Sich Kirche wieder angewöhnen

In seinem neuen Buch diskutiert Michael Meyer-Blanck theologischen Grundfragen der Kirche. Der emeritierte evangelische Professor für Praktische Theologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn spricht im Interview mit Tilman A. Fischer über Herausforderungen für die Kirche angesichts der Corona-Pandemie und des „Synodalen Weges“.

Herr Meyer-Blanck, haben die Erfahrungen der zurückliegenden drei Jahre Corona-Pandemie Ihr Nachdenken über die Kirche verändert?

Es ist nochmal sehr deutlich geworden, was bei mir auch eine Leitthese ist: Kirche – insbesondere evangelische Kirche – ist Kommunikation. Sie ist auch Institution und Organisation, vor allem aber Inszenierung und Kommunikation. Kommunikation gibt es zum einen unter Anwesenden – Niklas Luhmann nennt das dann Interaktion; zum anderen funktioniert sie auch medial, heute vor allem elektronisch. Der Glaube ist nichts, was man nur durch Anschauung oder gedankliches Mitvollziehen für sich zum Klingen bringen kann. Sondern man ist immer angewiesen auf andere, seien die nun an Bildschirmen oder mit einem physisch zusammen. Vor allem im Lockdown ist deutlich geworden, wie sehr man sich sehnt nach Interaktion, also nach Kommunikation unter Anwesenden.

Wie haben diese Erfahrungen die Kirche verändert?

Es ist ein Paradoxon: Man sehnt sich nach Interaktion und gewöhnt sie sich gleichzeitig ab. Vielfach sind die Gottesdienstbesucherzahlen nun im dritten Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie – nachdem Interaktion wieder möglich ist – nicht wieder auf dem Niveau wie vorher. Das ist ein ähnliches Schicksal, wie es die Theater und Opern erlebt haben, die einen teils massiven Rückgang an Besuchern zu verzeichnen haben. Ich hoffe, dass wir wieder auf den alten Stand kommen oder sogar auf einen besseren: Jetzt können wir endlich wieder die Liturgie feiern, uns in den Kreisen und Chören treffen. Das alles kommt hoffentlich wieder und wird noch mehr genossen als vorher. Viele Menschen haben sich die Kirche abgewöhnt – und sie gewöhnen sie sich hoffentlich wieder an.

Was können Gemeinden tun, um es Menschen zu erleichtern, sich Kirche wieder anzugewöhnen?

Einladende Kirche sein, jedem das Gefühl geben: Er und sie ist wichtig, willkommen, wird als Person wahrgenommen und wertgeschätzt. Das ist das große Geheimnis gelingender Gemeindearbeit: „Du bist hier willkommen, Du bist wichtig, durch Dich hat die Gemeinde einen wichtigen Zuwachs an Fähigkeiten oder an Spaß und Freude!“ Dabei müssen die Leute einzeln wieder zurückgewonnen werden, wenn sie sich von der Kirche so weit entwöhnt haben, dass es kaum noch Berührungen gibt.

Die Pandemie betraf Kirchen aller Konfessionen – vor allem katholische Geschwister waren zugleich von den Auseinandersetzungen um den „Synodalen Weg“ und die mit dem Reform-Diskurs verquickten Skandale um Missbrauchsfälle betroffen. Macht und Sexualität ist auch ein Thema Ihres Buches. Wie stellt es sich aus evangelischer Perspektive dar?

Sexualisierte Gewalt ist auf jeden Fall ein Problem – nicht nur für die katholische Kirche, sondern auch für die evangelische. Es ist nichts Schlimmeres denkbar, als wenn ein Pädagoge, der Kinder und Jugendliche fördern soll, Kindern Gewalt antut und sie missbraucht. Das ist ein performativer Selbstwiderspruch. Das ist genauso schlimm in der evangelischen Kirche wie in der katholischen – auch wenn die Fallzahl vielleicht geringer ist. Umso schlimmer ist dann jeder einzelne Fall und jeder einzelne Fall muss strafrechtlich verfolgt und, was das Gedächtnis der Gemeinde angeht, offen bearbeitet werden. Fälle gibt es jedenfalls auch in der evangelischen Kirche.

Was tut in Sachen kirchlicher Aufarbeitung evangelischerseits Not?

Die EKD muss vor allem zeigen, dass sie bei diesem Thema „an Deck“ ist, dass sie wachsam ist und die Entwicklungen verfolgt, durch empirische Untersuchungen und Studien die Sache aus der Vogelperspektive begleitet, während die Gemeinden und Landeskirchen in ihren Bereichen für Aufklärung zu sorgen haben.

Lassen Sie uns zuletzt nochmal auf die Lage der katholischen Christen zurückkommen: Wie bewerten Sie die Resultate des „Synodalen Weges“ in Deutschland – und die Perspektive ihrer Umsetzung?

Mutig, ich hoffe, mutig genug, ich hoffe, so mutig, dass tatsächlich etwas passiert. Man hat einen langen Weg des Abwägens gewählt und man kann ja sagen: Demokratie ist, wenn keiner zufrieden ist. Und insofern ist das doch ein demokratisches Stück Wegs gewesen, den der Synodale Weg gegangen ist. Insbesondere das Predigen von Frauen in der Messe, die Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren und die Forderung nach Öffnung der Ämter sind Dinge, die mit der gegenwärtigen katholischen Praxis in Widerspruch stehen, aber nun keineswegs mehr völlig unmöglich sind. Insofern hoffe ich, dass das ein kleiner Stein im Mosaik „Reform der katholischen Kirche“ ist.

Zum Weiterlesen: Michael Meyer-Blank, Kirche. Reihe Theologische Bibliothek. Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen 2022, 345 Seiten, 39 Euro.

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 22/2023.

Zwischen den „Ordnungen der Dinge“

Auf der Suche nach Interpretamenten zur Krisendeutung bringt Martina Kumlehn den protestantischen Theologen Friedrich D. E. Schleiermacher ins Spiel. Ein Interview.

