Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“

Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“ der Deutschen Gesellschaft e.V. – in Kooperation mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen sowie der Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland – für junge Spätaussiedler, Nachfahren von Heimatvertriebenen und Angehörige der deutschen Minderheiten. In der Veranstaltung werden die Beiträge der Preisträgerinnen und Preisträger vorgestellt und gewürdigt. Durch den Abend führt Tilman A. Fischer.

Beauftragte in schwierigen Zeiten

Natalie Pawlik im Interview

Russlands Krieg gegen die Ukraine, Diskriminierung deutscher Schüler in Polen – die Lage, in der Natalie Pawlik MdB das Amt der Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten angetreten hat, kann gewiss nicht als leicht bezeichnet werden. Im Interview mit Tilman A. Fischer spricht die 1992 im sibirischen Wostok geborene Sozialdemokratin über ihre Positionen, persönliche Anliegen und die Erfahrungen der ersten Monate im Amt.

Frau Pawlik, Sie sind als russlanddeutsche Spätaussiedlerin nach Deutschland gekommen. Gibt es einen konkreten biographischen Moment, von dem Sie rückblickend sagen würden, dass Ihnen die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Gruppe der Aussiedler erstmals explizit bewusst geworden ist?

Dadurch, dass ich meinen Großvater noch kennengelernt habe, dessen Biographie sehr von den Kriegsfolgen geprägt war, war das Schicksal der Russlanddeutschen immer ein Thema in unserer Familie. Wir haben – zumal aufgrund der Traumatisierung meines Großvaters – immer offen über diese Geschichte gesprochen. So richtig ist mir in der Grundschule bewusst geworden, dass wir zu einer besonderen Gruppe gehören: Ich wohnte in einem Aussiedlerwohnheim – andere Mitschüler in „normalen“ Häusern oder Wohnungen. Dass wir irgendwie anders sind, wurde ab diesem Zeitpunkt immer deutlicher. Außerdem hatte ich in meiner Biographie immer wieder Phasen – zum Beispiel als Teenager –, in denen ich mehr mit russischsprachigen Menschen zu tun hatte und dadurch natürlich auch in Identitätskonflikte gekommen bin.

Wann wurden diese Erfahrungen und Zusammenhänge für Sie als Politikerin relevant?

Seit dem „Fall Lisa“, im Jahr 2016, habe ich angefangen mich sehr offensiv mit Aussiedlerpolitik zu befassen, weil es mich sehr geärgert hat, wie zu der Zeit in den Medien über Russlanddeutsche berichtet wurde. Eine ganze Gruppe wurde damals in ein negatives Licht gerückt. Es hat mich wütend gemacht, dass nicht die Vielfalt der russlanddeutschen Community, die Vielen, die sich engagieren und Teil dieser Gesellschaft sind, im Fokus standen, sondern die Russlanddeutschen immer nur in einem negativen Kontext dargestellt wurden. Das wollte ich damals nicht zulassen und so habe ich begonnen, mich intensiv mit Aussiedlerpolitik und den Herausforderungen der Community zu beschäftigen

Welche Erfahrungen haben Sie in den Jahren als Jugendliche und junge Politikerin mit den Selbstorganisationen der Deutschen aus Russland gesammelt?

Als Jugendliche war ich in der Tanzgruppe „Internationaler Club Bad Nauheim“ aktiv – zusammen mit Menschen aus unterschiedlichen Nationen, darunter viele Russischsprachige: jüdische Kontingentflüchtlinge und Russlanddeutsche. Hierüber kam ich zur Deutschen Jugend aus Russland (DJR), dort habe ich recht früh begonnen Theater zu spielen und an Jugendprojekten teilzunehmen. Seit 2016/17 bin ich auch Mitglied bei der Deutschen Jugend aus Russland in Hessen. Dort habe ich im Rahmen der politischen Bildungsarbeit als Referentin und Teilnehmerin mitgewirkt. Im Rahmen meiner neuen Aufgabe als Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten arbeite ich sehr eng mit den Selbstorganisationen, den Vereinen und Landsmannschaften der verschiedenen Aussiedlergruppen zusammen. Dieser enge Austausch und der regelmäßige Kontakt sind mir auch sehr wichtig.

Nun ist das Verhältnis Ihrer Partei zu den organisierten Vertriebenen und Aussiedlern historisch nicht spannungsfrei. Wie reagierte man in den Reihen der SPD auf Ihr Engagement?

In der SPD wurde es immer sehr positiv wahrgenommen, dass ich mich als Russlanddeutsche in der Partei engagiere. Zugleich habe ich immer versucht, innerhalb der Partei einen Zugang zu aussiedlerpolitischen Themen zu organisieren und für gegenseitiges Verständnis zu sorgen und Menschen zusammenzubringen. Es ist natürlich immer herausfordernd, in der SPD – wie auch in den anderen Parteien – ein Bewusstsein für aussiedler- und vertriebenenpolitische Fragen zu schaffen, da diese oft als Nischenthemen abgestempelt werden. Dennoch konnte ich immer wieder offene Türen einrennen. Was mich jedoch aufgebracht hat, war, wenn ich auch aus den eigenen Reihen Kommentare über „die Russlanddeutschen“, die als „die Russen“ oder „die AfD-Wähler“ bezeichnet wurden, gehört habe. Ich sehe es als meine Aufgabe an, dafür zu sorgen, das Wissen über die Anliegen und die Geschichte von Aussiedlern und Vertrieben weiterzutragen und dafür zu sorgen, dass Vorurteile abgebaut werden.

Und wie sieht es umgekehrt aus: Wie werden Sie als sozialdemokratische Fachpolitikerin von den Zielgruppen wahrgenommen?

Bei meiner Tätigkeit geht es vordergründig um die Anliegen der Angehörigen der nationalen Minderheiten, der deutschen Minderheiten und der verschiedenen Aussiedler- und Vertriebenengruppen. Da spielt meine Parteizugehörigkeit eine nebensächliche Rolle. Es freut mich aber natürlich, wenn es mir gelingt, innerhalb der Sozialdemokratie ein Interesse für die Themen der Vertriebenen und Heimatverbliebenen herzustellen, ebenso wie ich mich freue, wenn sich Vertriebene und Heimatverbliebene sozialdemokratischen Ideen öffnen. Tatsächlich hatten – etwa die deutschen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa (MOE) sowie den Staaten der ehemaligen Sowjetunion – bisher wenige direkte Berührungspunkte mit der SPD. Nicht zuletzt, weil die Position des Aussiedlerbeauftragten lange Zeit konservativ besetzt war, aber auch, weil es in der SPD bisher keine große Gruppe gibt, die sich für die deutschen Minderheiten engagiert. Anfang November hatten wir aber bereits ein gutes Treffen zwischen der Spitze der SPD-Bundestagsfraktion und der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Minderheiten (AGDM). Das sind Brücken, die ich gut bauen kann und bauen möchte, auch im Sinne der politischen Vielfalt und Überparteilichkeit in diesem Politikfeld.

Gibt es so etwas wie einen sozialdemokratischen Schriftzug, der in Ihrer Wahrnehmung des Amtes als Beauftragte der Bundesregierung deutlich werden könnte?

