„Die Opferrolle nicht aus dem historischen Kontext herauslösen“

Als „Opfernationalismus“ deutet der Historiker Jie-Hyun Lim geschichtspolitische Narrative, die sich in den vergangenen Jahrzehnten sowohl in Europa als auch in Asien etabliert haben. Im Interview ordnet er die deutsche Erinnerung an das Kriegsende am 8. Mai ein.

Der Historiker Jie-Hyun Lim ist Professor für Transnationale Geschichte an der Sogang-Universität in Seoul, Südkorea. In diesem Jahr ist sein erstes deutschsprachiges Buch, „Opfernationalismus. Erinnerung und Herrschaft in der postkolonialen Welt“, erschienen.

Herr Lim, in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Buch bieten Sie das Interpretament des „Opfernationalismus“ für die Analyse geschichtspolitischer Diskurse an. Welche Phänomene beschreiben Sie hiermit?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass der ursprüngliche Begriff im Englischen nicht „victim nationalism“, sondern „victimhood nationalism“ lautet. Dieser Unterschied scheint trivial zu sein, ist aber bedeutsam. Es geht nicht um den möglichen Nationalismus der eigentlichen Opfer, sondern um den mnemonischen Nationalismus der nachgeborenen Generation bzw. Generationen. Jedoch befürchte ich, dass die deutsche Übersetzung „Opfernationalismus“ den nuancierten Unterschied zwischen beiden Übersetzungsmöglichkeiten verwischen könnte. Als die polnische Zeitschrift Więź einen meiner Artikel ins Polnische übersetzte, tauschte ich einige E-Mails aus, um eine angemessene Formulierung im Polnischen zu finden. Die endgültige Fassung lautete: „Nationaler Größenwahn der Opfer“. Nicht zufriedenstellend, aber es gab keine andere Möglichkeit. Jede Übersetzung steht vor solchen Herausforderungen. Dabei setzt sich das Übersetungsproblem beim Begriff des „Opfers“ fort.

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Erschienen am 8. Mai 2014 auf cicero.de.

„Er ist Schwabe geblieben“

Albrecht Goes war ein Freund des Judentums und Dichter. Ein neues Buch begibt sich auf Spurensuche nach diesem Autor, der sein Leben zwischen Musik, Dichtung, Politik und Theologie verortete

In seinem jüngsten Buch „Was geschieht, geht Dich an! Annäherung an Albrecht Goes (1908–2000)“ nähert sich der Publizist Jürgen Israel Albrecht Goes. Der evangelische Theologe war Pfarrer in Württemberg, wurde einer größeren deutschen Öffentlichkeit aber vor allem als Schriftsteller bekannt, insbesondere durch seine Erzählungen, die den Zweiten Weltkrieg und die Shoa thematisierten. Über die bleibende Bedeutung der Botschaft seines Werks sprach sprach Tilman Asmus Fischer im Interview mit Jürgen Israel.

Albrecht Goes schreibt 1958 in einem Gedicht, dass zwei Fragen bei der Betrachtung von Werdegängen Gewicht hätten – eine lautet: „wie kühn spannt sich der Bogen, / wie weit voneinander entfernt / werden in der Werdelust der Lehr- und Wanderjahre / die Pflöcke gesetzt.“ Wie weit war der Lebensbogen Albrecht Goes’ gespannt?

Nicht weit. Er wurde 1908 in Langenbeutingen in eine schwäbischen Theologenfamilie hineingeboren, er selbst ist Theologe geworden und geblieben. Nachdem er sich 1953 vom Gemeindepfarramt hatte freistellen lassen, um hauptberuflich als Schriftsteller zu arbeiten, versah er weiterhin einen Predigtauftrag in Stuttgart. Und er ist Schwabe geblieben.

Was bedeutet das Schwäbische in diesem Kontext?

Schwäbisch meint hier nichts Provinzielles, sondern zum einen die Lebensfreude und Heiterkeit der Schwaben. Goes hat viele Bücher über Schwaben geschrieben und er hat sich in der schwäbischen Sprache ausgesprochen wohlgefühlt. Zum anderen aber hat er immer die Welthaltigkeit der schwäbischen Literatur und des schwäbischen Lebens überhaupt betont: Die Dichtungen von Möricke und Hölderlin hatten für ihn nichts Lieblich-Verklärtes, sondern eine existenzielle Dimension.

Diese zunehmende Distanz zu einer lieblichen oder beschaulichen Sprache bezeichnen Sie als „Entwicklung zum Spröden“. Worin liegen deren Ursachen?

Das Spröde kommt bei Goes durch die schreckliche Erfahrung der Shoa und des Zweiten Weltkriegs. Er hat in einem späten Interview den schwäbischen Ausdruck gebraucht, unser Humanismus hätte einen „Treff bekommen“: Der deutsche Humanismus Goethes bis Mörickes hat beide Verbrechen nicht verhindern können; in Deutschland und eben auch in Schwaben hat es keine Gegenkraft gegeben, diese zu verhindern. Durch diese Erfahrung ist sein ganzes Weltbild spröder geworden – und auch seine Sprache.

Wie ist diese Erfahrung in seiner Biografie zu verorten?

