„Die Opferrolle nicht aus dem historischen Kontext herauslösen“

Als „Opfernationalismus“ deutet der Historiker Jie-Hyun Lim geschichtspolitische Narrative, die sich in den vergangenen Jahrzehnten sowohl in Europa als auch in Asien etabliert haben. Im Interview ordnet er die deutsche Erinnerung an das Kriegsende am 8. Mai ein.

Der Historiker Jie-Hyun Lim ist Professor für Transnationale Geschichte an der Sogang-Universität in Seoul, Südkorea. In diesem Jahr ist sein erstes deutschsprachiges Buch, „Opfernationalismus. Erinnerung und Herrschaft in der postkolonialen Welt“, erschienen.

Herr Lim, in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Buch bieten Sie das Interpretament des „Opfernationalismus“ für die Analyse geschichtspolitischer Diskurse an. Welche Phänomene beschreiben Sie hiermit?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass der ursprüngliche Begriff im Englischen nicht „victim nationalism“, sondern „victimhood nationalism“ lautet. Dieser Unterschied scheint trivial zu sein, ist aber bedeutsam. Es geht nicht um den möglichen Nationalismus der eigentlichen Opfer, sondern um den mnemonischen Nationalismus der nachgeborenen Generation bzw. Generationen. Jedoch befürchte ich, dass die deutsche Übersetzung „Opfernationalismus“ den nuancierten Unterschied zwischen beiden Übersetzungsmöglichkeiten verwischen könnte. Als die polnische Zeitschrift Więź einen meiner Artikel ins Polnische übersetzte, tauschte ich einige E-Mails aus, um eine angemessene Formulierung im Polnischen zu finden. Die endgültige Fassung lautete: „Nationaler Größenwahn der Opfer“. Nicht zufriedenstellend, aber es gab keine andere Möglichkeit. Jede Übersetzung steht vor solchen Herausforderungen. Dabei setzt sich das Übersetungsproblem beim Begriff des „Opfers“ fort.

Weiterlesen…

Erschienen am 8. Mai 2014 auf cicero.de.

Erinnerung an einen Völkermord

Eine Installation der namibischen Künstlerin Isabel Tueumuna Katjavivi im Museum Neukölln

Tilman A. Fischer

Roter Sand bedeckt den Boden des Ausstellungsraumes im Museum Neukölln. Zum Teil verdeckt er die tönernen Gesichter, die aus ihm herausragen. Die Masken stehen sinnbildlich für die über 65.000 Todesopfer des ersten Völkermords des 20. Jahrhunderts: begangen 1904 bis 1908 durch das Deutsche Reich im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Geschaffen wurde die Installation „They Tried to Bury Us“ (dt. „Sie versuchten, uns zu begraben“) von Isabel Tueumuna Katjavivi.

Weiterlesen…

Erschienen in: Berliner Zeitung, Nr. 84, Donnerstag, 11. April 2024, Seite 11.

Antikoloniales im Berlin der Zwanziger

Eine Ausstellung der Villa Oppenheim

Tilman A. Fischer

Seit 2017 prägt die Netflix-Serie „Babylon Berlin“ wie kaum ein anderes Produkt der Populärkultur das Bild der deutschen Hauptstadt in den goldenen Zwanzigern. Dieses Bild freilich ist erstaunlich weiß, stellt man in Rechnung, dass Berlin schon damals eine von globaler Mobilität geprägte Weltstadt war und die Kapitale eines Landes, in dem Menschen lebten, die aus dessen gerade erst abgetretenen Kolonialgebieten stammten.

Dies mag an Leerstellen im kollektiven Gedächtnis erinnern, wie sie immer wieder – und zuletzt mit zunehmender Vehemenz – problematisiert werden. Einen wichtigen Beitrag dazu, diese Lücken zu schließen, leistet die Ausstellung „Solidarisiert euch! Schwarzer Widerstand und globaler Antikolonialismus in Berlin, 1919–1933“ im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim.

Weiterlesen…

Erschienen in: Berliner Zeitung, Nr. 37, Dienstag, 13. Februar 2024, Seite 11.

Eine Chance für Bildung und Verständigung

Die Union Evangelischen Kirchen plant die Rückkehr eines Kunstschatzes nach Danzig. Ein Gastkommentar

Von Tilman A. Fischer

Bereits seit Jahrzehnten zeigt das Lübecker Annen-Museum wechselnde Einzelstücke aus dem Danziger Paramentenschatz – kunsthistorisch bedeutende liturgische Gewänder aus vorreformatorischer Zeit, die sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Besitz der evangelischen Marienkirchengemeinde in Danzig befunden hatten. Deren letzter Pfarrer, Gerhard Gülzow, rettete die kostbaren Textilien vor der Kriegszerstörung. Deren einer Teil landete in Thüringen, von wo er bereits kurz nach dem Krieg nach Danzig verbracht wurde – freilich nicht in die Marienkirche, sondern rechtswidrig in den staatlichen Besitz des Nationalmuseums Danzig. Der andere Teil gelangte – ebenso wie übrigens viele vertriebene Danziger – nach Lübeck. Hier wird er im Annen-Museum als Leihgabe der Union Evangelischer Kirchen (UEK), der Rechtsnachfolgerin der Danziger Gemeinde, öffentlich präsentiert – ebenso wie Einzelstücke im Germanische Nationalmuseum in Nürnberg.

Am 8. Dezember 2022 teilte die UEK über eine Pressemitteilung mit, sich mit der heute katholischen Marienkirchengemeinde in Danzig in einem „Letter of Intent“ auf eine Rückkehr der Paramente an ihren Herkunftsort und in das Eigentum der katholischen Gemeinde verständigt zu haben – unter der Auflage einer adäquaten Präsentation sowie konservatorischen Betreuung und bei fortgesetzter Präsenz von Einzelstücken als Leihgaben in Lübeck und Nürnberg. Diese Entscheidung bietet eine große Bildungschance: Am historischen Ort kann ausgehend von dem Paramentenschatz die Bedeutung des gemeinsamen deutsch-polnischen Kulturerbes – sowie die gemeinsame bzw. geteilte Geschichte beider Nationen – der Öffentlichkeit sichtbar gemacht und erschlossen werden.

Überrascht von der Entscheidung wurden im vergangenen Jahr die noch lebenden Vertriebenen aus Danzig und dessen Umland – dem früheren Westpreußen – sowie ihre historisch interessierten Nachfahren, die von dieser Vereinbarung erst durch die Presse erfuhren. Umso erfreulicher war es, dass die UEK ein Jahr später, am 8. Dezember 2023, die Öffentlichkeit zu einer Informations- und Diskussionsveranstaltung ins Haus Hansestadt Danzig in Lübeck eingeladen hat. Hier kamen neben Mitgliedern des deutsch-polnischen Beirats, der die Rückkehr der Paramente begleitet, auch Vertreter der Vertriebenen und ihrer Nachfahren zu Wort. Aus deren Reihen wurden kritische Anfragen – teils auch eine klare Ablehnung des Vorhabens –, jedoch auch weiterführende Vorschläge formuliert wie die Schaffung einer europäischen Institution, die für Bewahrung und Präsentation der Paramente in Danzig verantwortlich sein solle.

Erfreulich klar bekannten sich sowohl der Prälat der Marienkirche, Ireneusz Bradtke, als auch der Danziger Kunsthistoriker Tomasz Torbus zur gemeinsamen deutsch-polnischen – mithin europäischen – Prägung der kulturellen Identität Danzigs. Der von deutscher Seite her den Beirat koordinierende Oberkirchenrat Martin Evang betonte in seinem Statement, dass die UEK seit jeher wiederholt erhobene Eigentumsansprüche des polnischen Staates auf Sakralkunst evangelischer Gemeinden aus den früheren, heute zu Polen gehörenden, Kirchenprovinzen stets abgelehnt habe. Die anvisierte Schenkung erfolge aus voller Freiheit – dies werde auch durch den zu unterzeichnenden Schenkungsvertrag nochmals festgeschrieben.

