen in: Der Tagesspiegel, 26. Februar 2020.

Wo die dicken Zigarren glühn

Rainer Zitelmann verteidigt die Reichen und untersucht die Stereotype der Medien

Die wissenschaftliche Vorurteilsforschung sowie die von ihr angestoßenen öffentlichen Debatten nehmen in der Regel marginalisierte gesellschaftliche Gruppen in den Blick. Anders im neuen Buch des Historikers und Soziologen Rainer Zitelmann, der sich mit „den Reichen“ einer „beneideten Minderheit“ annimmt, die – zumindest sozioökonomisch – kaum besser in der Gesellschaft dastehen könnte.

Dass eine solche Betrachtung dennoch ihre Berechtigung hat, legen nicht nur vereinzelte linksextreme Gewalttaten gegen Reiche oder das teilweise Zusammengehen von Kapitalismuskritik und antisemitischen Stereotypen nahe. Vielmehr scheint es mithin angemessen zu sein, in Zeiten intensiver Debatten um unbestreitbare sozialpolitische Krisenerscheinungen – und Wohnungsenteignungen – kritisch jedwede Position im öffentlichen Diskurs zu reflektieren; dies gilt somit auch für etablierte Haltungen gegenüber Reichen. Hierfür gibt Zitelmann – bekennender Reicher, was gewisse apologetische Argumentationsmuster erklären mag – einen ersten Anstoß.

Dabei kann der Autor vor allem auf einen umfangreichen Datenbestand zurückgreifen, der sich von ihm beauftragten Erhebungen der Meinungsforschungsinstitute Allensbach und Ipsos MORI verdankt und einen Vergleich zwischen Reichen-Stereotypen in Deutschland sowie Frankreich, Großbritannien und den USA ermöglicht. Zitelmann arbeitet einzelne grundsätzliche Beobachtungen über das Phänomen „Sozialneid“ heraus: etwa seine Abhängigkeit von einem „Nullsummendenken“, dem zufolge der Gewinn von Reichen exakt dem Verlust der ärmeren Bevölkerung entspreche, ebenso wie die konkrete Stereotypisierung von Reichen, die sich – insbesondere in Deutschland – durch die Zuschreibung hoher Kompetenzwerte, jedoch geringer moralischer Werte auszeichnet.

Zudem bietet „Die Gesellschaft und ihre Reichen“ neben einer umfangreichen Einführung in Theorien und Methoden der Vorurteilsforschung erkenntnisreiche Analysen zu Reichen-Bildern in den Medien. Bei der Auswertung von Beiträgen aus der Yellow Press, Online-Diskussionen über Reiche und einschlägigen Darstellungen in Hollywood-Filmen tritt freilich die Reflexion hinter die Präsentation des Datenmaterials zurück.

Die Stärke dieses Abschnitts liegt jedoch in den Analysen zur Gerechtigkeitsdebatte sowie der Presseberichterstattung über die Panama und Paradise Papers. Insbesondere das ausgehend von letztgenannten Datenleaks entworfene pauschalisierende Bild von Reichen als Delinquenten, vor allem Steuerhinterzieher, war – so vermag Zitelmann zu plausibilisieren – in problematischer Weise von Vorverurteilungen jenseits des Prinzips der Unschuldsvermutung geprägt.

Zitelmann leistet – indem er in ausführlicher Weise Vorurteile gegenüber Reichen als Klassismus identifiziert, die Stereotypen in den verschiedenen Ländern miteinander verglichen und gemeinsame Strukturmerkmale herausarbeitet – Pionierarbeit. Im Zuge von hieran anknüpfenden Untersuchungen und Reflexionen sollte jedoch eine wesentliche Verengung bedacht werden: Diese besteht darin, dass Zitelmanns Studie nahelegt, jegliche Kritik an Reichtum und Kapitalismus ausschließlich, gleichfalls stereotyp auf Neid zurückzuführen. Dies desavouiert notwendige sozialpolitische Reformbemühungen und bestärkt Vorurteile über Kreise aus Unter- und Mittelschicht, die per se als sozialneidisch erscheinen.