Goes war während des Zweiten Weltkriegs Wehrmachtspfarrer in Ungarn und – am prägendsten – in der Ukraine. Einige seiner Novellen spielen in der Ukraine. Er hat aber seine erste Novelle zur Judenverfolgung einem Erlebnis in Ungarn gewidmet. Mit dieser Erzählung „Begegnung in Ungarn“ war Goes 1945 der erste nichtjüdische deutschsprachige Dichter, der sich belletristisch mit der Judenverfolgung auseinandergesetzt hat. Goes war als Humanist entsetzt, dass eine solche Barbarei losbrechen kann und über völlig unschuldige Menschen verfügt wird. Und diese ganze Hilflosigkeit wird in der kleinen Erzählung sichtbar.

Welche Bezüge zum Judentum finden sich über das Erschrecken angesichts der Shoa in Goes‘ Leben?

Er war von Anfang an durch den – politisch für die Liberalen engagierten – Vater geprägt gegen Rassismus, die antisemitisch motivierte Ermordung des Reichsaußenministers Rathenaus hat ihn als Gymnasiasten zutiefst erschüttert. In Berlin studierte er bei Romano Guardini, dessen Theologie ihn zusätzlich gegen den Antisemitismus immunisierte, stand sie doch im Zeichen der Formulierung Pascals: „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen“. Als junger Pfarrer nahm er – kurz vor dessen Vertreibung aus Deutschland – Kontakt mit dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber auf, mit dem ihn seit den 1950er Jahren eine enge Freundschaft verband.

Buber hat sich in seiner „Dialogphilosophie“ intensiv mit der Beziehung vom Ich und Du als Grundlage des Menschseins auseinandergesetzt. Welchen Einfluss hatte dies auf Goes‘ Denken?

Das dialogische Prinzip von Buber hatte er absolut verinnerlicht und bejaht: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Er kannte die „Zwiesprache“ fast auswendig und hat stets betont: Gespräche über jemanden nützen nichts, denn es gibt nur Gespräche mit jemandem. Mit ihm gab es die Möglichkeit eines echten Zwiegesprächs – am liebsten beim Wandern. Zu den Dingen, die er für unverzichtbar hielt, gehörten – neben Mozart – die Freundschaft und ein „feines, kluges Nachtgespräch“, wie Goes einmal über sich schrieb.

Die Beschwörung von Freundschaft und Nachtgespräch klingt freilich angesichts der weltgeschichtlichen Verwerfungen, die Goes ja im Blick hatte, ein wenig passiv.

Zum aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus gehörte Goes tatsächlich nicht. Politisch engagierte er sich erst in der Bundesrepublik: gegen Wiederbewaffnung und Atomwaffen. Aber das dialogische Prinzip steht hinter dem ethischen Programm seines Denkens und seiner Dichtung: „Was geschieht, geht Dich an!“ Was dem Nächsten passiert, passiert mir und ich kann mich nicht aus der Verantwortung für meinen Mitmenschen stehlen. Das ist eine mitmenschliche Haltung, in der sich eine christliche Verantwortung für den Nächsten ausspricht.

Zum Weiterlesen: Jürgen Israel, Was geschieht, geht Dich an! Annäherung an Albrecht Goes (1908–2000), AphorismA Verlag, Berlin 2023, 180 Seiten, 20 Euro. Erzählungen, Gedichte und Essays von Albrecht Goes sind erschienen im S. Fischer Verlag.

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 19/2024.

Katholische Selbstexegese

Die Autorin Felicitas Hoppe erhielt den Berliner Literaturpreis für ihre „Sprachkunst“, die „federleichten Humor mit tiefstem Ernst“ verbindet

Von Tilman A. Fischer

„Ich komme aus einer katholischen Familie von Tag- und Nachtträumern, von schlesischen Vielrednern auf der Flucht, die auch ihre Träume einander nicht vorenthielten; Träume, von denen ich bis heute nicht weiß, ob sie wahr oder erfunden waren, sofern man überhaupt von erfundenen Träumen sprechen kann. Denn wo, wenn nicht im Traum, sind wir der Wahrheit am nächsten?“ Mit diesen Worten stellt sich die 1960 in der katholischen Diaspora in Hameln geborene Schriftstellerin Felicitas Hoppe in ihrem Essay „Das aufgespannte Ohr Gottes“ ihren Lesern vor. Seit Erscheinen der ersten Sammlung von Geschichten Hoppes unter dem Titel „Picknick der Friseure“ 1996 ist sie aus dem deutschen Literaturbetrieb nicht mehr wegzudenken – ganz unabhängig davon, dass sie sich immer wieder aus der hiesigen Betriebsamkeit zurückzieht: in ihre Schweizer Einsiedelei oder 1997 gleich auf ein Frachtschiff, auf dem sie rund um die Welt fuhr.