Ich setze Aussiedler- und Vertriebenenpolitik zum einen stark in den gesamtgesellschaftlichen Kontext. Das heißt, ich habe den Anspruch, nicht nur an die Geschichte zu erinnern, sondern tages- und sozialpolitische Bezüge herzustellen: Wie war der Integrationsprozess der Vertriebenen und Aussiedler? Welche strukturellen Hürden müssen sie und ihre Nachkommen auch heute noch meistern? Wie können sie dabei unterstützt werden? Was können wir aus der Geschichte der Aussiedler und Vertriebenen für die Gegenwart lernen, um die Aufnahme- und Integrationsprozesse zu verbessern und Vielfalt in unserer Gesellschaft zu stärken? Zum anderen habe ich einen sehr offenen Heimatbegriff: Für mich ist Heimat nicht diskriminierend, sondern inklusiv. Die Bundesrepublik Deutschland soll auch für Menschen Heimat sein, die woanders geboren wurden und woanders herkommen. Entscheidend ist die Frage, wie eine moderne, vielfältige Gesellschaft aussehen kann, in der Aussiedler sowie die deutschen Heimatvertriebenen und ihre Nachfahren ihre Identität und ihre Mehrsprachigkeit leben können und sie gesellschaftliche und soziale Teilhabe haben. Dabei geht es nicht zuletzt auch um Sichtbarkeit – als Teil der Gesellschaft.

Seit der Ernennung zur Aussiedlerbeauftragten hatten Sie bereits vielfältige Gelegenheiten, ihren Blick über die russlanddeutsche Gemeinschaft hinaus zu weiten. Welche Erfahrungen und Eindrücke sind dabei von zentraler Bedeutung?

Vor meiner Ernennung hatte ich noch keine enge Zusammenarbeit mit Teilen der Landsmannschaften oder den Selbstorganisationen der deutschen Minderheiten in MOE und der Gemeinschaft unabhängiger Staaten. Im Zuge meiner Ernennung habe ich aber natürlich zeitnah Kontakt aufgenommen und die meisten Akteurinnen und Akteure kennengelernt. So konnte ich zum Beispiel im Rahmen des Sudetendeutschen Tages wichtige Vertreterinnen und Vertreter dieser Gruppe kennenlernen, und konnte beispielsweise bei meiner Reise nach Polen der deutschen Minderheit in Polen in ihrer Breite begegnen. Die Auseinandersetzungen mit der Frage des Heimatverlustes und das Ankommen in einer neuen Heimat ähneln den Diskursen, die ich auch aus der russlanddeutschen Community kenne. Es gibt zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppen, für die ich zuständig bin. Gleichwohl ist jede Gruppe in ihrer Geschichte, ihren Traditionen, ihren Arbeitsweisen und ihren Anliegen sehr individuell. Das finde ich spannend zu sehen. Auch meine Besuche bei den nationalen Minderheiten in Deutschland haben meinen Blick nochmal neu für die Geschichte und die Herausforderungen der einzelnen Gruppen geöffnet – mit allen Unterschieden und Gemeinsamkeiten. Am Ende geht es aber doch bei allen um Sichtbarkeit, Teilhabe, Chancen, ein Leben frei von Diskriminierung; und das verbindet, nach meiner Einschätzung, letztlich auch alle Gruppen miteinander.

Sowohl für die deutschen Heimatvertriebenen als auch für die Heimatverbliebenen stellt sich in diesen Jahren die Herausforderung des Erinnerungstransfers. Welche Perspektiven sehen Sie hier?

Es ist sehr wichtig, dass wir weiterhin erinnern. Deshalb sind Institutionen wie das Dokumentationszentrum in Oppeln oder die ostdeutschen Landesmuseen wichtig, die die Geschichte weitertragen. Was ich aber auch betonen möchte: In Polen habe ich eine unglaublich lebendige Jugend der deutschen Minderheit erlebt – sie ist wahnsinnig aktiv. Dort engagieren sich sehr viele junge Menschen, die sich sowohl mit der Geschichte als auch mit der Gegenwart beschäftigen. Das finde ich sehr beeindruckend – und darum geht es eben gerade auch: Dass wir die junge Generation mitnehmen, die dem Ganzen eine Zukunft gibt. Die Jugendarbeit zu stärken ist mir ein wichtiges Anliegen.

Umso fataler sind die Maßnahmen der polnischen Regierung gegen die deutsche Volksgruppe. Wie schätzen Sie deren menschenrechtliche Lage ein und welche Handlungsmöglichkeiten haben Sie?

Ich bin sehr erschrocken darüber, dass in Europa, in Polen wieder Diskriminierungen einer Minderheit stattfinden – und zwar so offensichtlich: Wenn einseitig bei der deutschen Minderheit der muttersprachliche Unterricht gekürzt wird, werden damit Kinder für parteipolitische Interessen in Sippenhaft genommen. Das bedeutet ganz konkret: Über 50.000 Kindern wird die Möglichkeit genommen, in muttersprachlichem Deutschunterricht Deutsch zu lernen. Es gehört zu unseren Aufgaben, der deutschen Minderheit in diesen Zeiten zur Seite zu stehen. Ich freue mich sehr, dass wir vor diesem Hintergrund 5 Millionen Euro im Bundeshaushalt 2023 für die außerschulische Sprachförderung der deutschen Minderheit in Polen verankern konnten. Gleichzeitig versucht die Bundesregierung auch, auf diplomatischem Wege dahin zu kommen, dass die Kürzungen zurückgenommen werden.

Blicken wir noch etwas weiter nach Osten, sind wir gegenwärtig mit besonders schwerwiegenden Fragen konfrontiert. Welche Auswirkungen hat der russische Überfall auf die Ukraine auf Ihren Arbeitsbereich?

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine wirkt sich stark auf meine Arbeit aus. Einerseits gibt es dadurch starken Handlungsbedarf für die Heimatverbliebenen, also vor allem für die deutsche Minderheit in der Ukraine. Hier geht es um humanitäre Hilfe und die Unterstützung des Verbandswesens, aber auch um die Frage: Wie schaffen wir es für Menschen, die sich für eine Umsiedlung nach Deutschland entscheiden, eine schnelle Aufnahme im Rahmen eines Härtefallverfahrens zu ermöglichen? Gleiches gilt natürlich für die deutsche Minderheit in Russland, die gegenwärtig massiven Repressionen ausgesetzt ist. Die Organisationskonten sollten gesperrt werden, und zum Teil wurden sie als Agentenorganisationen gehandelt. Gleichzeitig stellt der Wechselkurs die Finanzierung von Projekten der deutschen Minderheit in Russland vor große Herausforderungen. Andererseits passiert sehr viel innerhalb der russischsprachigen Community hier in Deutschland. Es ist allgemein bekannt, dass Putin versucht, auch im Ausland seine Narrative und Desinformationen zu verbreiten. Bei einigen wirkt das nach wie vor. Daher ist es eines meiner zentralen Anliegen, daran zu arbeiten, dass die Desinformationskampagnen nicht erfolgreich sind, sondern dass unsere Gesellschaft zusammenhält. Ich kämpfe dafür, dass Desinformationen ihre Wirkung nicht entfallen können und trete dagegen an, dass Menschen völlig unbehelligt in Blasen der Desinformation unterwegs sind und sich dadurch von unserer Demokratie abkoppeln.

Wie kann das gelingen?

Zum Beispiel sind viele junge Menschen aus den Reihen der Spätaussiedler zuhause großen Konflikten ausgesetzt – oft mit ihren Eltern und Großeltern, die andere Informationen konsumieren. Diese Jugendlichen müssen in der Entwicklung von Kompetenzen unterstützt werden, um mit den Konfliktsituationen zurechtzukommen. Hier gilt es, ihnen im Rahmen der politischen Bildung Kommunikationsstrategien an die Hand zu geben, um auch zuhause unsere demokratischen Werte verteidigen, und Falschinformationen widerlegen zu können. Gleichzeitig ist es natürlich auch wichtig, dass wir die politische und digitale Bildung auch für Erwachsene und ältere Menschen stärken.