Tilman Asmus Fischer

Rainer Zitelmann: Die Gesellschaft und ihre Reichen. Vorurteile über eine beneidete Minderheit
Finanzbuch-Verlag, München 2019, 464 Seiten, 34,99 €

Erschienen in: Cicero – Magazin für politische Kultur 6/2019.

Politischer Gestaltungswille

Studie nimmt Europapolitik der Republik Polen in den Blick

„In seiner Grenzlage hat Polen ein starkes Interesse an der Stabilisierung des europäischen Projekts sowie an der Wahrung seiner Reichweite und Offenheit.“ Zu diesem – das gängige Bild der polnischen Regierungspolitik konterkarierenden – Urteil kommt Ryszarda Formuszewicz – Leiterin des Projekts „Europäischer Dialog – Europa politisch denken“ der Stiftung Genshagen – in ihrem Aufsatz zur aktuellen polnischen Europapolitik, der im Jahrbuch der Europäischen Integration 2016 (S. 553–558) des Instituts für Europäische Politik erschienen ist.

Die Analyse nimmt ihren Ausgangspunkt bei den Rahmenbedingungen der polnischen Innenpolitik, die ganz wesentlich aus den Erfolgen der PiS (Recht und Gerechtigkeit) in den zurückliegenden Wahlen resultieren. Die hieraus folgende Besetzung politischer Spitzenposten spiegelt das von Formuszewicz identifizierte Ziel der Regierung, „Industrie und Innovationskraft zu stärken“. Bei dem begonnenen grundsätzlichen Umbau des Staates habe die PiS sich als „durchsetzungsstark“ erwiesen und „ein hohes Maß an Selbstbehauptung mit Berufung auf das demokratische Mandat“ entwickelt.

Die aus ebendiesem Umbau des Staates resultierenden Konflikte zwischen der polnischen Regierung auf der einen und der polnischen Opposition sowie EU-Organen auf der anderen Seite zeichnet Formuszewicz nach – mit dem Resultat, dass die schließlich im Juni vom Europaparlament verabschiedete Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit in Polen das Ansehen Polens „beschädigt“, die polnische Regierung hingegen „standhaft die Ansicht [vertreten habe], dass es sich um eine interne Angelegenheit handele“. Dabei werden die vielfältigen zivilgesellschaftlichen Proteste in Polen als Faktor des politischen Diskurses von der Autorin allerdings weitestgehend ausgeblendet.

Deutlich überzeugender ist die Analyse der polnischen Position in der europäischen Flüchtlingspolitik und deren unterschiedlichen Beweggründe – von Zweifeln an einer „Durchsetzbarkeit“ eines Verteilungsmechanismus „ohne begleitende Zwangsmaßnahmen, die die Flüchtlinge in den jeweiligen Ländern halten sollten“, bis hin zu Selbstbehauptungsversuchen, „die eigene Entscheidungsmacht in der Asylpolitik zu bewahren“. Vor allem zeigt die Autorin auch konstruktive Ansätze der polnischen Flüchtlingspolitik auf – hinsichtlich der konzeptionellen Hinwendung zur Ursachenbekämpfung und konkreter Beiträge zur Sicherung der Außengrenze.

Es gelingt Formuszewicz, darzulegen, dass die polnische Regierungspolitik trotz aller Spannungen zwischen Warschau und Brüssel bzw. Straßburg weniger durch eine grundsätzliche Ablehnung der EU als vielmehr durch eine Europa-Konzeption geprägt ist, die einerseits zwar föderativen Strukturen und einer vertieft en Integration kritisch gegenübersteht, andererseits jedoch für einen gemeinsamen Binnenmarkt eintritt und vor allem die „Sicherheit Polens in der NATO“ im Blick hat. Von dieser Prioritätensetzung her scheinen die von Formuszewicz aufgewiesenen intensiven Kooperationen Polens mit Großbritannien, den Visegrád- Staaten und der NATO folgerichtig.