Der Autor dieses Beitrags selbst würdigte als Vertreter der Westpreußischen Gesellschaft die beabsichtigte Rückkehr der Paramente als Beitrag sowohl der deutsch-polnischen Verständigung im obigen Sinne als auch als einen solchen der Ökumene. Der Gesichtspunkt, dass die UEK ihr rechtmäßiges Eigentum aus freiem Willen schenke, sei dabei insofern bedeutsam, als diese Klarstellung davor bewahre, die Schenkung mit gegenwärtigen Diskurse um die Restitution von Raubkunst zu vermischen.

Zu hoffen ist, dass die Einbindung der Vertriebenen und ihrer Nachfahren auf dem weiteren Weg hin zur Rückkehr der Paramente fortgesetzt wird. Eine solche Einbindung ist theologisch gut begründet: zum einen als Ausdruck der seelsorgerlichen Verantwortung gegenüber den betroffenen Mitgliedern der UEK-Gliedkirchen, zum anderen vom Selbstverständnis einer Kirche her, die sich als zivilgesellschaftlicher Akteur im Austausch mit anderen Kräften der Zivilgesellschaft versteht. Sollte dem Rechnung getragen werden, besteht Aussicht, dass die Rückkehr der Paramente tatsächlich zu Verständigung und Versöhnung beiträgt.

Tilman Asmus Fischer ist Vorstandsbeauftragter der Westpreußischen Gesellschaft – Landsmannschaft Westpreußen e.V. Der evangelische Theologe ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig.

Unter ähnlichem Titel erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 2/2024. Eine Kurzfassung erschien in: Evangelisch Zeitung (Schleswig Holstein) 2/2024.

Stein gewordene Erinnerung

Westpreußische Denkmäler nach dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft – eine Spurensuche

„Und Jakob nahm einen Stein und richtete ihn auf als Denkmal.“ (Gen 31,45) Bereits das Alte Testament bezeugt das urmenschliche Bedürfnis, existenziellen Erlebnissen und Erfahrungen sichtbaren und dauerhaften Ausdruck zu verleihen, sie durch das Errichten von Gedenksteinen – später Denkmälern – in das Gesicht der Landschaft einzuschreiben. Im Moment erleben wir vielfältige Debatten um die symbolische Gestaltung des öffentlichen Raums in Form von Straßennamen oder Denkmälern. Solche Diskussionen, wie wir sie in freiheitlichen Demokratien führen, waren und sind in autoritären Systemen nicht möglich. In ihnen ist der öffentliche Raum den Narrativen der politischen Führung unterworfen. Dies galt auch für die Volksrepublik Polen – mit der Folge, dass in den historischen deutschen Ostgebieten Erinnerungen an die früheren Bewohner eliminiert, die verbliebene deutsche Bevölkerung mangels der Möglichkeit politischer Artikulation von der Gestaltung des öffentlichen Raums ausgeschlossen und ein sichtbares Gedenken an deutsche Kriegsopfer per se tabuisiert war.

Mit dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft fand nicht nur eine Demokratisierung des politischen Systems, sondern ebenso eine solche der Erinnerungskultur und des öffentlichen Raums statt. Bisher unterdrückte Positionen hatten die Möglichkeit, sich zu artikulieren. Was bedeutet dies für die Denkmal-Landschaft einer Region? Dies sei im Folgenden für das Land an der unteren Weichsel nachvollzogen. Hier kam es seit 1990 zu vielfältigen Initiativen, das deutsche Erbe als Teil gemeinsamer deutsch-polnischer Geschichte sowie das Schicksal der deutschen Vertreibungsopfer öffentlich bewusst zu machen. Initiatoren waren sowohl Angehörige der deutschen Volksgruppe und Heimatvertriebene als auch Kirchengemeinden oder weitere zivilgesellschaftliche und kommunale Akteure. Welche historischen Phänomene werden mit den von ihnen errichteten Denkmälern auf welche Weise thematisch? Und welche gestalterischen Akzente setzen die unterschiedlichen Denkmäler?

Für eine Spurensuche bietet sich der von Gisela Borchers erstellte und 2013 von der Landsmannschaft Westpreußen herausgegebene Katalog „Erinnerungsstätten in Westpreußen“ als Ausgangspunkt an. Auch wenn diese Zusammenschau – schon ob der Tatsache, dass sie vor zehn Jahren erschienen ist – keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, vermag sie doch eine grundlegende Orientierung zu geben über die Entwicklungen der westpreußischen Denkmal-Landschaft nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Versucht man, aus den zusammengetragenen 134 Erinnerungsstätten eine Typologie westpreußischer Denkmäler zu entwickeln, ergeben sich auf den ersten Blick zwei große Kategorien: Es sind dies zunächst Denkmäler, die sich auf die Geschichte der Region vor Flucht und Vertreibung beziehen, und sodann solche, die ebendiese im Rahmen des Zweiten Weltkriegs thematisieren.

Verschwundene Friedhöfe

Die bedeutendste Gruppe der auf die Geschichte Westpreußens bezogenen Denkmäler bilden Gedenksteine und Erinnerungstafeln für frühere städtische sowie evangelische, katholische, mennonitische und jüdische Friedhöfe (im Einzelfall auch von Familiengräbern) bzw. zur Erinnerung an die deutsche Vorgeschichte von Friedhöfen, die heute noch bestehen. Diese Dominanz verwundert nicht – stellt das Grabmal selbst bereits eine der ältesten und in unterschiedlichen Kulturen verbreitete Form des Denkmals und des Personengedächtnisses dar. Die an zerstörte Friedhöfe erinnernden Gedenksteine greifen naheliegenderweise die Form von Grabsteinen auf – in der Regel dürften sie wohl auch von ortsansässigen Steinmetzen gefertigt worden sein. Dies gilt auch für die Gestaltung von Gedenksteinen, die – wie in Graudenz oder Marienburg – an mehrere Friedhöfe einer Gebietskörperschaft oder im ländlichen Raum vielfach an sämtliche Friedhöfe eines Kirchspiels erinnern. Dementsprechend wurde auch von der Deutschen Minderheit auf dem Garnisonsfriedhof am Hagelsberg ein Gedenkstein errichtet, und zwar im Jahre  2001, d.h. nur ein Jahr bevor der seitens der Stadt geschaffene „Friedhof der nicht existierenden Friedhöfe“ entstand. Dieser stellt – so die offizielle Interpretation durch die Stadt Danzig – eine „Form der Wiedergutmachung für die Verwüstung und Auflösung der ehemaligen Danziger Friedhöfe nach dem Krieg“ dar, „eine Form der Erinnerung an alle die, die keine Gräber bzw. keinen Grabstein mehr haben“ – wobei dezidiert die religiöse Dimension des Totengedächtnisses akzentuiert wird:

„Neben den sich dort befindlichen original Grabplatten von aufgelösten Friedhöfen, befindet sich dort an zentraler Stelle ein ‚Altar‘ mit der Inschrift ‚Denen, die keine Namen haben‘. Er ragt aus den Trümmern zerbrochener Grabplatten empor, die Embleme verschiedener, im alten (wie auch im heutigen) Danzig vertretener Religionsgemeinschaften tragen.“ (gdansk.pl)

Die Gestaltung des „Altars“ verwendet dabei eine spezifische Motivik, die nicht nur der Bruchstückhaftigkeit des sie umgebenden Lapidariums entspricht, sondern die sich zugleich als theologische Aussage über den unvollständig-fragmentarischen Charakter der menschlichen Existenz lesen lässt. Kann dieses Moment als anthropologische Konstante in der Lebensgeschichte und Identität jedes Menschen aufgefunden werden, so tritt sie doch in den Schicksalen, die sich mit Krieg und Vertreibung verbinden, in besonderer Weise hervor. Insofern funktioniert das Denkmal nicht nur als Verweis auf die verlorenen Friedhöfe, sondern eröffnet zugleich eine Bildsprache, die von den Angehörigen der dort Bestatteten zu Erfahrungen aus der eigenen Lebens- oder Familiengeschichte in Beziehung gesetzt werden kann. Auch in Elbing wurden überkommene Grabsteine zerstörter Friedhöfe in vergleichbarer Weise in einem Lapidarium zusammengetragen.