Welche Bedeutung kommt den Organisationen der deutschen Aussiedler und Heimatvertriebenen in der Bewältigung der Lage zu?

Wir haben ganz viele Vertriebenen- und Aussiedlerorganisationen, die bei der Aufnahme und der Unterbringung von Geflüchteten unterstützen, Hilfspakete und Spenden gesammelt und in die Ukraine gebracht haben. Unter den Vertriebenen und Spätaussiedlern gibt es eine große Solidarität und ein tiefsitzendes Erschrecken darüber, dass so etwas in Europa wieder passiert ist. Ganz viele russlanddeutsche Organisationen haben sich klar öffentlich gegen diesen Krieg positioniert. Ich bin davon überzeugt, dass diese Stimmen wichtig sind. Gleichzeitig arbeiten auch die Selbstorganisationen daran, dass unsere Gesellschaft gerade in diesen Zeiten zusammenhält.

Was aber kann zuletzt getan werden, um den bedrängten Deutschen in Putins Reich zu helfen?

Für sie öffnen wir ebenfalls das Härtefallverfahren bei der Aufnahme. Ich bin im ständigen Austausch mit den Vertreterinnen und Vertretern dort, um zu sehen, wie wir sie weiterhin unterstützten können. Wir können ihnen Wege zeigen, Russland sicher zu verlassen. Gerade auch im Kontext der Mobilmachung durch Putin haben wir das Härtefallverfahren für Menschen aus Russland geöffnet. Aber auch der deutschen Minderheit stehen wir zur Seite und helfen, wo wir helfen können.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2022.

Europa – eine Idee als Heimat

Ein Sammelband bringt unterschiedliche Europa-Bilder ins Gespräch

Bereits Ende 2018 hatte der langjährige CSU-Europapolitiker Bernd Posselt mit seinem Buch „Bernd Posselt erzählt Europa“ nachdrücklich auf die Notwendigkeit eines – für die europäische Staatenfamilie identitätsstiftenden – Narrativs für Europa hingewiesen. Eines der möglichen Narrative legt nahe, Europa als ‚Heimat‘ zu verstehen. Eine solche Europa-Deutung – die einen mit vielfältigen Assoziationen besetzten Begriff, der sich ursprünglich auf den engeren Lebensraum bezieht, auf einen gesamten Kontinent anwenden will – ist jedoch voraussetzungsreich und wirft weitreichende Fragen auf. Und so erscheint es nur schlüssig, dass Martin W. Ramb und Holger Zabarowski hinter den Titel ihres 2019 erschienenen Sammelbandes ein Frage- und kein Ausrufezeichen setzen: „Heimat Europa?“

Auf mehr als 400 Seiten bringen die beiden katholischen Philosophen vielfältige und sich stimmig ergänzende – wissenschaftliche, essayistische, literarische wie autobiografische – Annäherungen an den Fragenkomplex zusammen, der sich hinter den zwei Worten „Heimat Europa“ verbirgt. Dabei gelingt es ihnen, ganz unterschiedliche – affirmative bis kritische – Positionen zu Wort kommen zu lassen und damit einen wichtigen Beitrag zur – nicht zuletzt seit dem Brexit und den west-östlichen Spannungen um die Migrationspolitik – virulenten Debatte um die Zukunft der Europäischen Union vorzulegen: Sie eröffnen ein Kaleidoskop unterschiedlichster Zugänge zu Europa, die sich nicht im Kleinklein der Tagespolitik verlieren, sondern auf einer grundsätzlichen Ebene über Wesen und Fundament Europas reflektieren.

So facettenreich wie die inhaltlichen Positionen sind die fachlichen Disziplinen und biografisch-regionalen Hintergründe der Beiträger, unter denen sich nicht nur deutsche und westeuropäische Autoren, sondern gerade auch solche mit Bezug zum östlichen Europa finden: die 1973 in Zagreb geborene dalmatisch-österreichische Schriftstellerin Dr. Anna Baar, der Budapester Philosoph Prof. Dr. István M. Fehér, Prof. Dr. Dean Komel, der an der Universität Laibach Gegenwarts- und Kulturphilosophie lehrt, sowie die slowenisch-ungarische Literaturwissenschaftlerin Dr. Ilma Rakusa.

In bemerkenswerter Weise reflektiert der Literaturwissenschaftler und frühere Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Dieter Borchmeyer, die multinationale Vielfalt Europas: „Europa, europäisches Identitätsgefühl ist ein Amalgam der verschiedenen, in Jahrhunderten gewachsenen nationalen und regionalen Mentalitäten und Kulturtraditionen, kein von ihnen abzuziehendes farbloses Abstraktum, keine jegliche Varietäten zum Verschwinden bringende Nacht, in der alle Katzen grau sind.“ Und so hält Borchmeyer der – auch einzelnen anderen Beiträgen des Sammelbandes abzuspürenden – Forderung, „nicht mehr in nationalen, sondern in europäischen Kategorien zu denken“, entgegen, dass „hier ein Gegensatz konstruiert [wird], der gerade das verhindert, was man zu erreichen strebt: ein vertrautes Europa, in dem die Angehörigen der verschiedenen Nationen wirklich zu Hause sind“.

Die Mehrheit der Verfasser geht den plausiblen Weg, Europa nicht räumlich, sondern vielmehr geistig als Heimat zu verstehen. So erscheint es Fehér erst möglich zu sein, Europa als Heimat zu denken, wenn wir „vom Gegendhaften absehen und uns dem ‚Geistigen‘ zuwenden“: „Ideen können, zumal gemeinschaftliche, Heimat konstituieren. ‚Die europäischen Nationen mögen noch so sehr verfeindet sein‘ schrieb hierzu Husserl, ‚sie haben doch eine besondere innere Verwandtschaft im Geiste.‘“ Diese sieht Fehér im Besonderen gestiftet durch die „europäischen Werte und das, was sie beinhalten, die abendländisch-europäische Philosophie und Lebensanschauung“.

Da sich gerade auf das Schlagwort der ‚europäischen Werte‘ – und dies nicht nur in Fehérs Aufsatz sowie anderen Beiträgen des vorliegenden Bandes – allzu schnell berufen wird, wenn es um das geistige Fundament Europas geht, ist der Beitrag des Ethikers Franziskus von Heeremann besonders bedeutsam. Für den Professor der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar führt eine ausschließliche Berufung auf – letztlich subjektiv begründete – Werte nicht nur zu einem „Treibsand aus Wertigkeiten, die gegeneinander verrechnet werden können und deren Hierarchie ins Belieben gestellt ist“. Vielmehr sieht er zudem die Gefahr einer Gesinnungsdiktatur, „die von ihren Untertanen fordert, all das zu übernehmen, was der aktuelle Herrscher – und das ist in der Demokratie die Mehrheit – schätzt“. Demgegenüber setzt von Heeremann auf die Menschenwürde als identitäre Grundlage Europas: „Die Frage nach unserer letzten Identität ist die, ob wir, gespeist aus welchen religiösen, philosophischen, weltanschaulichen, kulturellen Quellen auch immer, an diesem Bekenntnis zur ‚Sakralität der Person‘ (Hans Joas) unbeirr- und unverführbar festhalten. Die Sakralität der Person ist aber in der Weise die Identität Europas, dass Europa weder behaupten noch wollen kann, dass es bloß die seine wäre, noch konstatieren kann, es habe sie – es entspräche schon seiner Identität.“

Tilman Asmus Fischer

Martin W. Ramb u. Holger Zaborowski (Hrsgg.), Heimat Europa?, Göttingen 2019. 431 Seiten, gebunden, 22 Euro, ISBN: 978-3-8353-3475-5.