Folgt man dem Soziologen Armin Nassehi leben wir in einer – angesichts gegenwärtiger Krisenerscheinungen – „überforderten Gesellschaft“. Mag dies ein Phänomen der Postmoderne sein, so lohnt sich auf der Suche nach Interpretamenten zur Krisendeutung auch der Blick in die Religionsgeschichte der Aufklärungszeit. Martina Kumlehn, Professorin für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock, bringt im Interview mit Tilman A. Fischer den protestantischen Theologen Friedrich D. E. Schleiermacher als modernen Krisendeuter ins Spiel. Über „Schleiermacher im Spiegel des modernen Krisenbewusstseins“ hielt Kumlehn am 30. November die diesjährige Schleiermacher-Lecture des Instituts zur Erforschung moderner Religionskulturen an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

Frau Kumlehn, warum lohnt es sich angesichts unserer krisengeschüttelten Gegenwart Schleiermacher zu lesen? Haben wir angesichts der Herausforderungen der Postmoderne nicht Besseres zu tun, als Texte des 19. Jahrhunderts zu lesen?

Auch im 18. und 19. Jahrhundert gab es politische Umwälzungen, Krieg und Seuchen. Gewiss: Im Sog der Spätmoderne überlagern sich durch die technologischen Entwicklungen, die globalen Verflechtungen, die Digitalisierung und die ökologischen Risiken hyperkomplexe Krisenszenarien. Aber neben den neuen Herausforderungen sind es doch paradoxerweise gerade die Erfahrungen der Pandemie, der Naturkatastrophen und des Kriegs, die das Gefühl der Entsicherung, der Fragilität und Verletzlichkeit trotz aller Sicherungsmaßnahmen und Fortschrittsverheißungen der Moderne wieder massiv verstärken und Verlustängste schüren. Von daher lohnt sich auch ein historisch kundiger Blick in die Vergangenheit, um die Erfahrungs- und Deutungshorizonte in Analogie und Differenz in ein kritisches Verhältnis zu setzen.

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Was die Sprache enthüllt

Ein aktueller Band vereint zeitkritische Essays über Identität, Politik und Religion

Von Tilman Asmus Fischer

Seit 2015 eröffnet die Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden (StGO) mit ihrer Schriftenreihe „Georgiana“ – so der Untertitel – „neue theologische Perspektiven“. Zunächst herausgegeben vom Gründer der Bruderschaft, Ulrich Schacht, und ihrem heutigem Großkomtur, Thomas A. Seidel, wird sie nach Schachts Tod von Seidel gemeinsam mit dem Publizisten Sebastian Kleinschmidt fortgeführt. Mit Sprache im Spannungsfeld von Politik und Religion nimmt sich der heuer erschienene siebente Band eines tatsächlich äußerst brisanten Themas an. Die in den meisten Beiträgen dominierende Kritik an gegenwärtigen identitätspolitisch motivierten Versuchen von ‚Sprachreformen‘ ist zwar in der großen Linie ebenso berechtigt wie genau besehen nicht neu. Jedoch ergeben sich tatsächlich neue Perspektiven, indem durch die Gesamtheit der Aufsätze der virulente Streit um die Sprache in einen größeren Zusammenhang eingeordnet wird. Grundlage des Buches sind die Vorträge des LIX. Konvents der StGO im Oktober 2020 im Erfurter Augustinerkloster.

Es trägt durchaus zum Gehalt des Bandes bei, dass er dem Aufsatz von Annette Weidhas, Programm- und Verlagsleiterin der Evangelischen Verlagsanstalt, fast ein Drittel des Umfangs einräumt. Denn ihre Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Identitätspolitiken ist differenzierter als es der polemische Titel („Das Virus der Identitätspolitik“) erwarten lässt – aber gerade deshalb besonders prägnant. Aus gesellschaftswissenschaftlicher, philosophischer und vor allem auch theologischer Perspektive gelingt es ihr, die „Gendersprache“ als „Signum eines neuen Irrationalismus“ auszuweisen.

Leider erreichen nicht alle der weiteren Beiträge das argumentative Niveau von Weidhas. Dies hat seinen Grund auch an teils ambivalenten Zungenschlägen, derer sich einzelne Autoren befleißigen. So wird etwa nicht abschließend ersichtlich, weshalb sich der Schriftsteller Klaus-Rüdiger Mai in seiner Abhandlung über „Sprache der Gewalt – Gewalt der Sprache“ zu einer expliziten Apologie der AfD genötigt sieht, wenn er festhält: „Das Problem entsteht nicht da, wo eine Opposition die Regierung ‚jagen‘ will, wie oft wurde das in der Geschichte des Parlamentarismus bereits angedroht, sondern dort, wo bestimmte politische Gruppen so etwas äußern dürfen und andere nicht.“

Angesichts versprengter Indizien einer gewissen Kulturkampfmentalität in der Auseinandersetzung mit identitätspolitischen Trends mag man aus vollem Herzen Harald Seubert, Professor für Philosophie und Fachbereichsleitung für Missions und Religionswissenschaft an der Staatsunabhängigen Theologische Hochschule Basel, zustimmen. Dieser mahnt in seinen Erwägungen zum „Logos Europas“ auch „ein Wort gegen die Verhärtungen derjenigen“ an, „die die Political Correctnesses und Sprechverbote mit einem gewissen Recht anklagen, aber selbst das Logon didonai: das kluge wechselseitige Rechenschaft-Geben, versagen und sich in Ideologien verhärten.

Ganz in diesem Sinne ist es zu begrüßen, dass sich das Buch letztlich nicht in der populären wie leicht skandalisierbaren Frage der Gendersprache ‚verbeißt‘. Vielmehr bedenken einige der Beiträge tiefergehend den Logos-Begriff, wie er unter Aufgriff des Johannesevangeliums auch den Titel des Bandes regiert, andere bieten Zugänge zu relevanten Fragen und Aspekten von Sprache in gegenwartskulturellen, ethischen und nicht zuletzt kirchlichen Hinsichten. Einen Sonderstatus nimmt dabei der Essay „Denn ich bin Schrift, und du bist Wunde. Die Sprachen kreuzen sich“ des gebürtig aus Sri Lanka stammenden Berliner Schriftstellers Senthuran Varatharajah ein, der sich in ergreifender Weise mit der Bedeutung von Sprache im Kontext seiner – mit der Integration in Deutschland einhergehenden – Begegnung mit dem Christentum und der biblischen Offenbarung auseinandersetzt.