Anwesenheit des Abwesenden

Von den der (zumeist christlich konnotierten) Sepulkralkultur eng verbundenen Erinnerungsformen an verschwundene Friedhöfe und die dort Begrabenen lassen sich Linien ziehen zu den weiteren Typen von Denkmälern, die wir hier betrachten wollen. Dies betrifft zum einen das Bedürfnis, an nicht mehr existente historische Gebäude und die mit ihnen verbundenen Menschen zu erinnern. Auch hier werden zumeist Gedenksteine aufgestellt, um auf Abwesendes zu verweisen, es in der Betonung seiner Abwesenheit wieder anwesend zu machen. Auffällig ist, dass es sich hierbei vor allem um Kirchen handelt und somit, wie bei den Friedhöfen, abermals um religiöse Erinnerungsorte; im Falle der Kirchen um solche, mit denen sich nicht nur die Feste des Jahreskreises bzw. Kirchenjahres, sondern ebenso biographische Passagenriten (Taufe, Kommunion bzw. Konfirmation, Trauung und ggf. Trauerfeiern) verbinden. Ästhetisch interessant ist die Gestaltung eines Gedenksteins für die 1967 abgerissene evangelische Kirche in Heidemühl (Kreis Konitz). Dieser besteht nicht aus bearbeitetem Naturstein, sondern stellt das Imitat einer Gemäuerruine dar, in die ein einzelner Stein des ursprünglichen Gebäudes als Relikt bewahrt bleibt. Damit wird in besonderer Weise sowohl das Verlorene symbolisch vergegenwärtigt als auch – ähnlich wie im Falle des „Friedhofs der nicht existierenden Friedhöfe“ – auf das Fragmentarische der menschlichen bzw. historischen Existenz verwiesen. In diesen Zusammenhang gehören im Übrigen Erinnerungstafeln, die an entwidmeten oder anderen Konfessionen übertragenen Kirchengebäuden auf die ursprünglich dort ansässige Gemeinde verweisen, wie etwa auf den Sitz des ersten Betsaals der Mennonitengemeinde in Elbing.

Andere Gedenktafeln erinnern an Institutionen, die zwar nicht von religiöser, jedoch von allgemein lebensweltlicher oder biographischer Bedeutung waren: Dies gilt für die frühere Wache der Elbinger Berufsfeuerwehr, auf die in der Hindenburgstraße ein klassischer Gedenkstein verweist, ebenso wie für Schulen. So macht an der Henryk-Sienkiewicz-Schule in Marienburg eine Tafel deren Geschichte als Luisenschule bis 1945 kenntlich. Dass Denkmäler nicht nur mit Verlust in Verbindung stehen, sondern sich auch der Motivation verdanken, kulturelle Traditionen einer gesellschaftlichen Gruppe wie der deutschen Minderheit öffentlich zu exponieren, zeigt ein Beispiel aus Rehdorf (Kreis Stuhm): Hier erinnert ein von der Deutschen Minderheit Stuhm-Christburg gestifteter Naturstein mit Metalltafel an den dort bis Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden „Hammerkrug“ , eine Schmiede mit Wirtshaus. Ergänzen ließe sich hier noch eine Reihe von Gedenksteinen und -tafeln, die an Geburts- und Wohnhäusern auf Persönlichkeiten von lokalhistorischer bzw. regionalhistorischer wie zeitgeschichtlicher und überregionaler Bedeutung hinweisen. Auch diese erfüllen die Funktion, bis zum Ende der kommunistischen Diktatur bestehende Lücken in der Erinnerungslandschaft zu schließen.

Erinnerung an Krieg und Vertreibung

Eine Zwitterposition zwischen den beiden Kategorien der kulturhistorischen Denkmäler und jener, die Flucht und Vertreibung sowie den Zweiten Weltkrieg als ihren Kontext thematisieren, nehmen wiederhergestellte und neu errichtete Kriegerdenkmäler bzw. Gedenksteine für Gefallene des Krieges 1870/71 sowie des Ersten Weltkrieges ein, insofern sie einerseits die Geschichte Westpreußens vor der Vertreibung dokumentieren, andererseits jedoch Gestaltungsformen prägen, die nach 1945 aufgegriffen werden. Dabei knüpfen auch sie sämtlich an den Archetypus des Grabmals an. Zu einer gewissen einheitlichen Anmutung der Denkmäler für Gefallene verschiedener Epochen trägt zudem der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei, der etwa in Danzig auf dem Hagelsberg um das Jahr 2000 sowohl die Grabstätte deutscher Soldaten aus dem deutsch-französischen Krieg als auch diejenige der Gefallenen des Ersten Weltkrieges in schlichter moderner Gestalt wiederherstellte. Der Krieger-Gedenkstein aus dem Ersten Weltkrieg in Baumgarth (Kreis Stuhm)  wiederum wurde gemäß dem historischen Vorbild und somit in traditioneller Gestalt auf Initiative von Heimatkreis und deutscher Minderheit rekonstruiert. Gemeinsam ist sämtlichen Kriegerdenkmälern die Gestaltung in strengen Formen und zumeist in Schwarz- wie Grautönen.

An die moderne und schlichte Gestalt der älteren Kriegerdenkmäler auf dem Hagelsberg kann die dortige – gleichfalls vom Volksbund errichtete – Grablege für deutsche Gefallene des Zweiten Weltkriegs anknüpfen. Sie wird durch ein Totenbuch ergänzt, das den dort erinnerten Schicksalen Namen gibt. Weniger standardisiert sind die teils aus privater Initiative entstandenen Denkmäler, die sowohl an die Opfer des Nationalsozialismus als auch an die Opfer von Flucht und Vertreibung erinnern. Ein Alleinstellungsmerkmal kommt dem [bekannten] Denkmal zur Erinnerung an die Eisenbahntransporte jüdischer Kinder aus der Freien Stadt Danzig nach England 1938/1939 auf dem Vorplatz des Danziger Hauptbahnhofs zu, insofern es plastisch die Betroffenen – Kinder am Bahnsteig – als Gerettete zeigt. Besondere Erwähnung verdient zudem ein Gedenkstein aus dem Jahr 1996 in Tiegenhof (Kreis Großes Werder), der mit der zweisprachigen Beschriftung „Gedenket der Toten – Frieden dieser Stadt“ und mithin ohne eine differenzierende Benennung einzelner Opfergruppen des Krieges auskommt. Andere Denkmäler hingegen konkretisieren sehr detailliert die Personen und Ereignisse, auf die sie Bezug nehmen. So heißt es etwa auf einer 1999 von der Truso-Vereinigung an der Dorfkirche Lenzen (Kreis Elbing) installierten zweisprachigen Erinnerungstafel: „An die bei Kriegsende 1945 in Lenzen ermordeten und an den Folgen des Krieges gestorbenen und gefallenen 286 Dorfbewohnern und den in Lenzen erschossenen deutschen Soldaten“.

Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, wie sich die westpreußische Denkmal-Landschaft im Zeitraum einer Generation pluralisiert hat. Dabei sind die oft von deutschen und polnischen Initiatoren gewählten Themen und Gestaltungsformen nicht zuletzt auch ein Zeugnis der grenzüberschreitenden Verständigung. Inzwischen finden sich sogar auch solche Denkmäler, die auf wichtige Akteure ebendieses Verständigungs- und Versöhnungsprozesses selbst verweisen. So erinnert in Elbing etwa am ehemaligen Gymnasium eine Gedenktafel an den Publizisten Erich Brost als einen „Mann der deutsch-polnischen Verständigung – geboren in Elbing“. Insofern Verständigung immer weiter gemeinsamer Anstrengungen bedarf, dürfte das gleiche auch für die Aushandlungsprozesse um die erinnerungskulturelle Gestaltung des öffentlichen Raums im historischen Westpreußen gelten. Ihre weitere Entwicklung gilt es mit Interesse abzuwarten.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

Proeuropäischer Geist aus Danzig

Polens alter und neuer Ministerpräsident Donald Tusk weckt Erwartungen

Zum zweiten Mal in seiner politischen Laufbahn ist Donald Tusk am 13. Dezember als polnischer Ministerpräsident vereidigt worden. Diesem für die polnische wie europäische Politik – und mithin die deutsch-polnischen Beziehungen – bedeutsamen Ereignis waren unwürdige Versuche der seit 2015 regierenden Partei „Prawo i Sprawiedliwość“ [Recht und Gerechtigkeit] (PiS) und des aus ihren Reihen stammenden Staatspräsidenten Andrzej Duda vorangegangen, die rechtspopulistische Partei an der Macht zu halten. Diese berief sich aufgrund des Ergebnisses der Parlamentswahl vom 15. Oktober als mit 35,4 Prozent stärkste Partei auf das Recht zur Regierungsbildung – obwohl die mit Tusks liberal-konservativer „Platforma Obywatelska“ [Bürgerplattform] (PO) verbündeten Oppositionsparteien gemeinsam eine deutliche Mehrheit errungen hatten. Getragen wird die gemeinsam mit Tusk vereidigte Regierung neben der PO von den linksliberalen Parteien Nowoczesna [Die Moderne] und „Inicjatywa Polska“ [Initiative Polen], den christdemokratischen Parteien „Polska 2050“ und „Polskie Stronnictwo Ludowe“ [Polnische Volkspartei] () sowie den sozialdemokratischen Parteien „Nowa Lewica“ [Neue Linke] () und „Lewica Razem“ [Linke Gemeinsam].

An die neue proeuropäische Koalition richten sich vielfältige Hoffnungen, nicht nur aus der Republik Polen, sondern auch aus der Europäischen Union. In dieser genoss Tusk einen derartigen Rückhalt, dass er den Posten des Präsidenten des Europäischen Rates, zu dem er 2014 gewählt worden war, bis zu seiner Rückkehr in die polnische Politik 2019 auch gegen die Widerstände der in Warschau regierenden PiS innehatte. Seine tiefe proeuropäische Überzeugung ist bei Polens altem und neuem Ministerpräsidenten durchaus auch biographisch begründet, stammt der 1957 in Danzig Geborene doch aus einer auf dem Gebiet der Freien Stadt ansässigen kaschubischen Familie und ist insofern geprägt vom Geist der weltoffenen und vielfältigen europäischen Metropole. Dass einer seiner Großväter, Józef Tusk, kurz vor Kriegsende als Angehöriger der Deutschen Volksliste zur Wehrmacht einberufen wurde, wird von polnischen Nationalisten bis heute zur Verunglimpfung Tusks als eine „deutschen Agenten“ instrumentalisiert – in Absehung von der Tatsache, dass beide Großväter zeitweise Häftlinge der Konzentrationslager Stutthof bzw. Neuengamme waren.

Es ist davon auszugehen, dass die Rufmordkampagnen der einstigen Machthaber und heutigen Opposition in Polen gegen ihren Erzfeind Tusk künftig an Intensität eher zunehmen werden, da ihnen der europapolitische Kurs hierzu genug Anlass geben wird. Bereits in der ersten Regierungserklärung bekannte sich Tusk zu den Grundwerten Europas: „Was wirklich eine Gemeinschaft formt, sind Rechtsstaatlichkeit, die Verfassung, die Regeln der Demokratie, sichere Grenzen und ein sicheres Staatsgebiet – das sind die Dinge, über die wir uns nicht streiten dürfen.“ Polen sei, so Tusk, „umso stärker, umso souveräner, je stärker die Europäische Gemeinschaft ist“.

Mit Interesse abzuwarten wird sein, wie sich vor diesem Hintergrund der außenpolitische Kurs gegenüber Deutschland gestaltet. Dies gilt an erster Stelle für die seitens der PiS in den vergangenen Jahren betriebenen – juristisch höchst fragwürdigen – Entschädigungsforderungen gegenüber der Bundesrepublik. Tusk dürfte weder Interesse an einer Fortsetzung dieser symbolpolitischen Angriffe auf Berlin haben noch daran, dass man sich dort genötigt sehen sollte, in Entgegnung hierauf deutlich auf die deutschen Gebietsabtretungen an Polen und die seit jeher offenen Fragen privater Eigentumsansprüche einzugehen. Auch innenpolitisch besteht, will Tusk seinem Anspruch als proeuropäischer Politiker gerecht werden, dringender Handlungsbedarf, der die deutsch-polnischen Beziehungen tangiert. Dabei dürfte es – neben einer Abkehr vom lähmenden, durch die Nationalisten bei allen Fragen der Erinnerungspolitik in den Wissenschafts- und Kulturbetrieb hereingetragenen Kulturkampf – primär um die von den Rechtspopulisten vorgenommene Streichung von Geldern für den Deutschunterricht an staatlichen Schulen gehen, die einen massiven Angriff auf die kulturelle Identität und Existenz der deutschen Volksgruppe sowie ihre verbrieften Minderheitenrechte darstellt.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“

Preisverleihung des Podcast-Wettbewerbs „Heimat. Über. Brücken. – Wir Brückenbauer in Deutschland, Europa und weltweit“ der Deutschen Gesellschaft e.V. – in Kooperation mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen sowie der Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland – für junge Spätaussiedler, Nachfahren von Heimatvertriebenen und Angehörige der deutschen Minderheiten. In der Veranstaltung werden die Beiträge der Preisträgerinnen und Preisträger vorgestellt und gewürdigt. Durch den Abend führt Tilman A. Fischer.

Buchvorstellung „Die zwei Gesichter der Zerstörung. Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen“ (von Prof. Dr. Manfred Kittel)

Programm:

Grußworte: Thomas Konhäuser, Geschäftsführer der Kulturstiftung Dr. Florian R. Simon, Verleger (Duncker & Humblot)

Einführung: Tilman A. Fischer, Theologe und Journalist, Berlin

Buchvorstellung: Manfred Kittel, Professor für Neuere und Neueste Geschichte und ehem. Gründungsdirektor der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Berlin/Regensburg

Kommentar: Dr. Christean Wagner, Hessischer Kultus- und Justizminister a. D. und Vorsitzender der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, Wiesbaden

Diskussion: „Ethnische Vertreibungen zwischen Erinnerungskultur und Völkerrecht“

Moderation: Tilman A. Fischer

Schlussworte: Thomas Konhäuser

Verstehen und Verständigung

Bundestagspräsidentin a. D. Rita Süssmuth – Zeitzeugin im Gespräch

Rita Süssmuth war eine der prägenden Gestalten der späten Bonner und frühen Berliner Republik, zumal als Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit von 1985 bis 1988 sowie insbesondere als Präsidentin des Deutschen Bundestages von 1988 bis 1998. Zudem ist die 1937 in Wuppertal geborene CDU-Politikerin bis heute – neben anderen Themenfeldern – intensiv mit Fragen der deutsch-polnischen Beziehungen befasst: nicht nur als Präsidentin des Deutschen-Polen-Instituts, sondern ebenso als Kuratoriumsvorsitzende der Deutsch-Polnische Gesellschaft und Vorstandsmitglied der im Geiste des Weimarer Dreiecks arbeitenden Stiftung Genshagen. Dies macht sie zum einen zu einer Zeitzeugin der Deutschland- und Ostpolitik der Jahre ihrer Verantwortung in Regierung und Parlament und zum anderen zu einer erfahrenen Beobachterin der gegenwärtigen Phase intensiver Herausforderungen für den Zusammenhalt Europas. In einem Gespräch mit Tilman A. Fischer gab sie Einblick in ihre historischen Erfahrungen wie in ihre Gegenwartsanalysen. Entstanden ist so das intellektuelle Porträt einer zentralen Persönlichkeit im deutsch-polnischen Dialog.