In den zurückliegenden fast 30 Jahren hat Hoppe eine derartige Prägekraft entwickelt, dass ihr – nachdem sie bereits 2012 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde – heuer der Berliner Literaturpreis zuerkannt wurde, mit dem die Stiftung Preußische Seehandlung dezidiert Schriftsteller ehrt, „deren bisheriges literarisches Schaffen einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur geleistet hat“. Dies begründet die Jury mit Hoppes „Sprachkunst“, die „federleichten Humor mit tiefstem Ernst“ verbinde, „wilde Fabulierlust mit scheuem Interesse an einer Welt, die es mit den Menschen häufig nicht gut meint. Am Zustand der Wirklichkeit kann auch Felicitas Hoppes erfindungsreicher Realismus nichts ändern. Der Zauber ihrer Erzählungen aber liegt darin, dass sie uns mit dem Schwung ihrer Texte, dem Takt ihrer Sprache und der Energie ihrer Worte dazu ermuntert, den Mut und die Zuversicht nicht zu verlieren.“

Hierzu schöpft Felicitas Hoppe nicht zuletzt aus den reichen Beständen der christlichen – und bewusst auch katholischen – Tradition, der sie gleichfalls in der ihr typischen Verbindung aus ‚federleichtem Humor‘ und ‚tiefstem Ernst‘ begegnet. Das zeigt sich neben zahlreichen Auseinandersetzungen mit biblischen Stoffen vielleicht vor allem im Umgang mit den ihr besonders lieben Heiligen: Christophorus und noch mehr der Jungfrau von Orléans, der sie 2006 den Roman „Johanna“ widmete. Im Modus literarischen Schreibens vermag Hoppe immer wieder die Grenzen theologischer Orthodoxie zu überschreiten. Dies tut sie jedoch in einer großen Ernsthaftigkeit, insofern diesen Grenzüberschreitungen nichts Blasphemisches anhaftet. Vielmehr bezeugen sie das Bewusstsein sowohl für das Potenzial christlicher Glaubens- und Bildwelten zur Selbst- und Lebensdeutung als auch für die hohe Verantwortung des Schriftstellers im Umgang mit ihnen.

Dabei ist der Rückgriff auf einen christlichen Deutungshorizont kein beliebiger, sondern gründet in biographischen Erfahrungen, auf die Hoppe selbst immer wieder verweist, etwa wenn es um prägende erste Begegnungen mit der Heiligen Schrift geht: „Unsere Mutter las vor, wir zeichneten mit, während unser Vater für das Kaspertheater zuständig war, in dem Texte und Bilder in Szene gesetzt wurden“. Solche Erinnerungen sind nicht akzidentell, sondern entscheidend für Hoppes Zugriff sowohl auf Literatur als auch Religion, denn ihre „ersten Erinnerungen an die Bibel“ sind „eine unmittelbare, intuitive und unzensierte Umsetzung vom Wort in die Zeichnung, also wahrhaft phantastisch, was, der bildungssprachlichen Definition aus dem Duden folgend, bedeutet: ‚Von Illusionen, unerfüllbaren Wunschbildern, oft unklaren Vorstellungen oder Gedanken beherrscht, außerhalb der Wirklichkeit oder im Widerspruch zu ihr stehend‘; die Umgangssprache dagegen kommt den Tatsachen näher, wenn sie das Phantastische mit ‚großartig, begeisternd, unglaublich und ungeheuerlich‘ übersetzt. Von diesen großartigen, begeisternden, unglaublichen und ungeheuerlichen Geschichten ernähre ich mich in meinem Umgang mit Religion und Literatur bis heute.“

So intensiv wie bei nur wenigen anderen zeitgenössischen Schriftstellern bestätigt sich im Werk von Felicitas Hoppe somit die Beobachtung des Literaturwissenschaftlers Thomas Pittrof zum ‚Katholischen‘ in der Gegenwartsliteratur – die grundsätzlich auch für das ‚Christliche‘ in der Gegenwartsliteratur Geltung beanspruchen kann: „Vor allem in autobiographischen Zeugnissen wird das Katholische wieder erinnert, auch an überraschender Stelle, ohne dass es damit eigentlich immer bewahrt und weitergetragen werden wollte; aber als prägender Faktor des eigenen Lebensgangs ist es in wenngleich unterschiedlicher Intensität doch gegenwärtig“. Damit stehe dem „Prägnanzverlust eines ungebrochen katholischen Weltbildes“ ein „Prägnanzgewinn lebensweltlich dichter Milieubeschreibungen gegenüber, bei denen neben den belastenden Erfahrungen mit Religion im Umfeld einer katholischen Kindheit und Jugend auch deren entlastende und bereichernde Dimensionen zur Sprache kommen“. Als Beispiel für letzte Beobachtung mag Hoppen bereits eingangs zitierter Essay gelten, in dem sie sich mit ihrem eigenen Beichtgang vor der Frühkommunion auseinandersetzt.

Hoppes Werke sind insofern zugleich große Literatur und Gesprächspartner zur Fragen nach der gelebten Religion in der Gegenwart; dabei seien beide Merkmale als einander bedingend verstanden. In ihrem Œuvre verbindet sich – wie der Religionsphilosoph Thomas Brose in seinem Essay zu einem Sammelband von Texten Hoppes betont – das „Lebensweltlich-Katholische […] mit dem Hang zur Selbstexegese“ sowie einem „Spieltrieb“, der auch vor biblischen wie christentumsgeschichtlichen und theologischen Motiven nicht Halt macht.  Insofern lädt die Auseinandersetzung mit Hoppe zu Reflexionen über theologisch relevante Prozesse der Selbstdeutung im Modus der Literatur ein und eröffnet ferner (teils überraschende und gerade dann) anregende Perspektiven auf die christlichen Traditionsbestände.