Neben dem bereits erwähnten Beitrag Seuberts ist es vor allem der japanisch-deutsche katholische Theologe und frühere Jesuit Michael Daishiro Nakajima, der sich mit dem Logos-Begriff auseinandersetzt, indem er „Wort und Liebe“ als „Grundoffenbarungen des göttlichen Seins“ thematisiert. Von besonderer Relevanz für sozialethische Zusammenhänge ist der Beitrag „Cur homo sapiens non deus“ von Jobst Landgrebe, der gewissermaßen an den „Georgiana“-Vorgängerband anknüpft (Coram Deo versus Homo Deus. Christliche Humanität statt Selbstvergottung, 2022). Überzeugend arbeitet der selbständige Unternehmer für Künstliche Intelligenz heraus, warum Maschinen im Sinne menschlicher Sprache „niemals sprechen werden“; damit bietet er wesentliche Argumentationen gegen Gehalt und Begründung trans- und posthumanistischer Zukunftsszenarien.

Wie steht es zuletzt um die Kirchen – bzw. konkret die evangelischen Kirchen – und ihre Sprachfähigkeit in der Gegenwart? René Nehring, engagierter protestantischer Laie und Chefredakteur der Preußischen Allgemeinen Zeitung, bietet mit „Verkümmerte Botschaft. Anmerkungen zur Krise der evangelischen Kirche und ihrer Sprache“ ein (nicht wirklich überraschendes, aber durchaus bedenkenswertes) Zeugnis des Unbehagens heutiger konservativer Protestanden mit ihrer Kirche.

Leider vermag Christoph Meyns, Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig, in seinen Ausführungen nicht wirklich weiterführende Perspektiven aufzuzeigen („Im Anfang war das Wort. Das Wort Gottes in der Spannung zwischen dem Auftrag der Kirche und der Dynamik des öffentlichen Raumes“). Nach feinsinnigen Reflexionen über seine eigene religiöse Sozialisation und Erfahrungen mit außereuropäischen Frömmigkeitskulturen bietet sein Vortrag leider vor allem Allgemeinplätze über aktuelle Lage und Herausforderungen kirchlicher Publizistik.

Thomas A. Seidel u. Sebastian Kleinschmidt (Hrsgg.): Im Anfang war das Wort. Sprache, Politik, Religion (Georgiana. Neue theologische Perspektiven, Bd. 7). Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2022, EUR 25,–

Tilman Asmus Fischer

Erschienen am 8. Dezember 2022 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Länderporträt Taiwan

Blickwechsel von Tilman Asmus Fischer

Zwei Topoi bestimmten die neue mediale Aufmerksamkeit, die in den vergangenen zwei Jahren der ostasiatischen Inselrepublik Taiwan zukommt: auf der einen Seite eine zumindest über lange Strecken mustergültige Bewältigung der Corona-Pandemie durch Politik und Zivilgesellschaft; auf der anderen Seite das – zuletzt anlässlich des Besuchs von Nancy Pelosi – immer lauter werdende Säbelrasseln der Kommunistischen Partei Chinas, die nach Hongkong lieber gestern als heute die demokratische Republik China, so der offizielle Name Taiwans, der Volksrepublik China einverleiben würde. Was ist dies für ein Land, dessen Gesellschaft für ihre Resilienz bewundert wird, das jedoch weltweit von lediglich 14 Regierungen – darunter leider nicht die deutsche, jedoch der Vatikan – als souveräner Staat anerkannt wird?

Diese Frage stellt sich bei einem Interesse, das über tagespolitisch relevante Schlagzeilen hinausgeht. Wer sie sich stellt, kann so manches lernen über eine Insel mit einem faszinierenden interkulturellen – und in Teilen auch interreligiösen – Erbe, über friedliche politische Transformationen sowie über eine Gesellschaft, die Liberalismus und Traditionsbewusstsein verbindet. Einblicke in dieses breite Themenspektrum eröffnet die unlängst erschienene „Gebrauchsanweisung für Taiwan“ des preisgekrönten deutschen Schriftstellers Stephan Thome. Sie liest sich gleich einer – wenn auch nicht unkritischen – Liebeserklärung an das Land, in das er als Student kam und das ihm – inzwischen mit einer Taiwanerin verheiratet – zur Heimat wurde. Ebenfalls heuer erschien sein Roman „Pflaumenregen“, der die Zeitgeschichte Taiwans literarisch verarbeitenen.

Ein starkes zeitgeschichtliches und erinnerungskulturelles Interesse prägt auch sein Länderporträt – in besonderer Weise mit Blick auf die Diktatur der Nationalen Volkspartei Chinas „Kuomintang“. Diese regierte 1949 bis 1987 unter Kriegsrecht auf Taiwan, wohin sich die Regierung der Republik China zurückzog, als Mao auf dem Festland die Volksrepublik errichtete. An diese Zeit erinnert heute die Gedenkstätte auf Lü Dao – bis 1987 Gefängnisinsel der Kuomintang, anhand derer Thome feinfühlig die Prägekraft der Unterdrückungserfahrungen für das kollektive Gedächtnis und das demokratische Selbstbewusstsein des heutigen Taiwans entfaltet.

Gleichfalls gehört es zu Thomes Handschrift, dass ihr die fachliche Expertise des studierten Sinologen, Philosophen und Religionswissenschaftlers abzuspüren ist. So tut es nicht Wunder, dass just eines der umfangreichsten Kapitel der taiwanischen Religionsgeschichte gewidmet ist. Thome arbeitet heraus, wie gerade die autochthone religiöse Tradition in der Zeit der Unterdrückung durch die japanischen Kolonialherren bis 1945 zu einem wesentlichen Identitätsmarker wurde.