Frau Professor Süssmuth, Sie sind in Westdeutschland geboren und aufgewachsen. In welchem Zusammenhang wurde hier ‚der Osten‘ für Sie erstmals thematisch?

Das war in der Nachkriegszeit. Wir waren evakuiert in einem Dorf auf dem Lande und da wurden samstagsmorgens immer die Backplatten – die einen mit Brot, die anderen mit Kuchen – zum Bäcker gebracht, um da abgebacken zu werden. Da habe ich erlebt, dass die Platten der Flüchtlinge immer als letzte drankamen. Da habe ich zuhause gefragt: „Was machen die da eigentlich? Warum heißt es, ‚der Ofen ist voll‘? Da flackerte in mir etwas auf. Das hat zwar nicht zum Polen-Interesse geführt, hat mich aber sensibilisiert: Warum werden die Flüchtlinge – und das waren Deutsche aus dem Osten – anders behandelt als Einheimische. Es gibt Zugehörige und solche, die an den Rand gedrängt werden. Das Flüchtlingsproblem habe ich erst viel später tiefer verstanden; denn meine Kindheit dominierte die Frage nach dem eigenen Überleben: Man sorgte für sein Überleben, ging hamstern, alles Mögliche sammeln, Eier zu bekommen und so weiter.

Dennoch gewann der Themenkreis Deutschland und Ostmitteleuropa für Sie an Bedeutung. Wie kam es dazu?

Als ich zur höheren Schule kam zu den „Schwestern der Christlichen Liebe“ – oder auch der Strenge – in Lippstadt, habe ich mich sehr für Geschichte interessiert und war da auch entsprechend begabt. In dieser Zeit war mein Vater – ein Pädagoge – am Wiederaufbau der Lehrerbildung beteiligt. Und auf seinem Schreibtisch sah ich immer die „Frankfurter Hefte“ – rote Hefte mit bestimmten Themen. Das hat mich interessiert: Was macht Dein Vater da? Das war eine Mischung aus politisch-kritischen, sozialen und Bildungsfragen – und so weiter. Das hat mich wach gemacht. Dann kam die Mittlere Reife und ich wollte von der Schule abgehen, um Krankenschwester zu werden. Da sagte mein Vater: „Rita, mach doch wenigstens Abitur!“ Als ich dann das Abitur in Rheine gemacht hatte, sagte er: „Und jetzt studier‘ bitte Jura!“ – „Oh Schand‘!“, dachte ich da und ich sagte ihm: „Nein, das kann ich nicht – ich habe keine Beziehung dazu. Ich muss etwas machen, wovon ich schon jetzt was erlebt und Ahnung haben. Ich werde Romanistik und Geschichte studieren.“ Ich war entschlossen, als Lehrerin in die Schule zu gehen. Diese Fächer habe ich zunächst in Münster, dann in Tübingen, dann in Paris an der Sorbonne studiert.

Dies freilich klingt eher nach einer Westorientierung.

In dem Studium stieß ich dann aber nicht nur auf den Westen, sondern entdeckte plötzlich auch die reiche Geschichte Ostmitteleuropas: Da war ein Mediävistik-Professor, und der beschäftigte sich eben gerade mit Mittel- und Osteuropa. Ich besuchte seine Seminare und er lud mich dann ein, als ich 1961 das Examen gemacht hatte, mit auf eine Studienfahrt zu kommen.. Zunächst habe ich sein Oberseminar auch noch mitgemacht, aber ich hatte dann das Angebot für einer Dissertation und promovierte über die „Anthropologie des Kindes“. Mit der Anstellung als Assistentin von Robert Spaemann an der Universität in Osnabrück folgte dann auch der berufliche Durchbruch an die Universität. Jedoch habe ich parallel zur Universität immer auch andere Themen verfolgt: Ich betrieb weiter Geschichtsstudien, obwohl ich ja das Examen in Alter und mittelalterlicher Geschichte bereits hatte – aber ich muss sagen: Das war mehr ein Auswendiglernen gewesen. Verstehen der Geschichte habe ich erst durch die Franzosen gelernt – abstrakt gesprochen durch die Strukturalisten, denen es darum ging, nicht nur politische, sondern auch Sozial- und Kulturgeschichte zu betreiben. Das eröffnete auch einen neuen Blick auf unsere östlichen Nachbarn.

In welcher Beziehung steht Ihr persönlicher Perspektivwechsel zu den Umbrüchen in der deutschen Politik – mithin der politischen Kultur – in den 1960er und 1970er Jahren?

Dies waren für mich die entscheidenden Entwicklungsjahre. Ich war damals zwar durch meinen Berufseinstieg zur Kämpferin für Frauen geworden, aber noch nicht zu einer richtigen Kritikerin. Dies geworden zu sein, verdanke ich den 68ern. Meine Partei freut sich nicht, wenn ich sowas sage. Was kann denn an den 68ern gut gewesen sein? Ja, die haben die Fragen gestellt – auch im Parlament. Die 68er-Bewegung klärte die Menschen auf – im Sinne Kants: ihren eigenen Verstand zu gebrauchen. Und das ist ja das Entscheidende, so entsteht Verstehen und erst durch Verstehen kommt dann die Verständigung zustande – eben auch mit Völkern, zu denen eine historisch belastete Beziehung besteht.

Welche Bedeutung kam dieser Verknüpfung zwischen Verstehen und Verständigung gerade mit Blick auf den damaligen Ostblock zu?

Die Spaltung Europas hat nicht nur in Form von physischen Grenzen existiert, sondern auch in den Köpfen. Das waren immer „die Anderen“. Wir haben jahrelang den Westen positiv gesehen und den Osten als die zu Befreienden. Polen, die Tschechoslowakei – in all diesen Ländern gab es auch eigene Bewegungen, deren Denken wir eigentlich viel zu wenig zur Kenntnis genommen habe.

In Ihrer Partei sind sie auch als eine Unterstützerin der „Neuen Ostpolitik“ – und in diesem Kontext durchaus auch als eine Kritikerin der Vertriebenenverbände – in Erscheinung getreten. Wie haben Sie diese Konstellation wahrgenommen?

Für manche in der Union war ich nie eine richtige Parteizugehörige – wahrscheinlich auch nicht genug Parteisoldat. Ich habe Schwierigkeiten, das gebe ich zu, mit so einem unmittelbaren Gehorsam. Da hatten meine Eltern schon Schwierigkeiten. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte – das kriegte man nicht so schnell da wieder raus. Es gab damals eine Hauptunterstützung von den reformerischen Kräften. An der Spitze Heiner Geißler. Heiner Geißler war ein Kämpfer, der auch manchmal über seine Grenzen ging, auch in der Verletzung anderer Menschen. Später hat er sich dann immer wieder entschuldigt.

Aber es gab in der Union doch auch genug meinungsstarke Kritiker Ihrer Position.