Leser und Autor sind für Hoppe auf Religion und Literatur angewiesen, um sich selbst verstehen zu können und Lebenszuversicht zu gewinnen. Nicht umsonst stellt sie ihrem jüngsten Roman „Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm“ (2022) als Motto voran: „Nur Helden fürchten sich nie, deshalb schreiben sie keine Bücher“. Welch ein Glück für uns, ihre Leser, dass Felicitas Hoppe keine Heldin ist und folglich Bücher schreibt!

Zum Weiterlesen (von Felicitas Hoppe):
Gedankenspiele über die Sehnsucht, Graz 2022; 48 Seiten, ISBN 9783990591093, € 12,00.
Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm, Frankfurt a.M. 2021; 256 Seiten, ISBN 9783100324580, € 22,00.
Fährmann, hol über! Oder wie man das Johannesevangelium pfeift. Mit einem Essay von Thomas Brose, Freiburg i.Br. 2021; 160 Seiten, ISBN 9783451390388, € 18,00. (Enthält u. a. „Das aufgespannte Ohr Gottes“.)

In ähnlicher Form und unter anderem Titel erschienen am 14. März 2024 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Rheinische Erlösung

Vor 65 Jahren erschien Zuckmayers „Fastnachtsbeichte“

Von Tilman Asmus Fischer

Ferdinand Bäumler, ein desertierter Fremdenlegionär, ist zur Jahreswende 1912/1913 auf dem Weg über Italien ins heimische Rheinland, wo er einst als unehelicher Sohn des reichen Panezza und der Hilfsmagd Bäumler geboren wurde. In Sizilien kehrt er – unter der Vortäuschung, sein Halbbruder Jeanmarie zu sein – bei der vermögenden italienischen Verwandtschaft ein, verlobt sich mit seiner Cousine Viola, um kurzerhand gen Mainz zu verschwinden, nicht ohne zuvor den wertvollen Familienschmuck an sich genommen zu haben. Viola reist ihm verstört hinterher, wiederum begleitet von ihrem Halbbruder Lolfo, seinerseits das Kind aus einer Affäre des gemeinsamen Vaters mit einem Dorfmädchen. In Mainz angekommen erkennt Lolfo den Betrüger wieder, den er vor dem Dom ermordet, in dessen Beichtstuhl der Sterbende zusammenbricht.

An dieser Stelle beginnt die eigentliche Handlung der „Fastnachtsbeichte“ von Carl Zuckmayer. 1959 erschienen und vom Dichter im Mainz seiner eigenen Jugendzeit lokalisiert, ist die Erzählung ein Stück Literatur, das auch nach 65 Jahren nicht an Bedeutung verloren hat, da sie – mehr als nur eine Kriminalgeschichte, die sich vom Tode Ferdinands aus entspinnt – in zeitloser Weise vom Wesen des Menschen und seiner Erlösungsbedürftigkeit spricht. Dies geschieht zum einen in einer karnevalesken Szenerie – die erzählte Zeit reicht vom Fastnachtssamstag bis zum frühen Morgen des Aschermittwoch 1913 –, zum anderen gerahmt und durchzogen vom Moment der Beichte: derjenigen Ferdinands, derjenigen des alten Panezza und derjenigen Violas. Damit bringt Zuckmayer zwei idealtypische Orte – den des Maskenspiels und den der schonungslosen Selbsterkenntnis – in eine produktive Spannung.

Dabei haben wir es in der „Fastnachtsbeichte“ mit einem Maskenspiel auf mehreren Ebenen zu tun. Denn da ist nicht nur auf der Oberfläche das karnevalistische Brauchtum, das – wo recht verstanden – Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach einer Überschreitung, also gewissermaßen einer Transzendierung, der Wirklichkeit ist. Und genau besehen beginnt es auch nicht erst bei dem bereits deutlich problematischeren, da mit betrügerischer Intention geschehenen, Rollenspiel Ferdinands, das den Anlass für die Handlung der Erzählung gibt. Dessen Ursachen liegen bereits in einem Maskenspiel, nämlich dem des alten Panezza, der seinem unehelichen Sohn wirkliche Anerkennung verwehrt und ihn damit letztlich in das prekäre Dasein als Fremdenlegionär treibt, nur um unbeschadet weiter die eigene soziale Rolle als Mitglied der lokalen Honoratiorenschaft spielen zu können.

Dem Maskenspiel im wörtlichen wie metaphorischen Sinne steht der Beichtstuhl bzw. das Beichtgespräch gegenüber, das „aufgespannte Ohr Gottes“, so die Schriftstellerin Felicitas Hoppe: nicht nur ein „Ort der Barmherzigkeit“, sondern auch ein solcher, „für das eigene Leben Wörter zu finden“. Hier – bei Zuckmayer im Gegenüber zum Domkapitular Dr. Henrici – wird der Mensch seiner selbst in seiner Fragmentarität ansichtig: „Ich armer sündiger Mensch“ sind die einzigen Worte, die Ferdinand im Beichtstuhl noch sprechen kann, und im Rückblick ist es Henrici, „als hätte er ihm damit sein Letztes und Geheimstes offenbart und sich ihm ganz anvertraut – sich und alle seine Brüder“. Narrativ ausgestalteter sind die beiden anderen Beichten.