Heute sind vor allem buddhistische Laienorganisationen in der Zivilgesellschaft sichtbar – immer wieder aber auch die christliche Minderheit. Deren Geschichte ist ambivalent, da der 1975 gestorbene Diktator Chiang Kai-shek selbst als Konvertit der methodistischen Kirche angehörte, die ihn stützte. Währenddessen standen Presbyterianer und Katholiken auf der Seite der unterdrückten indigenen Völker, deren Sprache und Kultur sie schützten und die ihrerseits bis heute in der großen Mehrheit Christen sind.

Stephan Thome: Gebrauchsanweisung für Taiwan, Piper, 224 Seiten, ISBN 978-3-492-27745-7; 15,00 Euro

Erschienen in: Glaube + Heimat. Mitteldeutsche Kirchenzeitung 39/2022; unter anderem Titel in: Evangelischer Kirchenbote 40/2022.

Zwischen Kunst und politischem Aktivismus

Die „Berlin Biennale“ regt zu Debatten über globale Krisen, den Kunstbetrieb und die Erlösung an

Von Tilman Asmus Fischer

Im Aufmerksamkeitsschatten 15. Kasseler „Documenta“ zeigt auch die 12. „Berlin Biennale“ gegenwärtig zeitgenössische Kunst mit einem deutlichen postkolonialen Fokus. Kurator der unter dem Motto „Still Present!“ laufenden Ausstellung ist der 1970 als Sohn algerischer Einwanderer in einem Pariser Banlieue geborene Installationskünstler Kader Attia. Dieser vermag sich – aufgrund der eigenen Biografie wie Jahrzehntelanger künstlerischer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Herausforderungen des globalen Südens – in Überzeugender Weise mit den im Zentrum der Ausstellung stehenden „Hinterlassenschaften der Moderne und dem daraus resultierenden planetaren Notstand“ auseinanderzusetzen. Dabei bringt er ein Fingerspitzengefühl mit, dessen Fehlen im Falle des – die „Documenta“ kuratierenden – Künstlerkollektivs „ruangrupa“ schwerwiegende Antisemitismusvorwürfe nach sich zog. Unbeeinträchtigt von derartigen Verwerfungen gelingt es der „Berlin Biennale“, vielfältige künstlerische Positionen zu gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen der Postmoderne zur Geltung kommen zu lassen. Dabei ergeben sich spannende Zugänge, die – teils mir religiösen Bezügen – auf ethische Problemzusammenhänge verweisen. Damit lädt die Biennale den Besucher auf unterschiedliche Weisen zu Reflexion, Kritik und Fragen ein.

Der – zumal durch die aktuelle „Documenta“ für die möglichen Wahlverwandtschaften zwischen Antisemitismus und Israelkritik sensibilisierte – Museumsbesucher wird natürlich wahrnehmen, dass unter den sich auf den Nahost-Konflikt beziehenden Kunstwerken der palästinensisch-arabischen Perspektive das eindeutige Primat zukommt. Dabei erheben die Künstlerinnen und Künstler jedoch konkrete Vorwürfe: Simone Fattals etwa nennt an Palästinensern verübte Massaker; die Videoinstallation von Basel Abbas und Ruanne Abou-Rahme befasst sich mit der Erschießung eines 14-jährigen Palästinensers am 19. März 2014. Indem die einzelnen Künstler derart transparent die Referenzen ihrer Werke benennen, eröffnen sie zugleich Raum zur Überprüfung bzw. Diskussion und flüchten sich nicht in diffuse Verschwörungstheorien. Freilich kann gefragt werden, welches Gesamtbild seitens des Kurators und seiner Kooperationspartner erzeugt wird, wenn einzelne solcher Kunstwerke zusammengetragen und ausgestellt werden, ohne dass der größere Kontext bzw. komplementäre Perspektiven sichtbar werden. Ein Gedankenexperiment: Lawrence Abu Hamdan hat für seinen mehrere Meter langen Farbtintenstrahldruck „Air Conditioning“ statistische Daten über die Verletzung des libanesischen Luftraums durch die israelische Luftwaffe im Verlauf von 15 Jahren von einem Algorithmus in das Bild eines Wolkenhimmels übersetzen lassen: Je höher die Frequenz der Luftraumverletzungen, desto stärker die Bewölkung. Welchen Perspektiven und Fragen ergäben sich, würde man parallel hierzu ein Werk zeigen, das den im selben Zeitverlauf erfolgten, terroristischen Raketenbeschuss auf Israel zum Thema hätte?

Fragen anderer Art wirft eines der vielleicht markantesten Werke der Ausstellung auf – vielmehr sind es gleich 14 Gemälde, mit denen Tammy Nguyen die goldenen Skulpturen eines Kreuzwegs interpretiert, den vietnamesische Flüchtlinge auf der indonesischen Insel Pulau Galang errichteten. Nguyens Gemälde brechen in faszinierender Weise mit den von westlicher Sakralkunst geprägten ästhetischen Gewohnheiten und übersetzen das biblische Geschehen in eine Bildsprache, die vom Reichtum tropischer Natur ebenso zeugt wie von den politischen wie sozialen Verheerungen infolge von Kolonialismus und Kapitalismus. Die Tropen, so die Interpretation des Künstlers „verschlingen […] das Christentum und stellen die Welt mit einer anderen Logik von Figur und Vordergrund neu dar“. Die Deutung der Gemälde als postkoloniale Aneignung des Christentums ist durchaus plausibel – zumal angesichts jener Paradoxie, auf die Nguyen verweist und die darin besteht, dass die Flüchtlinge, die auf Galang den Kreuzweg errichteten, „in ihrem Streben nach Freiheit und Demokratie im Westen durch jene Schrift ermutigt wurden, die mehrere Kolonialkampagnen westlichen Ursprungs begleitet hat“.