Erschienen in: DOD – Deutscher Ostdienst 6/2019.

Das Belächeln hört auf

Stephan Mayer MdB (CSU), Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat, erläutert die Aufgaben des Heimatministeriums.

Von Tilman Asmus Fischer

Herr Mayer, was bedeutet Heimat für Sie persönlich?

Heimat ist für mich auf der einen Seite ein physischer Ort, mit dem man beispielsweise die Erinnerungen an die Kindheit, die ersten Schritte oder das Aufwachsens verbindet. Auf der anderen Seite ist Heimat aber natürlich noch weitaus mehr: der Ort, an dem man sich wohlfühlt, an dem man Freunde und Bekannte hat. Damit ist Heimat ein Ort der Geborgenheit, an dem man sich aufgehoben, verwurzelt und verstanden fühlt.

„Heimat“ ist zudem ein im öffentlichen Diskurs äußerst brisanter Begriff, der sich nun auch im Namen des Innenministeriums wiederfindet. Welche Perspektiven verbinden Sie – als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat – mit dieser Akzentsetzung?

Nach wie vor bin ich der Überzeugung, dass der Zeitpunkt der absolut richtige war und ist, das Bundesinnenministerium um diesen wichtigen Bereich der Heimat zu erweitern. Der Begriff ist ja interessanterweise weit über das bürgerliche, konservative, christliche Lager hinaus ausgesprochen positiv besetzt – im Gegensatz zu anderen Begriffen wie „Leitkultur“ zum Beispiel. „Heimat“ erfreut sich gerade im linken Parteienspektrum großer Attraktivität.

Was entgegnen Sie den Kritikern, welche es jedoch gerade aus diesem Spektrum gibt und die das neue Ressort im BMI belächeln?

Ich möchte prognostizieren, dass in drei, vier Jahren niemand mehr dieses „Bundesheimatministerium“ belächelt, weil gerade in einer Zeit, in der die Globalisierung immer mehr Lebensbereiche betrifft, die Sehnsucht und das Bedürfnis nach Zuordnung, Geborgenheit und Orientierung größer denn je ist. Und vor diesem Hintergrund ist Heimatpolitik nichts Rückwärtsgewandtes und nichts Altertümliches. Es geht bei Heimatpolitik gar nicht um Brauchtums- oder Traditionspflege an sich, sondern um einen ausgesprochen progressiven Ansatz: Nämlich, in Deutschland deutlich mehr dafür zu tun, dass gleichwertige Lebensverhältnisse bestehen – also, dass es hinsichtlich Lebensqualität und Möglichkeiten zur Teilhabe keinen Unterschied machen darf, ob jemand in der Uckermark, im Bayerischen Wald, in Ostwestfalen oder in Hamburg lebt.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Themenfeld „gesellschaftlicher Zusammenhalt“, welches gleichfalls vom BMI abgedeckt wird?

Gerade in der aktuellen Situation, in der unsere Gesellschaft mehr und mehr polarisiert wird, die gesellschaftlichen Fliehkräfte zunehmen, kommt es umso mehr darauf an, dass auch der Staat sich noch intensiver als bisher für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts einsetzt. Dazu gehören beispielsweise auch der interaktive Dialog der Religionen und ebenso die Fortführung sowie Neuaufstellung der Islamkonferenz.

Wie schätzen Sie denn den gegenwärtigen Beitrag ein, den Kirchen und Religionsgemeinschaften zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten?

Auch wenn die Mitgliederzahlen in den beiden großen christlichen Kirchen zurückgehen, bin ich nach wie vor der Auffassung, dass die Religionsgemeinschaften ein enormes verbindendes Element in unserer Gesellschaft sind – unabhängig davon, ob man persönlich gläubig ist oder nicht. Niemand wird leugnen, dass unser Land über Jahrhunderte hinweg durch das Christentum, den Humanismus und die Aufklärung geprägt wurde.

Ist ein solch klares kulturelles Identitätsangebot eher ein Hindernis für Integration oder kann es diese vielmehr auch befördern?

Ich bin durchaus der Überzeugung, dass Menschen sich besser in eine Gesellschaft integrieren, die selbst über ein klares Wertefundament – und gerade auch über ein religiös geprägtes Wertefundament – verfügt. Natürlich ist die deutsche eine pluralistische und tolerante Gesellschaft, aber ich kann nur dann gegenüber Andersgläubigen oder Menschen mit anderen politischen Überzeugungen tolerant sein, wenn ich selbst einen klaren Standpunkt, ein klares Wertefundament besitze.

Eben diese Toleranz scheint gegenwärtig in besonderer Weise gefährdet zu sein. Wie erleben Sie die zunehmende Verschärfung der öffentlichen Debatten?

Auf der einen Seite wird im linksintellektuellen Spektrum unsere Gesellschaft gerne so definiert, dass man beliebig gegenüber allen Einstellungen, allen Lebensformen ist und alles toll findet und nichts mehr hinterfragen muss. Auf der anderen Seite wird im rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Bereich kein Verständnis für eine pluralistische, weltoffene Gesellschaft an den Tag gelegt. Beide Ansichten und Entwicklungen beunruhigen mich, weil sie Eines gemeinsam haben: Den Bürger zu entmündigen.

Inwieweit können Kirchen und Religionsgemeinschaften dazu beitragen, dieser zunehmenden Polarisierung zu steuern?

Von den Kirchen erwarte ich mir, dass sie sich – im Sinne einer Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – konstruktiv, produktiv mit einbringen und nicht einseitig Partei ergreifen im politischen Diskurs. Mehr noch: Sie sollen in gesellschaftspolitischen Debatten auch die häufig schweigende Mehrheit mitvertreten und sich nicht nur für lautstark agierende Minderheiten verwenden. Von den muslimischen Gemeinschaften und den islamischen Verbänden erwarte ich mir, dass sie konstruktiv dazu beizutragen, dass sich insbesondere auch Bürgerinnen und Bürger muslimischen Glaubens aktiv in die Gesellschaft mit einbringen.

In ähnlicher Form erschienen am 2. August 2018 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Richtig streiten in der Kirche

Am 27. April hielt Bischof Dr. Markus Dröge auf der religionspolitischen Tagung der SPD-Bundestagsfraktion einen Vortrag zum Thema „Richtig streiten in der Kirche“. Im Interview spricht er über den Beitrag der Kirchen zu einer gelingenden Diskussionskultur.

Herr Bischof Dröge, in Deutschland verschärft sich der öffentliche Diskurs. Hat dies Auswirkungen auf die Kirche?

Dröge: Die gesellschaftliche Situation wirkt sich bis in die Gemeinden hinein aus, sodass auch rechtspopulistische Positionen vertreten werden. Und da kommt es in unserer Kirche darauf an, in den Gemeinden Räume zu schaffen, in denen man über die Probleme der Menschen sprechen kann, ohne die oft ausgrenzenden und menschenfeindlichen Lösungsvorschläge des Rechtspopulismus zu übernehmen.

Kann die Kirche hiermit zu einer neuen Form der gesellschaftlichen Debatten beitragen?