Diese Prioritätensetzung findet sich auch in der Analyse der Wirtschafts- und vor allem Energiepolitik Polens im europäischen Kontext wieder: So habe Polen – unter Mobilisierung anderer Nationalstaaten – entschlossen gegen Maßnahmen gewirkt, „die man als Bedrohung für die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes beurteilte“. Die so empfundene Bedrohung der ostmitteleuropäischen Staaten durch Russland prägt die Anlehnung an die NATO ebenso wie das Vorgehen gegen das Pipeline-Projekt „Nord Stream 2“¬, das – so Formuszewicz – „zur kritischen Debatte“ im Europäischen Parlament geführt habe.

Insgesamt gelangt die Rechtswissenschaftlerin zu der Einsicht, dass die PiS – angesichts der Schwächung des ‚eurorealistischen‘ Lagers durch den Brexit – „umso mehr aktiv zur Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union beitragen“ wolle. In Konsequenz dieses Gestaltungswillens habe sie inzwischen sogar grundsätzlich „die Bedeutung der europäischen Integration für den Zusammenhalt des Westens“ anerkannt. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Herausforderungen des Jahres 2017 auf das Bild der polnischen Europapolitik, wie es Formuszewicz gezeichnet hat, auswirken werden.

Tilman Asmus Fischer

Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld / Prof. Dr. Wolfgang Wessels (Hrsg.): Jahrbuch der europäischen Integration 2016, Nomos Verlag, BadenBaden, 2016, 611 S., brosch., ISBN 9783848732005, € 84,–

Erschienen in Der Westpreuße – Unser Danzig 2/2017.

Wie wollen und wie können wir leben?

Mit einer neuen Studie mahnt „Brot für die Welt“ die Verantwortung von global agierenden Unternehmen gegenüber Umwelt und sozialen Standards an. Die Organisation fordert die Weiterentwicklung der Weltwirtschaft in Richtung einer „Postwachstumsgesellschaft“, einer funktionierenden Gesellschaft, die sich durch einen geringeren Ressourcenverbrauch auszeichnet und nicht am Wachstum des Bruttoinlandsprodukts orientiert ist. Dodo zu Knyphausen-Aufseß, Professor für Strategische Führung und Globales Management an der Technischen Universität Berlin, macht im Gespräch mit Tilman Asmus Fischer deutlich, dass es vor allem auf ein Umdenken der Verantwortungsträger ankommt.

Herr Professor zu Knyphausen-Aufseß, Unternehmen tragen Verantwortung für die Produktionsbedingungen, auch die ihrer Zulieferer. Diese will „Brot für die Welt“ stärker kontrolliert sehen. Welche Möglichkeiten hat etwa ein Automobilunternehmen, um nachzuprüfen, unter welchen Bedingungen weltweite Zulieferer produzieren?

Die Zulieferer haben ein Interesse daran, mit mir als Kunden ein Geschäft zu machen. Ich kann ihnen vorgeben, was sie mir zeigen müssen. Dazu kann gehören, dass ich sehen möchte, dass sie wiederum ihre Zulieferer überprüfen.

Können Sie in der Industrie eine stärkere Durchsetzung entsprechender Standards beobachten?

Prof. Dr. Dodo zu Knyphausen-Aufseß (Foto: promo)

In der Studie „Mein Auto, mein Kleid, mein Hähnchen. Wer zahlt den Preis für unseren grenzenlosen Konsum?“ wird unter anderem Volkswagen kritisiert. In deren Standards stehen heute unternehmensethische Anforderungen, die man sich vor zehn Jahren noch nicht hätte vorstellen können, beispielsweise im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen, die von Lieferanten erfüllt werden müssen, um mit Volkswagen ins Geschäft zu kommen. Insofern kann man einen allmählichen Lernprozess beobachten.

Wie kann dieser Lernprozess unterstützt werden?