Doch drängt sich dem Betrachter die Frage auf, ob das Bild neben der kritischen Deutung der biblischen Geschichte nicht auch – gewollt oder ungewollt – ein Weiteres leistet: die Aktualisierung einer inkarnatorischen Christologie. Für diese gilt, so Gerhard Kardinal Müller: „In der Lehre und im Handeln Jesu gibt es die Einheit zwischen der transzendenten Dimension und der immanenten Dimension des Heils. Auch sein Tod am Kreuz kann in keiner Weise als eine von der Welt losgelöste Frömmigkeit betrachtet werden, die die Schöpfung von der Erlösung trennt. Jesus ist vielmehr am Kreuz gestorben, um die befreiende Liebe Gottes zu zeigen, die die Welt verwandelt.“ Mögen in Nquyens Gemälden die Tropen das Christentum ‚verschlingen‘ – zugleich erweist sein ‚Kreuzweg‘ doch auch Leben, Tod und Auferstehung Jesu als ein nicht fernes, fremdes, sondern im Lebenskotext vietnamesischer Flüchtlinge aktuelles und wirksames Geschehen. Denn – nochmals Müller: „Der Tod Jesu am Kreuz hat die Welt und die Geschichte zu einem Ort gemacht, an dem die Neue Schöpfung erfolgt, beginnend im Hier und Jetzt.“ Was dies konkret bedeuten kann, ist – insbesondere von Vertretern einer Theologie der Befreiung – immer wieder ausbuchstabiert worden. Nguyen sieht die Kreuzigung Christi in seinen Gemälden „verschleiert, so dass die betrachtenden Augen in Bewegung bleiben und in der vertrauten Geschichte zwar einen Sinn suchen, aber weder Trost noch Ruhe finden“. Gewiss, zu Kontemplation und weltentsagender Mystik ruft sein ‚Kreuzweg‘ nicht auf, im Gegenteil – dies aber weniger aufgrund einer Verschleierung der Kreuzigung als vielmehr durch deren überzeugende Aktualisierung.

Fragen nach Weltverantwortung und politischer wie gesellschaftlicher Veränderung provoziert mithin die Mehrheit der in der Biennale versammelten Werke. Auf einer grundsätzlicheren Ebene wird dabei freilich die Wechselbeziehung bzw. Unterscheidbarkeit von Kunst und (weiteren) Formen des politischen Aktivismus thematisch. Einzelne Werke entsprechen in überzeugender Weise künstlerischen und darüberhinausgehenden (etwa politischen) Ansprüchen. Hierzu zählt z. B. Imani Jacqueline Browns Installation „What remains at the ends of the earth?“, die in beklemmender Nüchternheit die Dramatik der industriellen Umweltzerstörung an der Küste Louisianas greifbar macht. Susana Pilar hingegen gibt im Begleittext zur Videodokumentation ihrer Performance „Warming up“ gleich den Anspruch auf, als Künstlerin verstanden werden zu wollen: „Susana Pilar ist keine Künstlerin. Sie ist eine Frau – Schwarz, kubanisch, nicht perfekt und sterblich.“ Kunst erscheint nur noch als ein „Vorwand, eine gut ausgearbeitete Verführungsstrategie“, die es der Künstlerin erlaubt, „sich zu tarnen, um Paradoxien und Widersprüche aufzulösen und sich geschickt von einem Extrem ins andere zu bewegen“. Hier wird das Verständnis von Kunst selbst – und damit auch dasjenige einer Biennale für zeitgenössische Kunst – fraglich.

Die 12. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst ist bis zum 18. September in der Akademie der Künste, dem Museum Hamburger Bahnhof sowie an weiteren Standorten in Berlin zu sehen. Weitere Informationen: https://12.berlinbiennale.de/

Erschienen am 18. August 2022 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Klimakrise – Kulturkrise. Die Bedeutung von Umweltethik und Schöpfungstheologie

Aus der Gesprächsreihe: BRÜCKEN STATT BRÜCHE. Kultur und Nachhaltigkeit (Staffel 3)

Mit Johann Hinrich Claussen und Konrad Ott. Moderation und Konzeption: Lydia Bauer und Tilman Asmus Fischer

Aufgezeichnet am 11. Juli 2022 in der Guardini Galerie, Berlin

„Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewusst seines Daseins erfreut?“, schrieb Goethe in seinem Werk über Winckelmann.

Es sind nicht zuletzt ‚Kulturleistungen‘, die uns vor eine nie dagewesene Herausforderung stellen: Industrialisierung, Mobilität, moderne Landwirtschaft – die Entwicklungen der letzten zwei Jahrhunderte sind menschengemacht, sie sind Kultur, nicht Natur. Dabei hat sich in den vergangenen Jahren der Klimawandel zum Kristallisationspunkt von Debatten um ‚Nachhaltigkeit‘ entwickelt. Wie können wir dafür sorgen, dass unser Planet auch in einigen Jahrhunderten noch bewohnbar sein wird? Warum ist die Natur für uns wichtig? Und inwiefern können die Künste, die Wissenschaften und die Religionen unseren Blick für die Natur wieder öffnen und zur Bewahrung unserer Umwelt beitragen? Inwiefern ist das Naturerlebnis für uns ein existenzielles? Wie und in welcher Form bereichert die Natur unser Leben? Theologisch gewendet: In welchem Sinne könnten Umweltethik und Schöpfungstheologie für die Übergänge in eine nachhaltige Kultur bedeutsam werden?

Das Projekt „Brücken statt Brüche. Kultur und Nachhaltigkeit“ der Guardini Stiftung e.V. wird gefördert durch die Beauftragte der Bunderegierung für Kultur und Medien.

Podcast zum Download

Den Verlust aushalten

Kraut-Kapelle: Christa Jeitner interpretiert die Auferstehung Christi

Von Tilman Asmus Fischer

Fastentuch oder Grabtuch? – Diese Frage mag sich stellen, wer Christa Jeitners Werk „Die Wand ist leer“ in der historischen Kraut-Kapelle in der Berliner Nikolaikirche besichtigt. Wie bereits mehrere Künstler vor ihr war sie eingeladen, sich kreativ mit dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Wandgemälde der Auferstehung auseinanderzusetzen. Boten die zuvor gezeigten Werke jedoch vor allem eigene künstlerische Interpretationen der Auferstehungsthematik – und überwanden sie damit zugleich den Verlust, der in der restaurierten Kapelle durch die weiße Wand an der Stelle des historischen Gemäldes signalisiert wird –, so geht Jeitner einen anderen Weg.