Zu einer solchen wird das Gespräch Henricis mit Panezza, obwohl dieser bittet, dass „es ohne die religiöse Formel geschieht“, weil es ihm eben doch „um eine Gewissensfrage“ geht, „von der meine ganze Existenz abhängt“. Hier bietet der Erzähler einen Dialog, in dem die menschliche Person in einer inneren Spannung sichtbar wird, die bereits im griechischen „prosopon“ anklingt, dessen Bedeutung zwischen Angesicht und Maske changiert. So fragt Panezza, der sinnhafterweise den Prinzen Karneval der Kampagne 1913 mimt: „Kann ich noch weiterhin den Ehrenmann spielen, den Repräsentanten einer moralisch unantastbaren Gesellschaft, den Fürsten des lokalen Frohsinns, den König der Volksfeste, der erlaubten und honorigen Lustbarkeit – mit einem solchen Brandgeschwür am Leib?“

Bei Violas Beichte liegt die theologische Pointe wiederum darin, dass sie auf einen von Jürgen Habermas identifizierten „Verlust“ infolge einer „säkularen Sprache“ aufmerksam macht, die ohne „geglückte Übersetzungen“ religiöser Gehalte auskommen will: „Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“ Während auf der Ebene der Kriminalgeschichte der Fall geklärt ist, indem Lolfo – inzwischen selbst auf tragische wie brutale Weise ums Leben gekommen – als Schuldiger identifiziert wurde, liegt Violas dringend benötigtes Geständnis auf einer tieferen Ebene: „Ich habe ihn nicht getötet […] aber ich habe es gewollt!“ Sie kann bekennen, dieses Wollen niemals Lolfo bekundet zu haben: „,Mit keinem Wort‘, sagte Viola, ,mit keiner Silbe. Aber – ich habe es gedacht.‘ Gedacht – ging es Henrici durch den Sinn, während er versuchte, mit den Worten seines Glaubens ihr Zuspruch und Trost zu geben – gedacht – Wurzel aller Schuld…“

Zuckmayer zeichnet den Menschen coram Deo als Person – zwischen Angesicht und Maske: gezwungen, in der unerlösten Welt, im menschlichen Miteinander Rollen zu spielen, Masken zu tragen, begabt, im Maskenspiel ebendiese Wirklichkeit zu überschreiten; in beidem aber stets gefährdet, die Maske zu missbrauchen, sein Selbst, sein Angesicht vor sich selbst, vor dem Mitmenschen und vor Gott, zu beschädigen. Und eben damit: immer wieder bedürftig der Beichte, dem „Ort, für das eigene Leben Wörter zu finden“, der dann zum „Ort der Barmherzigkeit“ und der Umkehr werden kann.

Erschienen am 8. Februar 2024 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Religion und Mission in Taiwan

Zwischen Himmel und Meer: Eine Anthologie taiwanischer Literaturen erhellt die Rezeption des Christentums

Von Tilman Asmus Fischer

Die Präsidentschaftswahlen am 13. Januar lenken neuerlich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Taiwan – insbesondere aufgrund ihrer Implikationen für die globalen Spannungen zwischen den USA und der Volksrepublik China, der die Republik China (so der offizielle Name Taiwans) als ‚abtrünnige Provinz‘ gilt und die freiheitliche Demokratie auf der Insel ein Dorn im Auge ist. So gut und wichtig jede Aufmerksamkeit ist, die die bedrohte Lage Taiwans in der westlichen Welt findet: die Fokussierung auf die sicherheitspolitische Lage zeitigt die Nebenwirkung, dass Taiwan vor allem als geopolitische Größe in den Blick gerät. Reichtum und Vielfalt seines kulturellen Erbes geraten dabei weitestgehend aus dem Sichtfeld. Umso erfreulicher ist es, dass der Sinologe und Taiwanologe Thilo Diefenbach mit „Zwischen Himmel und Meer“ eine spannende „Anthologie taiwanischer Literaturen“ vorgelegt hat – und diese Ende 2023 auch noch mit dem renommierten Johann‐Friedrich‐von‐Cotta‐Übersetzungspreis der Landeshauptstadt Stuttgart ausgezeichnet wurde.

Zur kulturellen Vielfalt Taiwans – die Diefenbach von mündlichen Überlieferungen bis in der Gegenwartsprosa nachvollzieht – gehört auch diejenige der Religionen. Dabei kommt dem Christentum eine zwar zahlenmäßig geringe, jedoch historisch wie gegenwärtig eigenständige Bedeutung zu. Hiervon legte im Übrigen der Weltgebetstag 2023, dessen Gastgeberland Taiwan war, ein lebendiges Zeugnis ab. Und auch in Diefenbachs Anthologie ist das Christentum in einzelnen Texten präsent. Anhand von vier in diesem Zusammenhang besonders markanten Beiträge, die sämtlich aus dem 20. Jahrhundert stammen, sei hier die für den Zugriff Diefenbachs auf die taiwanischen Literaturen typische Perspektivenvielfalt nachvollzogen.