Bischof Dr. Markus Dröge
(Foto: Philipp Hahn)

Dröge: Wir müssen innerhalb der Kirche unsere sachgerechte Diskurs- und auch Streitkultur – Streit um den besten Weg – aufrechterhalten. Hierfür steht unsere Synodenkultur. Aber wir müssen auch in die Gesellschaft hineinwirken, so gut wir es können, und dazu beitragen, dass der Zusammenhalt weiterhin gelingt und Probleme im demokratischen Diskurs vernünftig behandelt werden.

Was sind für Sie zentrale Regeln eines gelungenen Streites – in Synode oder Politik?

Dröge: Es muss unterschieden werden zwischen der Person und dem, was eine Person vertritt und tut; in theologischer Sprache: zwischen Person und Werk. Es mag sein, dass ich in einer Diskussion völlig entsetzt bin über die Meinung meines Nächsten, aber ich darf nicht völlig entsetzt sein über die Person. Als Person ist er genau wie ich ein anerkanntes Kind Gottes mit seiner Würde und seinen Rechten und seinem Gewissen.

Welche Konsequenzen hat diese Unterscheidung für die alltägliche Debattenkultur in der Kirche?

Dröge: Wenn ein Kirchenmitglied auch Mitglied der AfD ist, ist das kein Grund, ihn auszuschließen. Es ist nur ein Grund ihn oder sie auszuschließen, wenn er oder sie selbst menschenfeindliche Äußerungen tätigt – etwa einzelne Gruppen von Menschen prinzipiell herabwürdigt. Wenn jemand politische Auffassungen vertritt, die auch innerhalb der AfD vertreten werden, dann ist dies ein Grund, sich mit ihm sachlich auseinanderzusetzen.

Wie werden unterschiedliche Gemeinden der Herausforderung gerecht, entsprechende Spannungen auszuhalten?

Dröge: Es gibt erste soziologische Untersuchungen, die zeigen: Eine Gemeinde, die es gewohnt ist, offen unterschiedliche Meinungen zu diskutieren, ist kaum anfällig für Rechtspopulismus – egal ob sie eher liberal oder konservativ ist, ob sie theologisch eher evangelikal oder von der Befreiungstheologie geprägt ist. Aber immer da, wo in einer Gemeinde eine Main­stream-Meinung unhinterfragt vertreten wird, da gibt es eher Affinität für rechtspopulistisches Gedankengut.

Reizworte gegenwärtiger Debatten sind »Heimat« und »Identität« – welche inhaltlichen Angebote kann die Kirche hierzu machen?

Dröge: Wir haben als in der Fläche präsente Organisation wie wenig andere die Chance, dazu beizutragen, dass ein Gemeinschaftsgefühl entsteht – aber nicht eines, das davon lebt, alle Fremden als Feinde zu sehen. Es geht um ein Heimatgefühl, mit dem man seine Heimat liebt, aber die Herausforderungen gemeinsam angeht und auch die Neubürger mit in diese Aufgabe hineinnimmt.

Die Fragen stellte Tilman Asmus Fischer.

In ähnlicher Form erschienen in: Glaube und Heimat – Mitteldeutsche Kirchenzeitung 19/2018.

Was ist Heimat? Was ist Identität?

Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Hartmut Koschyk zieht eine persönliche Bilanz zur deutschen Vertriebenen-, Aussiedler- und Minderheitenpolitik

Von Tilman Asmus Fischer

„Da ist unsre Heimat, diese Dinge / bleiben in den Tiefen unserer Seele / Fest und innig mit uns selbst verwachsen, / dass sie nichts vermag von uns zu scheiden; / Selber sind wir alle jene Dinge.“ Worte des Schweizer Literaturnobelpreisträgers Carl Spitteler stellt Hartmut Koschyk seinem gerade erschienenen Buch „Heimat – Identität – Glaube“ voran. Die Zeilen bringen eine Sensibilität für die Tiefendimension der Begriffe „Heimat“ und „Identität“ zum Ausdruck, die der Politiker Koschyk mit dem Dichter Spitteler teilt.

Eben diese Sensibilität trägt dazu bei, dass das Buch am Ende mehr darstellt, als eine Bilanz deutscher Vertriebenen-, Aussiedler- und Minderheitenpolitik, die der langjährige Bundestagsabgeordnete am Ende seiner Amtszeit als Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten (2012–2017) vorgelegt hat. Zwar lässt sich das Werk auch als kundige Überblicksdarstellung zu diesen Themenbereichen lesen. So beginnt der Verfasser etwa mit einem einführenden Kapitel über „Heimat – Nation – Staat im 18. und 19. Jahrhundert“, dem ein gleichermaßen grundsätzlicher Abschnitt über „Die deutschen Heimatvertriebenen im Kontext deutscher und europäischer Teilung und Einheit“ folgt.

Zugleich trägt das Buch jedoch die erkennbare Handschrift eines Menschen, der – als Kind oberschlesischer Heimatvertriebener – von den verhandelten historischen und politischen Fragen selbst unmittelbar persönlich betroffen ist. Zudem schärft der bekennende Katholik Koschyk mit seinem Buch den Blick für die Rolle von Glaube und Kirche für Integration und Identitätspflege sowohl der deutschsprachigen Minderheiten in Osteuropa als auch der ethnischen Minderheiten in Deutschland. Damit ist das Buch gerade für eine kirchliche Leserschaft von großem Interesse.

Auch wenn den Fragen der Vertriebenen, Aussiedler und Minderheiten im politischen Alltag heutzutage eine eher randständige Bedeutung zukommt, gelingt es Koschyk, zu verdeutlichen, dass die einschlägigen Sachverhalte Problemstellungen berühren, die von grundsätzlicher Bedeutung für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt sind: „Heimat, Identität und Glaube helfen den Menschen, die Herausforderungen der Globalisierung zu meistern und ihnen selbstbewusst zu begegnen.“

Hartmut Koschyk: Heimat – Identität – Glaube. Vertriebene – Aussiedler – Minderheiten im Spannungsfeld von Zeitgeschichte und Politik, EOS, Sankt Ottilien 2018, 464 Seiten, 19,95 Euro

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 9/2018.

Heimat – Identität – Glaube

Hartmut Koschyk legt Rechenschaft ab – und die ungarische Botschaft lud in Berlin zur Buchvorstellung

Nach 27-jähriger Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag hat Hartmut Koschyk im vergangenen Jahr seine hauptamtliche Tätigkeit in der Bundespolitik beendet. Aus diesem Anlass hat der CSU-Politiker ganz persönlich Rechenschaft abgelegt: über sein Wirken in den vergangenen Jahrzehnten – sowie über Grundfragen und leitende Motive dieses Engagements.

Hartmut Koschyk bei der Buchvorstellung in Berlin
(Foto: Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland)

„Heimat – Identität – Glaube“ – unter diese drei Begriffe hat Koschyk sein frisch erschienenes Buch gestellt, das am 29. Januar auf Einladung von Botschafter Dr. Peter Györkös in der Ungarischen Botschaft in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Auf 464 Seiten bietet die Monographie mehr als einen grundlegenden Beitrag über „Vertriebene – Aussiedler – Minderheiten im Spannungsfeld von Zeitgeschichte und Politik“, wie es der Untertitel ankündigt; vielmehr formuliert Hartmut Koschyk aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen in der Vertriebenen-, Aussiedler- und Volksgruppenpolitik zugleich weiter ausgreifende Grundeinsichten in die Struktur des politischen Raums und legt ein Bekenntnis ab für eine wertegebundene Politik, die sich den drei Leitbegriffen des Buchtitels verpflichtet sieht.