Die Wand ist nicht nur leer – sie bleibt es auch: Die Künstlerin versucht sich nicht an einer Überwindung der Leere und des Verlustes – sie macht vielmehr beide selbst zum Thema und lädt damit auch den Betrachter ein, sich damit auseinanderzusetzen. Dominiert wird ihre Installation von einem leinenen Vorhang, der die Wand in Teilen verhüllt und bei dem sich eben die Frage stellt: Ist er als Anspielung auf Fastentücher zu verstehen, wie sie zwischen Aschermittwoch und Ostern traditionell Hochaltäre verhüllen? Oder legt der historische Ort der zerstörten Auferstehungsdarstellung doch nahe, ihn als Repräsentation des Grabtuches zu deuten, das in der Grabhöhle vom Auferstandenen zeugt?

Es mag gerade die Spannung zwischen diesen beiden Deutungsalternativen sein, die Jeitners Arbeit in besonderer Weise auszeichnet – womöglich gerade auch in den Wochen nach Ostern, indem die Installation mahnt, trotz des Sieges über den Tod den Karfreitag nicht für unbedeutend zu erachten und in seinem theologischen Gehalt zu vernachlässigen. Schmerz, Verlust und Tod mögen nicht das letzte Wort haben, aber sie hallen nach. Daran gemahnt auch der kleine bronzene Korpus des Gekreuzigten, der – gleich von einem Kruzifix gefallen – vor den Füßen des Betrachters in Staub und Asche liegt. Leid und Schmerz hallen aber nicht nur nach im Gedächtnis – dem individuellen wie dem kulturellen – nach; sie dringen selbst immer wieder ins Blickfeld und werden Wirklichkeit. Als Jeitner zehn Jahre alt war endete der Zweite Weltkrieg. Als sie an der Installation arbeitete, brach wieder Krieg in Europa aus. Womöglich steht auch diese Erfahrung hinter „Die Wand ist leer“.

Christa Jeitner, „Die Wand ist leer“, ist bis zum 5. Juli zu sehen im Museum Nikolaikirche, Nikolaikirchplatz, Berlin-Mitte, täglich 10 – 18 Uhr

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 25/2022.

Ein protestantischer Erinnerungsort

Das Theologische Konvikt plant eine Ausstellung zur Geschichte des eigenen Hauses

Von Tilman Asmus Fischer

Als sich der Förderverein „Konvikt Borsigstraße 5“ im Jahre 2018 auflöste, weil sein Vereinszweck – der Erhalt des früheren Sprachenkonvikts und heutigen Theologischen Konvikts – mit der Übernahme der Nutzung durch die Hilfswerksiedlung erfüllt war, übertrug er sein Vermögen auf die neugegründete „Gemeinschaft des Theologischen Konvikt Berlin e.V.“. Dies war mit dem Auftrag der Einrichtung einer öffentlich zugänglichen Ausstellung zur Geschichte des historischen Gebäudekomplexes verbunden. Dieses Vorhaben steht nun bald vor der Vollendung. Ab 2023 soll eine 13teilige Schautafelausstellung im Hof des Konvikts die Geschichte dieses protestantischen Erinnerungsorts dokumentieren.

Die Bedeutung wie die Bedeutungsvielfalt dieses Ortes treten bereits aus der Konzeption hervor: So liegt der Schwerpunkt, dem der zweite Teil der Ausstellung gewidmet ist, auf der kirchen- und zeitgeschichtlich gewichtigsten Epoche – derjenigen des Sprachenkovikts, der staatsunabhängigen kirchlichen Hochschule in den Jahren der SED-Herrschaft. Hier geht es nicht nur um die Aufrechterhaltung eines Raumes freien theologischen Denkens, sondern zugleich um dessen Bedeutung für politisches Engagement aus christlicher Verantwortung. Dies gilt insbesondere für die im Konvikt – unter Beteiligung evangelischer Theologen wie Markus Meckel – vorbereitete Gründung der Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) im Oktober 1989 und das Bündnis „Demokratie Jetzt“, zu dessen Gründern der am Konvikt tätige Kirchenhistoriker Wolfgang Ullmann zählte.

Jedoch geht die Geschichte des Theologischen Konvikts nicht in derjenigen der Opposition gegen die kommunistische Gewaltherrschaft auf. Vielmehr reicht sie zurück in das diakonische Wirken im Berlin der Kaiserzeit. Sie beginnt 1878 mit der Gründung des Waisenhauses „Zoar“, an das sich bald ein Heim für junge alleinstehende Frauen anschloss, die in die Hauptstadt zogen. Dieses Werk war eine der Institutionen, aus denen die Bahnhofsmission in Deutschland hervorging. Zwischen den 1920er und 1950er Jahren waren zwischen der Borsig- und Tieckstraße verschiedene evangelische Institutionen angesiedelt, darunter bereits ein Studentenwohnheim. Studentisches Leben prägt seitdem die gesamte Anlage um die 1898 bis 1900 errichtete Golgathakirche.

Als Kuratorin konnte die Gemeinschaft des Theologischen Konvikt mit der freischaffenden Historikerin Martina Voigt, eine Spezialistin für die Geschichte des Nationalsozialismus mit einem Schwerpunkt auf der Kirche im Dritten Reich, gewinnen. Diese hatte zuletzt im Auftrag der der Landeskirche und der Kirchengemeinde in Kooperation mit der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand den 2020 eröffneten Erinnerungsort für Heinrich Vogel im Pfarrhaus von Dobbrikow gestaltet. Der prominente Vertreter der Bekennenden Kirche war nach Ende des Zweiten Weltkriegs Professor an der Kirchlichen Hochschule Berlin, die ihren Sitz in West-Berlin hatte und als deren Ost-Berliner Außenstelle das Sprachenkonvikt firmierte.