Sakura Magozo veröffentlichte 1903 als – dem klassischen Sinitisch mächtiger – japanischer Kolonialbeamter seine „Notizen über den Alltag in Taiwan“, aus denen Diefenbach den Auszug „Das Christentum in Taiwan“ auswählt. Interessant sind die kurzen Ausführungen weniger aufgrund der – wie Diefenbach in seinem Kommentar zeigt, vielfach fehlerhaften – Angaben zur Taiwanischen Missionsgeschichte, sondern als Zeugnis eines sich dem kolonialem Blickwinkel verschuldenden funktionalen Religionsverständnisses, das in Christentum und Buddhismus Instrumente zur „Volkserziehung“ erblickt. Einen Eindruck von der literarischen Rezeption der christlichen Religion in Taiwan vermitteln in je eigener Weise das anonym verfasste Gedichte „Ins Nichts“, das 1909 in den „Kirchennachrichten von Tainan“ erschien, sowie die Erzählung „Der Schamanin letzter Tag“ Topas Tamapima aus dem Jahre 1992.

Das Gedicht ist dabei sowohl von seinem Inhalt als auch von seiner textlichen Beschaffenheit her bedeutsam. In erster Hinsicht, insofern die in ihm vorgenommene Thematisierung der Nichtigkeit menschlichen Strebens eine markante Nähe zu alttestamentlichen Weisheitsliteratur aufweist und deren Einsichten religionsproduktiv fruchtbar macht. In zweiter Hinsicht, insofern das Gedicht in Pe̍h-ōe-jī überliefert ist, einem von Missionaren entwickelten lateinischen Umschriftsystems, das in diesem Fall auf das Taiwanesische Anwendung fand. Dieses ist eine vom Mandarin unterschiedene chinesische Sprache, die – neben den Sprachen der Ureinwohner – traditionell in Taiwan gesprochen wird. Damit ist das Gedicht ein Dokument der Wertschätzung, die gerade christliche Kirchen und Missionare den vielfältigen Sprachen der Insel entgegenbrachten. In der Zeit des „Weißen Terrors“ der Kuomintang (KMT), die die Republik China auf Taiwan von 1949 bis 1987 mit Kriegsrecht führte, sollte sich dies als wichtig erweisen: Während die Regierung (unterstützt von Vertretern der methodistischen Kirche, der Langzeit-Präsident Chiang Kai-shek angehörte) eine brutale Sinisierungspolitik durchführte und alles Nicht-Chinesische unterdrückte, waren es insbesondere einzelne Missionare und Kirchen, die sich für die Bewahrung der autochthonen Sprachen einsetzten.

Von der Präsenz der christlichen Religion gerade unter den indigenen Völkern Taiwans vermag sodann auch die Erzählung Tamapimas zu zeugen. Der Sohn einer christlichen Familie aus dem Volk der Bunun setzt seiner Protagonistin als Gegenspieler einen mit feinem – von Sympathie getragenen – Humor gezeichneten Priester gegenüber. Aus der engen Beziehung vieler Kirchen gerade zu den – von der KMT unterdrückten – autochthonen Bürgern Taiwans ergab sich nicht zuletzt eine intensive Verbindung zwischen christlichen Milieus und der Oppositionsbewegung. Und so mag es nicht Wunder tun, dass das systemkritische Gedicht „Friedenstheater“ (1968) mit Tu-P’an Fang-ko gerade von einer dezidiert christlichen Schriftstellerin Feministin verfasst wurde.

Anhand der hier exemplarisch ins Licht gesetzten Beiträge ist nicht nur Religion – von der hier mit dem Christentum nur ein kleiner Ausschnitt gewählt ist – als ein zentrales Thema der taiwanischen Literaturen markiert. Vielmehr dürfte ein weit darüber hinausgehendes zentrales Thema Diefenbachs angeklungen sei: das sich in der Literatur spiegelnde Ringen um eine eigenständige taiwanische Identität in der Pluralität der kulturellen Einflüsse und Sprachen, die die Insel prägten und prägen. Dies – in der Breite der Literaturgeschichte – nachvollzogen zu haben ist in Zeiten, in denen die Eigenständigkeit Taiwans ins gefährlicher Weise in Frage gestellt wird, von nicht zu unterschätzendem Wert.

Thilo Diefenbach (Hrsg.), Zwischen Himmel und Meer. Eine Anthologie taiwanischer Literaturen, München 2022. ISBN 978-3-86205-559-3, 548 Seiten, geb., 11 farbige Abb., EUR 48,–

Erschienen am 11. Januar 2024 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Buchtipp: Grenzgänge

Stefan Seidel (Hg.), Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen, München: Claudius, 2022. 296 S., Klappenbroschur, € 26,00 – ISBN 978-3-532-62880-5

„Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?“ – Die berühmte Frage, die Goethes Gretchen an Faust richtet, hat der Theologe Stefan Seidel in dem Sammelband „Grenzgänge“ aktualisiert, in welchem er ihr mit verschiedenen öffentlichen Intellektuellen unserer Gegenwart nachgeht. Dies tut er vor dem Hintergrund einer doppelten Erschütterung: zum einen angesichts lauter werdender – von innerkirchlichen Skandalen und Skandalisierungen befeuerten – Diskurse um den angeblichen Bedeutungsverlust von Religion (eigentlich vielmehr der christlichen Großkirchen) in unserer Gesellschaft, zum anderen und noch viel mehr angesichts einer Weltlage, die zwischen Pandemie und militärischen Konflikten bzw. Kriegen dem Zeitgenossen in nicht dagewesener Weisen als von Krisen gezeichnet erscheint.