Dabei „schimmert“ zudem „die Liebe zu den Menschen“ durch, denen Koschyks Engagement – wie der reformierte Theologe und ungarische Minister für Humanressourcen Zoltán Balog in seiner Festrede erklärte – stets gegolten hat. Und so erscheint es nur angemessen, dass drei Repräsentanten der betroffenen gesellschaftlichen Gruppen in die ungarische Botschaft gekommen waren, um den Autor und sein Buch zu würdigen: der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, der Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe, Bernd Posselt, sowie der Vorsitzende des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen, Bernard Gaida.

Alle Redner hoben aus der je eigenen Perspektive die zentrale Bedeutung des Glaubens im Zusammenhang mit „Heimat“ und „Identität“ hervor: In der Nachkriegszeit, so hielt etwa der studierte katholische Theologe Bernard Gaida fest, habe der Glaube geholfen, „Leid zu ertragen“, während er heute den Weg zur Aussöhnung eröffne. Bernd Posselt warnte eindringlich vor der Gefahr, dass Glaube lediglich zur „Requisite der Identität werde“; demgegenüber gehe der Glaube nicht in Traditionspflege auf, sondern müsse Salz und Sauerteig Europas bleiben. So könne etwa das Wort „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“, als nachhaltige Begründung für den Minderheitenschutz gelesen werden.

Hartmut Koschyk selbst nutzte seine abschließenden Dankesworte, um drei konkrete Forderungen für die Weiterentwicklung der Minderheitenpolitik zu formulieren: Während er die angehenden Koalitionsfraktionen an das Versprechen erinnerte, ein Expertengremium für Fragen des Antiziganismus zu schaffen, forderte er die anwesenden Vertreter von Politik und Zivilgesellschaft zur Unterstützung der Europäischen Bürgerinitiative „Minority SafePack“ auf. Für die zukünftige Arbeit des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten regte er schließlich an, diesen Aufgabenbereich „inhaltlich und organisatorisch“ noch zu erweitern.

Tilman Asmus Fischer

Hartmut Koschyk: Heimat – Identität – Glaube. Vertriebene – Aussiedler – Minderheiten im Spannungsfeld von Zeitgeschichte und Politik. EOS-Verlag, Sankt Ottilien 2018. Paperback, 464 S., ISBN 978-3-8306-7881-6, € 19,95.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 2/2018.

Heimatpolitik – Erika Steinbach zum 70. Geburtstag

Heimat-Begegnungen (9)

In diesen Tagen vollendet die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach MdB, ihr 70. Lebensjahr. Wie kaum eine andere politische Größe hat sie in den vergangenen beiden Dekaden Einfluss auf den Diskurs um den ostdeutschen Heimatverlust genommen. Grund genug, mit ihr über Heimat als Motiv politischen Engagements und die politische Zukunft der Heimatarbeit zu sprechen.

Seit zwei Jahrzehnten sind Sie als Partei- und Verbandspolitikerin auf Bundesebene aktiv. Wenn wir einmal vom politischen Tagesgeschäft absehen, was bedeutet Ihnen Heimat persönlich?

Heimat ist für mich ein Ort der Geborgenheit, der Vertrautheit. Und für mich ganz persönlich ist Heimat emotional am Ende immer meine Mutter gewesen. Sie war der konstante Punkt. Wir waren ständig unterwegs: Von Westpreußen über die Ostsee nach Schleswig-Holstein, dann Berlin, dann Hanau und jetzt Frankfurt. Vor allem meine ersten Lebensjahre sind geprägt vom ständigen Wechsel. Und da war mein Heimatgefühl auf meine Mutter fokussiert. Sie war, wie in so vielen Familien, in denen die Männer noch in Kriegsgefangenschaft waren, diejenige, die unsere Familie zusammengehalten hat. Das habe ich aber nach ihrem Tod erst wirklich gespürt.

Insofern spiegelt sich in Ihrem persönlichen Schicksal die Gesamtproblematik des deutschen Vertriebenenschicksals. Wann wurde das Bewusstsein hierfür Motivation zu politischem Engagement in Sachen Heimat?

Mein Engagement begann eigentlich erst, als ich in den Bundestag gewählt und gefragt wurde: „Wollen Sie in der Gruppe der Vertriebenen der CDU/CSU-Fraktion mitarbeiten?“ Ich war bereits Mitglied der Union der Vertriebenen in der CDU und so habe ich selbstverständlich zugesagt. In Frankfurt engagierte ich mich damals sehr für den deutsch-jüdischen Dialog und bin seit dem auch Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Zu dieser Zeit begegnete mir einmal eine alte Dame, die sagte: „Frau Steinbach, sie kümmern sich immer um die jüdischen Schicksale. Sie sollten sich aber auch einmal um die Schicksale der Vertriebenen kümmern.“ Und sie erzählte mir, wie sie einem jungen Journalisten erstmals berichtete, was sie im Krieg erleben und erleiden musste. Daraufhin erwiderte der Journalist nur flapsig: „Hat ihnen aber doch nicht geschadet. Sie sind ja über 80 Jahre geworden.“ Das fand ich so entsetzlich, dass ich mir dachte: Da muss man sich engagieren, um deutlich zu machen, was Menschenwürde und Menschenrechte sind. Und was Deutschen, die geographisch einfach auf der falschen Seite gelebt haben, widerfahren ist.

Hierüber kann man sich in den ostdeutschen Landesmuseen und den Ausstellungen der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ informieren. Erhalt und Ausbau der Museen bzw. die Stiftungsgründung waren Kernthemen der Vertriebenenpolitik und Ihres persönlichen Einsatzes in den vergangenen Jahren. Neben diesen großen Institutionen bestehen unzählige Heimatstuben und -sammlungen als Erinnerungsorte an die ostdeutsche Heimat und die Vertreibung. Demographische Entwicklungen stellen viele von ihnen vor existenzielle Probleme. Was empfiehlt der Bund der Vertriebenen den Trägern zu tun, wenn Heimatstuben nicht mehr fortgeführt werden können?

Sehr häufig werden die Heimatstuben mit hoher persönlicher Hingabe von Einzelpersonen geführt. Wenn diese ihr Engagement nicht fortführen können, besteht die Gefahr, dass die Angehörigen gleich alles in den Müll entsorgen. Eigentlich haben wir als Verband keinen Zugriff auf diese Sammlungen, da es sich um Privatinitiativen handelt. Aber wir empfehlen, die Stücke entweder ins Bundesarchiv zu übergeben oder den Landsmannschaften zur Verfügung zu stellen. Auch hat sich auf unsere Anregung hin das Bundesinstitut in Oldenburg mit der Thematik beschäftigt und eine Handreichung vorgelegt.

Solche Publikationen und etwa der Baubeginn für das Dokumentationszentrum der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ sind wichtige Zeichen dafür, dass die Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit nicht nur aus der Vergangenheit lebt, sondern bewusst ihre eigene Zukunft gestalten kann. Was ist Ihre Vision für Vertriebenenpolitik im 21. Jahrhundert? Was sind Herausforderungen und Chancen der ostdeutschen Heimatarbeit?

Unabhängig davon, dass noch sehr viele Zeitzeugen leben, die unter ihren Traumata leiden, und die Forschung ergeben hat, dass auch die Kinder und Enkel traumatisch geprägt sind, wird die zentralen Aufgabe sein, das kulturelle Erbe zu bewahren, auszubauen und ins Bewusstsein zu rufen. Darauf legen schon heute die meisten Landsmannschaften einen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Sie sind die originären Träger; sie haben die beste Kenntnis von den Heimatorten und eine so innige Verbindung zu ihnen. Diese übertragen sie oft nicht auf die Kinder – die manchmal keine Lust haben –, aber auf die Enkelkinder, weil diese oft neugieriger sind.