Woran es den Initiatoren gegenwärtig noch mangelt, sind historische Aufnahmen der Innenräume bzw. des Studentenalltags früherer Generationen. „Es wäre schon schön, wenn wir zum Beispiel zeigen könnten, wie ein Studentenzimmer in den 1930er oder 1970er Jahren ausgesehen hat“, so Voigt. Frühere Konviktsbewohner und -bewohnerinnen – oder ihre Nachfahren –, die über Fotografien, Zeichnungen oder andere spannende Dokumente der Hausgeschichte verfügen, sind gebeten, diese dem Konvikt zur Digitalisierung und möglichen Verwendung in der Ausstellung zur Verfügung zu stellen.

Weitere Informationen und Kontakt zum Konvikt: www.theologischeskonvikt.de; Ephorus Pfarrer Dr. Volker Jastrzembski: 030 / 53 64 96 81Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 23/2022.

Gotteshaus als Ort der Lokalgeschichte

In der früheren Kleinmachnower Auferstehungskirche entsteht ein Lokalmuseum. Ein Wochenende mit Interviewfilmen eröffnet zeitgeschichtliche Einblicke

Von Tilman Asmus Fischer

Am Karfreitag des Jahres 2018 war die Kleinmachnower Auferstehungskirche entwidmet worden, nachdem durch zuzugsbedingtes Gemeindewachstum der Umzug in ein neugebautes Gemeindezentrum mit Kirchsaal notwendig geworden war. Fast ein halbes Jahrzehnt später kehrt nun wieder Leben in das zwischenzeitlich durch die Kommune erworbene Baudenkmal ein: Auf einen letztjährigen Beschluss der Gemeindevertretung hin entsteht ein Kleinmachnow-Museum. Hiermit entspricht die Politik einem jahrzehntelangen Wunsch aus der Zivilgesellschaft, den bereits seit den 1990er Jahren der Heimat- und Kulturverein Kleinmachnow artikuliert hatte und dessen sich in den vergangenen Jahren zudem die Museumsinitiative Kleinmachnow angenommen hatte. Dritte im Boot ist die Aktionsgruppe Stolpersteine Kleinmachnow. Alle drei Vereine haben ihren Sitz im früheren Gotteshaus im Jägerstieg, wo sie zudem die fortgesetzte Beteiligung der Zivilgesellschaft an dem von der Gemeinde getragenen Museum sicherstellen sollen. Gegenwärtig richten sich die Planungen auf den anstehenden denkmalschutzgerechten Umbau – künftig sollen festangestellte Mitarbeiter den Archiv- und Ausstellungsbetrieb sicherstellen. Hans Schimkönig, zweiter Vorsitzender der Museumsinitiative freut sich, dass damit in absehbarer Zeit ein Museum für diesen „spannenden Ort am Rande Berlins“ entsteht: „Kleinmachnow war nicht nur ein bekannter Wohnort der DDR-Elite, sondern auch zahlreicher Intellektueller und Künstler, wie Schriftstellerin Christa Wolff. Die Ereignisse der Zeitgeschichte hatten immer auch Einfluss auf die Gemeinde – nicht zuletzt nach der Wende, als es viele Konflikte zwischen Hausbewohnern und Alteigentümern gab.“

Noch vor dem Umbau können sich Interessierte einen Eindruck von den bisherigen Sammlungsaktivitäten der Initiatoren (und vom historischen Gebäude) machen: So präsentiert vom 11. bis 26. Juni die Ausstellung „Kleinmachnower Orte im Wandel der Zeit“ die ersten Ergebnisse eines Foto-Sammlungsaufrufs. Einen eigenen Beitrag zur Dokumentation der Lokalgeschichte seit den Jahren des Nationalsozialismus leistet Schimkönig selbst durch den Aufbau eines Zeitzeugenfilmarchivs. Der studierte Regisseur und Drehbuchautor hat in den vergangenen Jahren gemeinsam mit Kameramann Marco Casiglieri 24 Interviewfilme von 50 bis 120 Minuten Länge gedreht, in denen je eine Bürgerin bzw. ein Bürger Kleinmachnows zu Wort kommt. „Ziel ist es“, so Schimkönig, „die Menschen ihre Erlebnisse und Perspektiven berichten zu lassen.“ Diese können durchaus in Spannung zueinander stehen, wie sich an den Jahren der DDR zeigt: „Einige haben gelitten, andere haben das System mitgetragen. Alle haben jedoch Ende der 1980er Jahre gemerkt, dass es knirscht – auch die SED-Leute.“ Zur Premiere acht neuer Interviewfilme ist die Öffentlichkeit vom 17. bis 19. Juni im Rahmen eines langen Filmwochenendes in den Jägerstieg eingeladen. Die älteren Filme stehen im Foyer des künftigen Museums auf Tablets zur Verfügung. Es ist dies bereits die zweite Veranstaltung dieses Formats – neben Präsentationen in den Kleinmachnower Kammerspielen.

Einer der Zeitzeugen, die bereits bei einer der früheren Uraufführungen präsentiert worden waren, ist der Naturwissenschaftler Gerhard Casperson, der sich zur Wendezeit in der Bürgerrechtsbewegung und bereits zuvor in der evangelischen Kirchengemeinde engagierte. Mit ihm kommt auch die Kirche als zivilgesellschaftliche Kraft in den Blick – und somit die Heimstatt des künftigen Museums selbst als lokalgeschichtliches Denkmal. Dies nicht nur als Ort der Erinnerung an Treffen der Umweltbewegung, Gemeindeveranstaltungen mit Systemkritikern wie Stefan Heym oder Bürgerversammlungen des Jahres 1989, von denen Casperson zu berichten weiß. Noch heute zeugt in dem Gebäude ein Kunstwerk von der jüngeren Kirchengeschichte: Es handelt sich um ein Kirchenfenster aus Kunstglas. Geschaffen wurde es in den 1980er Jahren von niemand anderem als dem Grafiker Herbert Sander, dem Schöpfer des bekannten Emblems der Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“. Dass im Museum Kleinmachnow das Kunstwerk zu sehen sein und über den Künstler informiert werden wird, versteht sich für die Initiatoren von selbst.