Ja, aber Herbert Czaja und einige der Hauptmatadore der Vertriebenenverbände haben im Laufe der Zeit auch gelernt. Wir haben einerseits die „große Zeit“ der Vertriebenenverbände vor Augen, die die deutsche Politik sehr beeinflusst haben, auch wegen ihrer Wählerstimmen – mit denen man sich gutstellen musste. Wir haben aber auch die heutige Zeit vor Augen, in denen viele Akteure aus den Vertriebenenverbänden ganz wesentlich zur Verständigung in Europa beitragen. Dort, wo heute die Vertriebenen wieder in ihr altes Heimatland kommen und die heute dort Lebenden sie bitten: „Kommt doch mal rauf und wir trinken eine Tasse Kaffee zusammen!“, da erleben wir heute, dass gerade eine Region wie Oberschlesien die Region der Verständigung ist – inmitten des von der PiS dominierten Polen. Ähnliches gilt für Danzig. Umso schlimmer sind die Reparationsforderungen aus Warschau, die keiner mehr bezahlen kann..

Lassen Sie uns gerne später auf diesen Punkt zurückkommen – hier aber noch kurz in der Retrospektive verweilen! Wie entwickelten sich in den sogenannten Wendejahren Ihre persönlichen Beziehungen nach Polen?

Ich habe in der Geschichte ja viel erfahren, von den furchtbaren Dingen, die im Zweiten Weltkrieg und danach auch passiert sind. Nach Polen war ich noch nicht gekommen, aber wir hatten wenigstens Informationen aus zweiter Hand. Polen hat sich für mich eigentlich erst ab den frühen 1980er Jahren eröffnet und eine führende Persönlichkeit war Władysław Bartoszewski, ein Widerständler und ein wunderbarer Mensch. Auch wenn er, wie ich jetzt im Augenblick, nicht aufhören konnte zu reden. Aber durch ihn habe ich viel über Polen verstanden. Vorher habe ich studiert, dies sicherlich auch engagiert – aber ich habe noch nicht viel verstanden. Gewusst habe ich eine Menge, aber das ist weniger als Verstehen.

Wann sind sie ihm, Bartoszewski, das erste Mal begegnet?

Ich bin ihm das erste Mal 1985 begegnet. Aber da war er mir natürlich bereits bekannt: Er gehört zu den Personen, die schon vorher die Kontakte hergestellt haben, gerade über den religiösen Austausch; denn natürlich hatte ich die Diskussion um die neue Ostpolitik, in welcher der „Botschaft der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder zur Versöhnung“ von 1965 eine große Bedeutung zukam, intensiv verfolgt – und in dieser Zeit war Bartoszewski bereits im von den Kirchen betriebenen Dialog engagiert. Eine zentrale Rolle kam damals den jungen Menschen von Aktion Sühnezeihen zu, die jüdische Opfer pflegten (es gab ja noch keinen Ausgleich und keine Versorgung für sie). Über diese kirchlichen Kontakte bekam er Reiserecht nach Deutschland und hat seitdem die Verständigung wirklich auch in unserem Land betrieben.

Dies taten Sie selbst dann auch vor Ort in Polen. Wie waren Ihre ersten Eindrücke von unserem östlichen Nachbarland?

Als die Solidarność stärker wurde, und als sich dann 1989 die Grenzen öffneten, war meine erste Wahrnehmung: In der DDR hatte man Angst gehabt, überhaupt hineinzufahren – wahnsinnige Kontrollen; und wenn man nach Polen fuhr, brauchte man kaum den Kofferraum aufzumachen. Auch in der Akademie der Wissenschaften ein völlig anderer Ton als bei den Kollegen in der DDR. Und bei den Reisen in diesen Jahren habe ich die ersten Solidarność-Leute in Warschau kennengelernt. Das geschah abends in der Botschaft ohne großes Aufsehen – einfach zum vertraulichen Gespräch. Da war Adam Michnik, heute Chefredakteur der Gazeta Wyborcza – ein etwas schwieriger Typ, aber ich habe ihn sehr geschätzt wegen seiner Einstellung, aber auch wegen seines Wissens. Ich habe heute noch Kontakt mit Lech Wałęsa in Danzig. Er ist jetzt älter geworden und etwas gebrechlich, nimmt aber weiterhin an den Demonstrationen der heutigen polnischen Opposition teil. Sie sehen, da ist was geblieben.

Welche Fragen und Themen sind Ihnen heute in den Beziehungen Deutschlands zu den Nachbarn in Ostmitteleuropa bedeutsam?

Im Augenblick kämpfe ich zum einen für Ungarn – ziemlich auf einsamem Posten. Wir Deutschen sind manchmal sehr lehrmeisterhaft und restriktiv: Ihr seid nicht gehorsam und haltet die Rechtsordnung nicht ein, die Gewaltenteilung – und jetzt fordern wir Sanktionen. Die Analyse ist zutreffend, ja aber statt zu sanktionieren müssen wir besonders viel mit den Andersdenkenden sprechen. Wichtig ist mir heute zum anderen und insbesondere seit dem totalen Bruch in der West-Ost-Beziehungen: Ich höre nur von morgens bis abends: „Die Ukrainer müssen den Krieg gewinnen.“ Es kommt nie die Frage auf: Was machen wir eigentlich, wenn sie ihn nicht gewinnen? Wir werden gleichsam alle plötzlich zu Konformisten. Die andere Seite – was machen wir, wenn nicht – muss doch auch bedacht werden und die fehlt mir heute, auch in meiner eigenen Partei. Ja, Engagement für die Ukraine – aber wir müssen immer auch bedenken: Es könnte anders kommen, als wir es erhoffen. Wir können ja nicht sagen: keinerlei Kontakt mehr – weder wissenschaftlich noch ökonomisch. Das kann ich mir nicht vorstellen. Da muss wieder Neues entstehen, wie es entstanden ist nach dem Zweiten Weltkrieg.

Schwingen in der Hoffnung auf die Möglichkeit von Verständigung noch Erfahrungen aus der Ära Gorbatschow mit?

Damals gab es einen anderen Geist. Ich habe die Suche nach Gesprächen mit Gorbatschow unterstützt und unsere Regierung hat sie gefunden. Ohne Gorbatschow hätten wir keine deutsche Einheit. Das ist meine Position. Es gab damals eine Zeit, in der Gorbatschow auch die Armut in Russland sah, die Unfreiheit der Russen, und ihnen mehr Freiheit gegeben hat. Putin hat nur dasEine gesehen: Er hat unser Land verkleinert. Anders als Gorbatschow ist Putin nicht zu einer größeren europäischen Perspektive in der Lage. Fehler sind aber natürlich auf allen Seiten gemacht worden. So stand das Baltikum in der Phase seines Freiheitskampfes für den Wunsch nach einer Verständigung zwischen Ost und West! Später sind dann die russischsprachigen Minderheiten ausgegrenzt worden, was zur Verschlechterung der Beziehungen beitrug.

Verständigung mit Russland, Fehler auf Seiten der westlichen Staatenwelt – sind das Fragen, die heute im Austausch mit Partnern in Polen, wo man zu Recht mit Sorge auf Russland blickt, angesprochen werden können?

Ja, sicher. Aber nicht mit der PiS-Regierung. Gewiss lässt sich die Haltung Jarosław Kaczyńskis gegenüber Russland auch aus dem dramatischen Schicksal des Verlusts seines Bruders erklären, aber im Sinne Bartoszewski gesprochen: Es muss jederzeit nach christlichem Verständnis möglich sein, wieder aufeinander zuzugehen. Aber für Kaczyński ist der Bruder von Russen ermordet worden. Und das treibt ihn bis heute um und er will es rächen.

Sie hatten die PiS – und auch die polnischen Reparationsforderungen – bereits angesprochen. Was für eine Entwicklung des politischen Diskurses erleben wir da gerade in unserem Nachbarland?