Denken Sie, dass die Vertriebenenverbände unter den Jüngeren auch verstärkt Menschen gewinnen können, die keinen familiären Bezug zum historischen Ostdeutschland und den deutschen Siedlungsgebieten in Ostmitteleuropa haben?

Der BdV sagt: Jeder kann Mitglied werden, der sich der Thematik zuwendet. Und vor dem Hintergrund des Generationswechsels sollten wir alles daran setzen, offen auf die Menschen zuzugehen. Es gibt leider auch Gruppen in unserem Verband, die sich absetzen und immer nur untereinander reden. Das kann helfen und tröstend wirken, wenn man viele traumatische Erfahrungen hatte, trägt aber nicht dazu bei, dass wir andere für das Thema interessieren. Da sind gerade die Schulen als Multiplikatoren unverzichtbar.

In den vergangenen Jahren waren es vor allem die Unionsparteien, die sich in vertriebenenpolitischen Fragen etablierten und damit dieses Politikfeld dominieren konnten. Besteht Hoffnung, dass sich zukünftig auch ein breiteres politisches Spektrum für diese Fragen aufgeschlossen zeigt?

Es kommt auf die einzelnen Personen an, mit denen man an der Parteispitze in den jeweiligen Bundesländern zu tun hat. In Bayern beispielsweise zeigen sich neben dem herausragenden Engagement der CSU für die Vertriebenen auch die SPD und die Freien Demokraten sehr engagiert. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass es mit an uns liegt, mit allen Parteien in ein sehr offenes, konstruktives Gespräch zu kommen.

Insbesondere gemeinsam mit dem leider zu früh verstorbenen Sozialdemokraten Peter Glotz konnten Sie einiges in diese Richtung erreichen. 2012 haben Sie eine weitere Amtszeit als BdV-Präsidentin angetreten und im Herbst kandidieren Sie erneut für den Deutschen Bundestag. Was sind Ihre persönlichen Ziele für die Vertriebenenpolitik als Abgeordnete in der kommenden Legislaturperiode und als Verbandspräsidentin?

Mit unserer BdV-Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen will ich dauerhaft landauf landab für das Thema sensibilisieren. Genauso wichtig ist mir aber, die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung positiv zu begleiten. Es reicht ja nicht, die konzeptionellen Papiere in der Hand zu haben. Sondern es kommt am Ende darauf an, was in der Ausstellung aus den Papieren gemacht wird. Da müssen wir allesamt das Augenmerk drauf legen, und unsere Stiftungsratsmitglieder machen das auch wachsam. Wir müssen aber auch dankbar anerkennen, dass es eben diese Stiftung nun endlich gibt. Das Deutschlandhaus im Herzen von Berlin ist ein guter Ort, denn es ist seit Jahrzehnten mit dem Thema der Vertriebenen verbunden. Vor dem Hintergrund bin ich auch mit dem Standort sehr zufrieden und hoffe, dass es jetzt möglichst zügig vorangeht. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Dauerausstellung auf beinahe 3000 Quadratmetern in der nächsten Legislaturperiode eröffnet werden kann.

Das Gespräch führte Tilman Asmus Fischer.

Erschienen in: „DER WESTPREUSSE – Unser Danzig“, Nr. 7/2013.

Heimat neu denken – der ‘grüne’ Heimatbegriff

Heimat-Begegnungen (8)

Im Dezember 2011 veranstaltete Bayerns grüne Landtagsfraktion einen „Heimatkongress“ und fragte: „Was bedeutet ‘Heimat’ für uns Grüne?“ Über das neue Heimat-Konzept spricht in dieser Ausgabe Margarete Bause MdL, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bayerischen Landtag.

Was war vor einem Jahr die konkrete Motivation, das Thema ‘Heimat’ auf die Agenda zu setzen?

Es war einerseits die Erfahrung, dass Heimat immer mehr thematisiert wird, dass die Sehnsucht danach dazu zu gehören, der Wunsch sich beheimatet zu fühlen, immer größer wird, je schneller die Welt wird, je flexibler man sein muss. Andererseits gibt es gerade in Bayern eine alternative Heimat-Bewegung, ausgehend von der bayerischen Volksmusik. Sie setzt sich sehr munter und humorvoll über die traditionellen Vorgaben hinweg und schreibt aufmüpfige Texte, kritisiert die Regierenden, den Bauernverband, die Großkopferten, etc., also diejenigen, die Heimat für sich gepachtet zu haben glauben. Der dritte Punkt ist natürlich, dass der Heimatbegriff in Bayern nach wie vor politisch umkämpft ist und die CSU hier die Definitionsmacht beansprucht. Die würden gerne verbindlich bestimmen, was Heimat ist, wer dazugehört und wer nicht. Hier einen Kontrapunkt zu setzen und Heimat modern und weltoffen zu definieren, das war und ist unsere Motivation.

Marcel Huber (CSU), bayerischer Staatsminister für Umwelt und Gesundheit, hat versucht, das Heimatverständnis der CSU mit den Worten abzugrenzen: „… die Leute, die sich der CSU verbunden fühlen, reden auch nicht darüber. Die leben Heimat einfach.“ Fehlt dem konventionellen Heimatbegriff die Intellektualität oder dem modernen die emotionale Dimension?

Der moderne Heimatbegriff ist auch ein emotionaler, weil er ja genau aus dem Gefühl der Verbundenheit kommt, aus dem Wunsch nach Nähe und Vertrautheit, aber eben die Begrenzungen und Ausgrenzungen nicht mehr akzeptiert. Von daher knüpft er an die Erfahrung des Beheimatet-Seins, des Sich-zuhause- und Verstanden-Fühlens an, aber denkt Heimat eben nicht mehr als etwas, in das man hineingeboren wird und was dann so bleibt, wie man es vorgefunden hat. Der moderne Heimatbegriff ist ein aktiver: Man wird nicht nur durch Schicksal in eine Heimat geboren und wenn man weggeht, hat man die Heimat verloren. Sondern Heimat ist da, wo ich meine Umgebung gestalten kann, wo ich Verantwortung übernehmen kann. Heimat ist da, wo es mir nicht egal ist, was um mich herum passiert. Heimat muss man sich schaffen.

Kann nicht eine stärkere Artikulation gerade eines solchen Verständnisses von Heimat der sogenannten Politikverdrossenheit entgegenwirken? Die Menschen zu politischem Engagement motivieren?

Auf jeden Fall! Da geht es ganz konkret um eine Kultur des Mitmachens: Ich bin Teil der Gesellschaft und kann mitentscheiden, wie es in meiner Heimat ausschaut. Ob da eine Straße oder ein Radweg gebaut wird, ob ein Einkaufszentrum auf die grüne Wiese kommt oder wir Bäcker, Metzger und Gasthaus im Ort unterstützen, ob ich mich bei der Freiwilligen Feuerwehr oder in einer Flüchtlingsinitiative engagiere … Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen – es geht um direkte Demokratie. Daher haben Heimat und Demokratie sehr viel miteinander zu tun.

Ließe sich in diesem Sinne auch die aktuelle Krise der europäischen Identität bewältigen, wenn wir uns stärker auf ein Europa der Regionen besinnen und die Brücke schlagen zwischen der Staatengemeinschaft und der Lage in der konkreten Lebensumwelt?