Was bedeutet es – hier grüßt die klassische Theodizee-Frage –, angesichts dieser Gemengelage Gott zu suchen oder gar an ihn zu glauben? Dies erkundet Seidel in Interviews mit seinen – zuvor in biografischen Portraits vorgestellten – Gesprächspartnern, auf die ganz gewiss nicht Gretchens Charakterisierung des Fausts zutrifft: „Du bist ein herzlich guter Mann, Allein ich glaub’, du hältst nicht viel davon.“ Denn „davon“ – also dem Gottesglauben – halten sie durchaus sehr viel. Doch geht es bei dem Glauben, dem Seidel mit seinen Dialogpartnern nachspürt, nicht in erster Linie – wie bei Gretchen – um das Fürwahrhalten dogmatischer Sätze oder das rechte Ehren der „heil’gen Sacramente“. Im Zentrum stehen vielmehr Möglichkeiten von Selbst- und Weltdeutungen, die an die Schätze der christlichen Tradition anknüpfen und diese in individuell plausibler Weise fruchtbar machen.

Das gilt nicht nur für die von Seidel versammelten Theologen wie Tara Hyun Kyung Chung, Christian Lehnert und Jürgen Moltmann. Indem das Buch nach der Präsenz des Religiösen in unterschiedlichen symbolischen Formen fragt, weitet sich vielmehr der Kreis der Gesprächspartner über die akademische Theologie hinaus. Zu Wort kommen Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Ingeborg Arlt, Marica Bodrožić oder Carl-Christian Elze sowie der Dirigent Herbert Blomstedt und der Jazz-Pianist Tord Gustavsen.

Unter den „Grenzgängern“ sind mit der siebenbürgisch-sächsischen Schriftstellerin Iris Wolff (Die Unschärfe der Welt, 2020) und dem tschechischen Theologen Tomáš Halík (Der Nachmittag des Christentums, 2022) im Übrigen zwei markante Stimmen aus Ostmitteleuropa vertreten. Letzterer ermutigt dazu, „dem Schweigen Gottes nicht mit Resignation oder oberflächlichen Antworten [zu begegnen], sondern mit Glaube, Hoffnung und Liebe. Im Vollzug dieser Tugenden ist Gott präsent. Hier begegnet sich Göttliches und Menschliches. Hier trifft die Freiheit des Menschen mit der Gabe Gottes zusammen. Glaube, Hoffnung und Liebe – das ist die Präsenz Gottes in unserer Welt.“ Es sind nicht zuletzt Einsichten und Perspektiven wie diese, die den Band ausgesprochen lesenswert machen.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 4/2023.

Kirchenkritik ohne Tiefgang

Peter Mayer-Tasch arbeitet sich am Begriff der Gnade ab, ohne zu überzeugenden Schlussfolgerung zu kommen

Von Tilman Asmus Fischer

Einen „Beitrag zur Politischen Theologie“ möchte der Münchner Politikwissenschaftler Peter Cornelius Mayer-Tasch mit seinem heuer erschienen Essay „Von Glanz und Elend der Gnade“ leisten. Worin konkret soll dieser Beitrag jedoch bestehen?

Am Anfang steht die Faszination wie scheinbare Unzeitgemäßheit (angesichts einer sich als aufgeklärt verstehenden Moderne), die der Autor dem Begriff der Gnade beimisst: „Gnade – welch ein Wort! Ist es aber nicht auch ein eher in die Vergangenheit weisendes als der Gegenwart zugehöriges Wort?“ Ausgehend von der Wahrnehmung dieser Spannung unternimmt Mayer-Tasch „den Versuch, verschiedene Aspekte des individuellen und kollektiven (d. h. also sozialen und politischen) Umgangs mit dem Begriff der Gnade auszuloten“. An dessen Ende freilich steht das Plädoyer für eine docta ignorantia, die es erlaubt und gebietet, „die Wahrnehmung all dessen, was wir unter der Vorstellung von Gnade, Begnadung und Begnadigung verstehen mögen, in den Freiraum höchstpersönlicher Bewertungen zu entlassen“ – die es vor allem aber nahelegt, „die unverkennbare und unabweisbare Faszination und Magie dieses altehrwürdigen Begriffs wenigstens gedanklich sowohl dem Glanz als auch dem Elend menschlicher Machtkämpfe zu entziehen“.

Insbesondere letztes verdient – nimmt man den Charakter des Unverfügbaren ernst, den Gnade aus einer theologischen Perspektive trägt – volle Zustimmung, ebenso wie das grundsätzliche Anliegen zu begrüßen ist, einen nicht mehr selbstverständlichen, jedoch fortwährend in aller Munde geführten Begriff theorie- und kulturgeschichtlich zu erhellen. Umso bedauerlicher ist, dass die vom Autor gebotene Herleitung der Schlussfolgerung in besonderer Weise darunter leidet, dass er in ihrem Vollzug vornehmlich eine verkappte Kirchenkritik betreibt. Das geht nicht nur zulasten der Fokussierung auf das eigentlich in Frage stehende Phänomen; vielmehr fehlt zugleich der Kirchenkritik der – will man sie ernsthaft betreiben, notwendige – Tiefgang. Diese Schieflage deutet sich bereits darin an, dass Mayer-Tasch nicht mit der knappen Begriffsgeschichte, die von „Gnade als Inbegriff des Willkommenen“ ausgeht, einsteigt. Ihr voran stellt er vielmehr die Frage „Gnade – ein Anachronismus?“, um diese „angesichts einer sich ständig verschärfenden Krise der sich noch immer zur Gnadenvermittlung primär berufen fühlenden Institution“ – also der christlichen Großkirchen – abschlägig zu beantworten.