Dass solche Reparationsforderungen artikulierbar sind, hat die PiS erreicht, indem sie eine absolut polarisierte Atmosphäre geschaffen hat. Deshalb bin ich über all die deutlichen Manifestationen der politischen Opposition glücklich, denn da geht nicht einfach ein kleines Grüppchen auf die Straße, sondern Tausende von Menschen, die sich etwa gegen die Gesetzesinitiative gegen Tusk richten, die ihm das Wahlrecht nehmen und alle Schuld auf seinem Haupt versammeln soll. Dabei wird ihm von der PiS insbesondere seine Haltung gegenüber Russland vorgeworfen. Hierzulande wird die Zivilcourage der polnischen Opposition ja teilweise relativiert. Dann heißt es mit Blick auf Demonstrationen: Es war die Stadt und nicht das Land. Ist alles wahr, aber die Demonstrationen zeigen: Da ist ein Volk, das denkt: Was müssen wir an demokratischen Errungenschaften erhalten? Was sind die Grundlagen unserer Freiheit?

Sehen Sie die Perspektive, dass durch die gemeinsame Bewältigung der Krise des russischen Angriffskriegs mit all ihren humanitären Folgen auch die Ost-West-Spannungen in der EU abgebaut werden können – oder ist der Konfliktaustrag nur in einem momentanen Burgfrieden ausgesetzt?

Angesichts des Krieges in der Ukraine versuchen wir heute, gute, oder zumindest normale Beziehungen zwischen Deutschland und Polen zu pflegen. Polen engagiert sich ungeheuer. Sie haben – das kommt noch hinzu – immer eine enge Beziehung zur Ukraine gehabt. Auf der einen Seite ist Europa zusammengewachsen: Die Staaten merken, wir müssen zusammenstehen, nur gemeinsam können wir der Ukraine helfen. Auf der anderen Seite haben wir ständig Entwicklungen, bei denen der eine oder der andere sagt: Wir sind anders. Das betrifft etwa die Gewaltenteilung – in Polen, in Ungarn. Das heißt: auf der einen Seite Annäherung und Zusammenschluss, um ein stärkeres Europa zu schaffen – auf der anderen Seite bleibende Abgrenzungen. Diese Spannungen gilt es klug auszubalancieren.

Welche Streitfragen stehen dabei im Fokus?

Polen vertritt klare politische Standpunkte, was die militärische Aufrüstung betrifft. Manchmal habe ich dabei das Gefühl: Wenn Ihr uns Deutschen jeden Tag neue Dinge abverlangt, denkt Ihr auch daran, welche Risiken das für uns mit sich bringt? Und nicht nur für uns Deutsche – für ganz Europa? Wir müssen doch vielmehr gemeinsam eine Kriegsbeseitigung, einen Stopp der Waffen herbeiführen – und nicht nur für uns, sondern für Europa, wenn diese Idee des Staatenbundes noch eine Chance haben soll.Im Kalten Krieg ging es immer darum: Welche Waffen schützen uns? Welche Abwehrkräfte schützen uns? Und jetzt sind wir wieder in einer solchen Situation: Haben wir überhaupt noch Schutz? Und wir sagen, dieses Europa muss sich retten. – Wir sind aber im hohen Maße abhängig von Amerika. Amerika hat uns geholfen, ganz entscheidend geholfen bei der Wiedervereinigung. Das waren ja Hoffnungsjahre. Im Augenblick aber leben wir in einer Zeit der Unfälle und Enttäuschungen…

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 3/2023.

Versöhnung durch Wahrheit

Andreas Kalckhoff zeigt anhand des Postelberg-Massakers, wie Aufarbeitung von Vertreibungsverbrechen und ein gemeinsames „Entlügen“ der Geschichte gelingen können.

Die Forderung, gemeinsam die Geschichte zu „entlügen“, ist seit Jahrzehnten prägend für zivilgesellschaftliche Dialoge zwischen Deutschland und seinen ostmitteleuropäischen Nachbarn. Dies gilt, seitdem das bedeutungsgleiche Schlagwort „odkłamanie“ in der Oppositionsbewegung während der Zeiten der Volksrepublik aufkam, insbesondere für Polen. Aufgrund der (geschichts)politischen Rahmenbedingungen östlich der Oder gelingt dort das „Entlügen“ der eigenen Geschichte mit Blick auf die Ereignisse im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung der Deutschen am und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den vergangenen Jahren jedoch nicht in gleicher Weise, wie dies in Tschechien zu beobachten ist. Prominentestes Beispiel hierfür ist der – auch über einschlägig interessierte Kreise hinaus bekannte – Gedenkmarsch, mit dem die Stadt Brünn seit 2015 jährlich des Brünner Todesmarsches gedenkt. Ein weiteres Zeugnis dieser Entwicklungen ist das im vergangenen Jahr erschienene Buch „Was geschah in Saaz und Postelberg im Juni 1945? Geheime Dokumente und Zeitzeugenberichte enthüllen das Unfassbare“ von Andreas Kalckhoff.

Es befasst sich mit dem Massaker, das in den ersten Juni-Tagen des Jahres 1945 im nordböhmischen Postelberg an 763 deutschen Zivilisten – Männern, Frauen und Kindern – verübt wurde. Die Opfer stammten hauptsächlich aus Saaz und waren im Rahmen der Vertreibungsmaßnahmen nach Postelberg verschleppt worden. Zunächst zwei Jahre später von einer tschechischem Parlamentskommission untersucht, wurde das Massaker in den Jahren der kommunistischen Gewaltherrschaft tabuisiert. Erst mehrere Jahre nach der Demokratisierung Tschechiens wurden die – inzwischen verstorbenen und juristisch nicht zur Rechenschaft gezogenen – Verantwortlichen ermittelt. Sowohl in der deutschen als auch in der tschechischen Medienöffentlichkeit fand das historische Verbrechen gleichwohl große Aufmerksamkeit. Dies dokumentiert das Buch ebenso wie Quelletexte, Berichte von Zeitzeugen und umfangreiches Bildmaterial.

Mit dem nun erschienenen Band werden einer breiten Öffentlichkeit die Forschungsergebnisse des Autors Andreas Kalckhoff zugänglich gemacht, die 2013 unter dem Titel „Versöhnung und Wahrheit. Der ‚Fall Postelberg‘ und seine Bewältigung 1945-2010“ durch den Heimatkreis Saaz herausgegeben worden waren. Die nun erschienene neubearbeitete Dokumentation bietet die Texte sowohl deutschsprachig als auch in einem von Otokar Löbl und Petr Šimáček übersetzten und redigierten tschechischen Teil (bzw. im tschechischen Original). Durch diese strikte Zweisprachigkeit erhält das Anliegen der historischen Wahrhaftigkeit eine besondere Überzeugungskraft, da das Buch so in die erinnerungskulturellen Diskurse sowohl des deutschen als auch des tschechichen Sprachraums hineinzuwirken und dort Diskussionen anzuregen vermag. Faszinierend an dem Buch ist das von ihm eröffnete und fruchtbar gemachte Spannungsfeld, das dadurch entsteht, dass dreierlei miteinander ins Gespräch gebracht wird: staatliche tschechische Quellen, Berichte Überlebender sowie Dokumente der Aufarbeitung und Verständigung in den vergangenen Jahrzehnten.