Die europäische Solidarität ist für mich die andere Seite der Medaille: auf der einen Seite die Stärkung von regionalem Zusammenhalt, von Subsidiarität. D. h., dass man vor Ort entscheidet, was auch vor Ort zu entscheiden ist, und nicht die politische Verantwortung immer weiter wegschiebt. Und auf der anderen Seite europäische Solidarität statt nationalem Egoismus oder Neoliberalismus. Nehmen Sie das Beispiel Wasser. Da gibt es im Moment ja eine starke europäische Bürgerbewegung gegen den Versuch, das Grundrecht auf Wasser zu privatisieren und damit den Zugang zu sauberem Wasser vom Geldbeutel abhängig zu machen und in die Hände von großen Wasserkonzernen zu legen. Es geht um ein Menschenrecht, das auf europäischer Ebene gesichert, aber lokal gelebt und verteidigt werden muss. Direkte Demokratie funktioniert umso besser, je näher die Fragen das persönliche Umfeld berühren. Und genau das bestätigt eine europäische Bürgerinitiative, die europaweit mittlerweile über 1 Million Unterschriften für das Grundrecht auf Wasser gesammelt hat. Hier findet genau diese Verbindung von Subsidiarität und Solidarität statt. Oder anders gesagt: lokal handeln, global denken.

Sollten diese Zusammenhänge durch die Politik stärkere Betonung finden, um die Bürger zu aktivieren?

Unbedingt! Denn Europa ist der Rahmen, den wir als einzelne Nationalstaaten und Regionen brauchen, um bestimmte Dinge auch im globalen Maßstab verteidigen zu können. Europa ist ein sehr guter Lernort für den Wert von Vielfalt und den Respekt vor der Verschiedenheit. Es geht um den Reichtum unserer verschiedenen Sprachen und Kulturen und um die Frage, wie man unsere Kultur der Vielfalt gegenüber Versuchen der Vereinheitlichung durch die Globalisierung schützen kann. Wie schaffen wir es, die Regionalität, die verschiedenen Heimaten zu bewahren und gleichzeitig als solidarische Gemeinschaft im globalen Maßstab unsere Interessen zu vertreten?

Wir hatten in den letzten Jahren diverse Integrationsdebatten. Wo kann Heimat, im Sinne der von Ihnen angesprochenen Vielfalt, als Integrationsfaktor vor Ort wirksam werden?

Das hat vor allem mit den Treffpunkten und den Möglichkeiten sich einzumischen zu tun. Wer ist zum Beispiel im Trachtenverein – nur die wichtigsten Männer im Ort oder auch die Eingewanderten und gleichberechtigt Frauen wie Männer? Es ist wichtig, dass in den Vereinen und Gemeinschaften jede und jeder willkommen ist, die oder der vor Ort Verantwortung für unser Gemeinwesen übernehmen will. Das sind dann auch die Labore der Multikulturalität, die Erfahrung, dass es einen auch persönlich bereichert, wenn man sich Neuem öffnet. Plötzlich kommt eine neue Inspiration durch Menschen, die die Dinge anders wahrnehmen. Ungewohnte Kombinationen und Perspektiven entstehen. Gemeinsam was Neues ausprobieren, Widerstände zu überwinden, das vermittelt ein starkes Gefühl von Gemeinschaft. Auch Konflikte, wenn man sie konstruktiv angeht, haben sehr viel stärker die Kraft zur Integration, als wenn man zur Harmonie gezwungen ist. Wenn man sich, wie wir in Bayern sagen, „zusammenrauft“, die Unterschiede klar ausspricht, miteinander ringt und dann was neues Gemeinsames findet – dann entsteht zum einen persönliche Identität und zum anderen Gemeinschaft.

Also tut vor allem eine Demokratisierung des Heimatbegriffs Not?

Eine Demokratisierung, eine Öffnung und eine Entideologisierung. Das sind die zentralen Punkte für einen modernen Heimatbegriff. Einen Heimatbegriff, der nicht in der Vergangenheit wurzelt, sondern wo es darum geht, die Zukunft meines Lebensortes zu gestalten. Das war ein Fazit unseres Heimatkongresses. Oder anders ausgedrückt: Daheim ist, wo man einen Wert hat.

Das Gespräch führte Tilman Asmus Fischer.

Erschienen in: „DER WESTPREUSSE – Unser Danzig“, Nr. 5/2013.

Auf ein Wort: „Heimat“ – eine Zwischenbilanz

Vor etwa einem Jahr eröffneten einige Landesverbände der Grünen Debatten über den Begriff und die heutige Bedeutung von Heimat. Damit wandten sich die Grünen einem Thema zu, das gerade für die Deutschen aus dem Osten von zentraler Bedeutung ist. Das Vorhandensein nicht zwingend gemeinsamer Positionen, zumindest jedoch gemeinsamer Berührungspunkte in der Fragestellung, sollten wir wahrnehmen und den Dialog suchen! Dass dies möglich ist, zeigt etwa die Fortsetzung der Gespräche zwischen dem BdV in Bayern und der dortigen Landtagsfraktion der Grünen im Mai 2012.

Angesichts solcher positiver Signale entstand im Frühjahr 2012 die Idee, auch unsererseits etwas zur Debatte darüber beizutragen, was Heimat bedeutet und welche aktuell virulenten Themenfelder sich hiermit verbinden, auch über die Geschichte des historischen Ostdeutschlands und der Vertreibung hinaus. Die ersten Ergebnisse dieses Vorhabens konnten Sie in den vergangenen Monaten in der Gesprächsreihe „Heimat-Begegnungen“ verfolgen, die auch in Zukunft fortgesetzt wird.

Insgesamt machen die Gespräche deutlich, dass wir durch „Fortschritt“ und „Modernisierung“ in einer Zeit angekommen sind, in der sich die Bedeutung von „Heimat“ stark wandelt – der Philosoph Karol Sauerland brachte es auf den Punkt: „Wenn etwas verloren geht, wird viel darüber gesprochen“. Wir befinden uns in einer Entwicklung, in der einerseits die (Er)lebbarkeit von Heimat vor ganz neuen Herausforderungen steht: Beschleunigung, Digitalisierung, Veränderung der natürlichen und sozialen Umwelt… Andererseits werden neue Formen gesucht und gefunden, Heimat wiederzubeleben – das machte etwa das Gespräch mit der Unterhaltungskünstlerin Marita Köllner deutlich, die zeigte, wie das regionale Brauchtum in Köln seinen Weg ins 21. Jahrhundert geht. Was aber hat das mit „uns“ zu tun? Vertriebene und Flüchtlinge – aller Nationen – sind auf tragische Weise Experten rund um Heimat und Heimatverlust geworden. Die „Heimat-Begegnungen“ sollen Querverbindungen innerhalb des großen Themenkomplexes „Heimat“ aufzeigen und dazu anregen, dieses Wissen zu vernetzen und für die Allgemeinheit fruchtbar zu machen.

Welchen Weg der Heimat-Diskurs in den vergangenen Monaten aus Sicht der Grünen genommen hat, werden Sie demnächst in dieser Zeitung lesen können, da ein Gespräch mit der Grünen-Fraktionsvorsitzenden im Bayerischen Landtag, Margarete Bause, erscheinen soll.

Tilman A. Fischer
Bundeskulturreferent der Landsmannschaft Westpreußen

Erschienen in: „DER WESTPREUSSE – Unser Danzig“, Nr. 3/2013.