2. Langes Filmwochenende im zukünftigen Museum Kleinmachnow: 17. Juni, 17-22 Uhr u. 18./19. Juni, 11-22 Uhr; Jägerstieg 2, Kleinmachnow; Eintritt frei. Weitere Informationen: https://museumsinitiative-kleinmachnow.de/

In ähnlicher Form erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 22/2022.

Auferstehung Christi und Transzendenz der Natur

Im Sinne einer „experimentellen Denkmalpflege“ lädt das Museum Nikolaikirche Künstler ein, das dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallene Wandgemälde „Auferstehung Christi“ in der Grabkapelle der Familie Kraut an seinem historischen Ort durch eigene Werke zu kommentieren. Gegenwärtig wird im Rahmen der Reihe „Kunstraum Kraut“ das Gemälde „Auferstehung, Wiedergeburt, Vergänglichkeit“ von Johanna Staniczek gezeigt. Tilman A. Fischer sprach mit der Künstlerin und Kurator Albrecht Henkys.

Mit dem „Kunstraum Kraut“ haben Sie, Herr Henkys, Künstlerinnen und Künstler zur Auseinandersetzung mit dem Thema Auferstehung eingeladen, auf die Sie, Frau Staniczek, und Ihre Kollegen sich eingelassen haben. Welche Deutungen sind dabei zustande gekommen?

Staniczek: Es sind ganz unterschiedliche Positionen entstanden. Einige Künstler haben sich – wenn auch mit höchst unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksweisen – explizit auf die ehemalige figurative Darstellung bezogen. Andere, wie ich, haben das nicht gemacht. Wichtig war uns aber allen, dass in der Mitte etwas Besonderes ist, wo in der ehemaligen barocken Wanddarstellung der auferstandene Jesus zu sehen war. Heute überlegt man sich: Was ist das für mich, Auferstehung? Jeder denkt mal darüber nach, wie es weitergeht nach dem Tod – spätestens, wenn die Eltern oder ein teurer Freund verstorben sind. Mein Bild entspringt eher aus einem pantheistischen Glauben. Als erstes sieht man die Auferstehung in der Natur – im Zentrum das Kommen des Lichts, der Sonne. Und so, wie die Natur immer wieder aufersteht, ersteht auch der Mensch auf – auch gefühlsmäßig.

Henkys: Mich hat bewegt, wie die Künstlerinnen und Künstler mit dem Paradoxon der anwesenden Abwesenheit oder der abwesenden Anwesenheit umgegangen sind, was ja hier ganz besonders weit getrieben ist, insofern die Anwesenheit des Auferstandenen gar kein Bildthema ist, sondern als Licht symbolisiert wird. Es ist in den zeitlichen Dimensionen der Kunstgeschichte noch gar nicht so lange her, dass man – im späteren Mittelalter – begonnen hat, Auferstehungsszenen zu malen. Diese Unfasslichkeit ist als Bildthema zuvor eigentlich nicht üblich gewesen. Sicher sind bereits auch vor der Reformation Auferstehungsszenen gemalt worden, aber das Auferstehungsthema so dezidiert bildlich zu fassen, ist eigentlich reformatorisch: Die Überwindung des Todes und der Sünden, das mit Vergebung verbundene Heilsversprechen und die Aussicht auf ein neues, ewiges Leben werden durch die Auferstehung symbolisiert. Von da an wird diese Darstellung dann auch in der Grabmalskunst dominant – und so auch in der Kapelle Kraut. Zuvor – als diese reformationstheologischen Ideen noch nicht im Mittelpunkt standen – hat man sich mit expliziten Darstellungen der Auferstehung eher zurückgehalten und diese vor allem durch Pflanzen symbolisiert.

„Auferstehung, Wiedergeburt, Vergänglichkeit“ von Johanna Staniczek

Pflanzen- und Naturelemente sind auch für Ihr Gemälde bedeutend, Frau Staniczek. Woher rührt die Motivik des Bildes?

Staniczek: Hinter den Waldmotiven stehen ganz intensive Erfahrungen aus meiner Kindheit auf der schwäbischen Alb. Das eine ist die Schneeschmelze. Das andere die Bäume, die von jeher für Schutz stehen, bei deren Betrachtung ich auch an Verstorbene, etwa meinen Vater, denke. Für den Entwurf habe ich auch neben den Bäumen Blumen gewählt, die auf mittelalterliche Mariendarstellungen verweisen. Ebenso steht das Blau  des Himmels, das in der Akelei, der Blume der Gotik vorkommt, für das Blau des Schutzmantels der Maria. Die Akelei wurde als Sieg des Lebens über den Tod gedeutet. Bei der Farbgebung habe ich mich an den Farben in der Kapelle und an Farben im Barock orientiert und so im unteren Bereich ganz bewusst auf Erdfarben reduziert – Ocker, einen rötlichen Braunton, Terra di Siena und Caput mortuum. Im oberen Bereich habe ich auch ausschließlich Naturfarben gewählt und nicht etwa für mittelalterliche Mariendarstellungen typische Ultramarinblau.

Henkys: Ich finde, dass Dein bildnerisches Herangehen ganz stark davon mitgeprägt ist, dass Du Deine Materialien selbst herstellst. Du bist vom ersten Moment des Prozesses wirklich engstens verbunden – und auch erdverbunden, indem Du Erdfarben selber anteigst, Dir die Pastellbrocken backst und so weiter. Die Materialien sind in der Natur entstanden und Du holst sie – bildlich gesprochen – aus der Erde und bringst sie auf das Bild. Das ist bemerkenswert sichtbar.

Wie verhält sich der enge Naturbezug in Ihrer Arbeit zur religiösen Dimension Ihres Gemäldes?

Staniczek: Ich habe immer tiefe Empfindungen, wenn ich in einem sakralen Raum stehe, aber auch, wenn ich im Wald stehe. Der Wald ist für mich nicht zum Joggen da. Das kann man machen, aber da steckt noch viel mehr darin. Die Natur ist unsere Lebensgrundlage: die Pflanzen, die Wälder, die Flüsse, die Erde. Die Umwelt hat immer auch eine transzendente Dimension. Und eine Kunst, in der ich dies erkennen kann, ist für mich das größte.

In ähnlicher Form erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 15/2022.