In der Regel hofft man, dass Unternehmen ihn von sich aus vollziehen. Wenn sie es tatsächlich nicht tun, wird man über Regulierungen nachdenken müssen – über staatliche Vorgaben beispielsweise im Hinblick auf die Nachhaltigkeitsberichterstattungspflicht. Seit 2014 gibt es eine EU-Richtlinie, die bis Dezember 2016 in nationales Recht umzusetzen ist. Oder auch im Hinblick auf Einzelnormen wie etwa zulässige CO2-Emissionswerte. Hierbei ist sicherlich Augenmaß gefordert. Denn wir können nicht mit Sicherheit absehen, welche ungewollten Konsequenzen welche Regulierung nach sich zieht. Dafür ist die globalisierte Wirtschaft zu unübersichtlich.

Was bedeutet diese Unübersichtlichkeit für die Beantwortung wirtschaftsethischer Fragen? Neoliberale ebenso wie Globalisierungskritiker suggerieren uns eindeutige Antworten.

Das sind in der Regel Positionen, die aus den jeweiligen Überzeugungen erwachsen und in politische Auseinandersetzungen hineingetragen werden. Aber am Ende des Tages weiß niemand, ob die angenommenen Entwicklungen oder Befürchtungen tatsächlich eintreten. Wir leben in einer komplexen Welt und wissen nicht, wie unser Handeln sich genau auswirkt. Zum Beispiel, wenn ich auf bestimmte Produkte verzichte. Als Individuum kann ich das nicht abschätzen, aber ich kann für mich Schwerpunkte setzen und hoffen, dass ich das „Jüngste Gericht“ überstehe.

Das sagen Sie als Wirtschaftswissenschaftler. Was können Sie Ihren Studierenden dann überhaupt für ein verantwortungsvolles Handeln in der Wirtschaft mitgeben?

Wichtig ist kritisches und multiperspektivisches Denken, so dass sie in der Lage sind, Dinge in Frage zu stellen und eigene Positionen zu entwickeln. Als Hochschullehrer kommt es auch auf die Haltung an. Ich erfülle eine Vorbildfunktion, da folge ich der Aristotelischen Tugendethik. Wenn die Betriebswirte nicht wissen, wie eine „Postwachstumsgesellschaft“ aussehen soll, muss es für mich als Wissenschaftler darum gehen, diese Ideen weiterzuentwickeln – und hierzu meine Studierenden anzuhalten.

Geschieht das?

Unser wissenschaftsinterner Diskurs geht leider viel zu langsam voran. Die These von der Postwachstumsgesellschaft ist in aller Munde, aber sie spielt in der akademischen Volkswirtschaftslehre im Grunde keine Rolle. Man formuliert schöne mathematische Modelle und schreibt auf dieser Grundlage Artikel, die man in tollen Zeitschriften veröffentlicht. Wir sind so daran gewöhnt, in Wachstumskategorien zu denken, dass es uns wahnsinnig schwer fällt, uns umzustellen. Mir dauert das viel zu lange. Und wir Betriebswirte müssen erst recht noch viel lernen; ich glaube, wir haben noch wenig Verständnis davon, was Unternehmensführung und Management in einer Postwachstumsgesellschaft bedeuten.

Was tut dann Not?

Ich wünschte mir, dass wir endlich bereit sind, unsere Welt neu zu denken. Schauen Sie sich die Debatte um die Ölpreisentwicklung an: Es ist doch am Ende egal, ob wir für 50 oder 100 Jahre Ölreserven haben. Es bleibt dabei, dass wir in kurzer Zeit diese Ressource verbrauchen. Wir müssen uns immer wieder neu über politische Fraktionen hinweg die Frage stellen: Wie wollen wir leben und wie können wir leben, wenn wir uns verantwortlich gegenüber unseren Mitmenschen, der Umwelt und der Nachwelt verhalten wollen?

Die Studie „Mein Auto, mein Kleid, mein Hähnchen. Wer zahlt den Preis für unseren grenzenlosen Konsum?“ erschien anlässlich der anstehenden Entscheidung der Bundesregierung über einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der internationalen Standards zur Unternehmensverantwortung. Sie finden sie online unter: http://bfdw.de/wsk16pdf

Foto: Prof. Dr. Dodo zu Knyphausen-Aufseß (promo)

Unter anderem Titel erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 11/2016.