In seinem Vorwort arbeitet der tschechische Publizist Jiří Padevět die Tragweite der historischen Ereignisse sowie die inneren Wiedersprüche heraus, die beim Umgangs mit ihnen in den folgenden Jahren deutlich geworden sind:

„In Postelberg ging es weder um den Ausbruch des Volkszorns noch um Hinrichtungen, die ein Gericht angeordnet hatte, sondern um Morde, ausgeführt durch Armeeangehörige. Um Morde, zu denen Offiziere Befehle erteilen mussten. Es ist paradox, dass derselbe Staat, dem diese Offiziere unterstanden, die Umstände des Massakers zwei Jahre später zu untersuchen begann und die sterblichen Überreste der Opfer exhumieren ließ. Bemühungen um [eine] Erklärung für das Geschehene, das wir in der heutigen Terminologie unzweifelhaft als ethnische Säuberung bezeichnen würden, wurden im Februar 1948 mit der Machtübernahme durch die Kommunisten beendet. Über den Toten und den Mördern aus Postelberg schlossen sich die Wasser des Vergessens und wurden vom allumfassenden kommunistischen Schlamm des Schweigens aufgesaugt.“

Der erste und umfangreichste Teil – „‚Tatsächliche Gräueltaten‘: Die Massenexekutionen nach Kriegsende im Mai / Juni 1945“ – stellt sechs Quellentexte aus dem Kontext der innertschechisches Ermittlungen zu den Vorkommnissen in Saaz und Postelberg ins Zentrum. Deren Mehrheit steht im Zusammenhang mit der parlamentarischen Untersuchung im Juli des Jahres 1947. Das früheste dieser Dokumente ist ein Bericht zum polizeilichen wie nachrichtendienstlichen Kenntnisstand über die Ereignisse für Innenminister Václav Nosek vom 2. Juli 1947. Auf den 28. Juli datiert ist wiederum ein „Vorbericht zum Fall Postelberg und Saaz“, welcher der parlamentarischen Untersuchungskommission bei ihren am 30. und 31. des Monats durchgeführten Verhören vorlag. Dabei ist der Begriff „parlamentarisch“ irreführend, insofern sich die Kommission „aus fünf Abgeordneten aus den Fraktionen der Volksfrontregierung, sechs Beratern aus den Ministerien und von der Volkspolizei sowie drei Geheimdienstleuten zusammensetzte“. Die unter Vorsitz von Dr. Bohuslav Bunža durchgeführten Verhöre sind in der Langfassung des stenographischen Protokolls dokumentiert. In Auszügen eröffnet das Buch – als viertes Dokument – Einblicke in das auf dessen Grundlage erstellte „Aussageprotokoll der Parlamentskommission“, das die einzelnen Aussagen zusammenfasst.

Neben den die parlamentarische Untersuchung dokumentierenden Texten steht zum einen ein am 13. August desselben Jahres an das Innenministerium ergangener Untersuchungsbericht zu den „Nachrevolutionsereignissen in Postelberg“. Zum anderen bietet die Dokumentation das Protokoll eines vier Jahre später – am 2. Mai 1951 – geführten Verhörs mit Vasil Kiš, das die Rolle von General Bedřich Reicin und Leutnant Jan Čubka beim Massaker von Postelberg beleuchtete: Letzterer – so der Zeuge – habe die Massenhinrichtungen befohlen und selbst durchgeführt, Ersterer habe von Ihnen Kenntnis gehabt. Beigegeben sind den Dokumenten einführende Aufsätze von Peter Klepsch und Herbert Voitl, von dem überdies zusätzliche kommentierende und kontextualisierende Texte stammen. Mit den Texten dieser beiden Autoren, die der Ermordung in Postelberg entgingen, dokumentiert Kalckhoff zugleich die Aufarbeitung des Massakers seitens der organisierten deutschen Heimatvertriebenen, was das von ihm aufgespannte Panorama um eine weitere Facette ergänzt.

Umso mehr gilt dies für das Mittel- und (so wird man zurecht sagen dürfen) Herzstück der Dokumentation, kommen hier doch die Opfer – Überlebende des Massakers – zu Wort: neben acht Saazern sind dies vier weitere Deutschböhmen aus dem Kreis Aussig. Während einer der Berichte – von Ottokar Kremen – nur fünf Jahre nach dem Massaker entstand, wurden die elf weiteren Berichte erst in den 2000er-Jahren, also mit einem größeren zeitlichen Abstand zu den Ereignissen aufgezeichnet bzw. verschriftet. Ergänzt werden die zwölf namentlich autorisierten Berichte um einen anonymen Text, der die Ermordung des Saazer Kapuzinerpaters Maximilian Hilbert am 7. Juni 1945 thematisiert. In seiner Vorbemerkung betont Kalckhoff den gewandelten Stellenwert, der den Zeitzeugenberichten –  dem zuvor einzigen und überdies aufgrund seines emotionalen und teils politisch aufgeladenen Charakters misstrauisch betrachteten Zeugnis der Ereignisse – durch die Auffindung und Publizierung der im ersten Teil dokumentierten Akten zukommt: „Sie sind nicht mehr umstrittene historische Primärquellen, denen man mit gemischten Gefühlen begegnet, weil ihre Behauptungen unbewiesen sind, sondern bildhafte und emotional bewegende Lebenszeugnisse, die nüchterne Akten farbig illustrieren – wenn auch auf schreckliche Weise.“ In ganz anderer, aber ebenso schrecklicher Weise leistet dies auch die – den zweiten Teil abschließende – Liste der Todesopfer im Saazer Land nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Hierbei bleibt Kalckhoff jedoch nicht stehen. Vielmehr stellt er, wie eingangs bereits erwähnt, den ersten beiden einen dritten Hauptteil zur Seite: „‚Diese Erniedrigung des Menschen‘: Scham, Gedenken und Versöhnung“. Hier kommt der Prozess des „Entlügens“ und der Versöhnung durch Wahrheit anhand der Jahre 1995 bis 2010 selbst explizit in den Blick. Dieser begann im Oktober 1995 mit der Veröffentlichung eines zweiteiligen umfangreichen Beitrags zum Massaker in der Zeitung „Svoboný HLAS“ und führte über vielfältige deutsch-tschechische Begegnungen – und immer wieder auch gegen Widerstände – bis zur Enthüllung einer Gedenktafel für die Opfer am 6. Juni 2010 in Postelberg. Man mag es bedauern, dass die Neuauflage der Dokumentation von Kalckhoff nicht genutzt wurde, um den letzten Hauptteil um Zeugnisse aus dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu ergänzen. Diese Lücke zur Gegenwart hin wird jedoch zumindest teilweise durch eine als „Nachlese“ in das Buch aufgenommene Reportage des tschechischen Historikers Jan Novotný aus dem Jahre 2017 geschlossen, der anlässlich des politisch fragwürdigen Abrisses der Postelberger Reiterkaserne, des Tatorts des Massakers, einen durchaus kritischen Blick auf den gegenwärtigen Stand des Postelberg-Gedenkens wirft: „An dem Ort, an dem Hunderte von Sudetendeutschen vor ihrem Tod konzentriert wurden und an dem sich nach Aussagen einiger Zeugen noch immer die Gräber der Opfer befinden, werden Familienhäuser mit Gärten stehen.“ Angesichts derartiger Entwicklungen zeigt sich die besondere Bedeutung von aktiven Prozessen des „Entlügens“ der Geschichte und einer daran anknüpfenden, auf Versöhnung zielenden Erinnerungsarbeit. Dokumentationen wie diejenige von Andreas Kalckhoff können hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten und Anregung geben – nicht zuletzt auch für entsprechende Initiativen in Polen.

Tilman Asmus Fischer

Andreas Kalckhoff, Was geschah in Saaz und Postelberg im Juni 1945? Geheime Dokumente und Zeitzeugenberichte enthüllen das Unfassbare / Co se stalo v Žatci a Postoloprtech v červnu 1945? Tajné dokumenty a svědecké odhalují nesrozumitelné události, Leipzig 2022, 529 Seiten, 49,80 Euro. ISBN 978-3-00-070731-5

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 3/2023.