Das obsessive Verhältnis des Autors zur Kirchengeschichte setzt sich sodann im Kapitel „‚Gott‘ als Urquell jeglicher Gnade“ fort, das nach acht Seiten zur biblischen Begründung des Monotheismus – in denen statt von „Jesus (Christus)“ vom „Propheten aus Nazareth“ die Rede ist – gleich in die europäische und außereuropäische Religionsgeschichte abbiegt. Es schließt sich – Schlagwort Thron und Altar – ein Kapitel zum „‚Gottesgnadentum‘ als Herrschaftslegitimation“ an. Hieran knüpft Mayer-Tasch die Frage „Ein Gott von Kaisers Gnaden?“ an, unter die er die Dogmengeschichte der Alten Kirche stellt. Es ist schon fast rührend zu beobachten, wie sich der Autor des Duktus eines Aufklärers befleißigt – als wenn die Leserschaft durch ihn erstmalig über die Zusammenhänge von Theologie und Politik im Zusammenhang mit der Konstantinischen Wende und der Entwicklung des Nicäno-Konstantinopolitanums konfrontiert würden. „Vom Geheimnis der Gnade“ handelt der Autor abschließend in zweifacher Hinsicht: „rational“ und „metarational“, wobei erstes für ihn die Rekapitulation seiner zuvor geleisteten Dekonstruktion mit Fokus auf ein Kalkül gegenseitiger Stabilisierung von geistlicher und weltlicher Autorität bedeutet, zweites dann – folgerichtig – die ‚Inschutznahme‘ der Gnade vor einer dogmatisch-monotheistischen Vereinnahmung.

Mayer-Taschs Rhetorik lebt von Kurzschlüssen und deftigen Vergleichen: So funktioniert sein Vorwurf an das Christentum, dass die „Hoffnung auf einen jenseitigen Ausgleich diesseitiger Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zum soziokulturellen Allgemeingut wurde“, natürlich nur durch die Ausklammerung gegenläufiger theologie- und kirchengeschichtlicher Traditionslinien wie nicht zuletzt derjenigen der Befreiungstheologie. Geradezu abgründig sind die Motive für Parallelisierungen wie derjenigen, die Revolutionsführer des Irans würden „in einem ähnlichen Ringen bestimmt, wie dies in der katholischen Christenheit vom Konklave her bekannt ist“. Angesichts derartiger Unschärfen mag man dem Verfasser vor allem eines wünschen: gnädige Leser.

Peter Cornelius Mayer-Tasch: Von Glanz und Elend der Gnade. Ein Beitrag zur Politischen Theologie. Pustet-Verlag, Regensburg, 2023, 96 Seiten, EUR 18,–

Erschienen am 9. November 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Buchvorstellung „Die zwei Gesichter der Zerstörung. Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen“ (von Prof. Dr. Manfred Kittel)

Programm:

Grußworte: Thomas Konhäuser, Geschäftsführer der Kulturstiftung Dr. Florian R. Simon, Verleger (Duncker & Humblot)

Einführung: Tilman A. Fischer, Theologe und Journalist, Berlin

Buchvorstellung: Manfred Kittel, Professor für Neuere und Neueste Geschichte und ehem. Gründungsdirektor der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Berlin/Regensburg

Kommentar: Dr. Christean Wagner, Hessischer Kultus- und Justizminister a. D. und Vorsitzender der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, Wiesbaden

Diskussion: „Ethnische Vertreibungen zwischen Erinnerungskultur und Völkerrecht“

Moderation: Tilman A. Fischer

Schlussworte: Thomas Konhäuser

„Der Begriff wird instrumentalisiert“

Der Historiker Manfred Kittel sagt, die militärische Reaktion Israels sei kein Völkermord – egal, wie man es dreht und wendet

Die Hamas wirft Israel Völkermord vor – das ist nicht der Fall, sagt der Regensburger Zeithistoriker Manfred Kittel. Im Interview mit Tilman A. Fischer erläutert er, wie die Rezeptionsgeschichte des Genozidbegriffs in Deutschland die Wahrnehmung militärischer Konflikte beeinflusst – nicht zuletzt auch in der Ukraine.

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In: Berliner Zeitung, 1. November 2023, S. 11.

Zur Definition des Völkermords

Der Historiker Manfred Kittel analysiert den Genozid-Begriff des polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin

Von Tilman Asmus Fischer

Der Begriff des Völkermords kann im politischen Diskurs der Bundesrepublik auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken. Wurde er in den frühen Jahren der Bonner Republik breiter verwendet, geschah dies späterhin – im Bewusstsein für das nicht relativierbare Menschheitsverbrechen der Shoa – zunehmend restriktiv. Unter dem Vorzeichen identitätspolitischer Bewegungen erfolgte dann jedoch in den vergangenen Jahren eine neue Öffnung – und erhielt der Begriff mithin seit dem Angriffskrieg der Russischen Föderation auf die Ukraine eine neue Brisanz.

Die dabei identifizierbaren „Unschärfen des Völkermordbegriffs in der deutschen Erinnerungskultur“ nimmt der Regensburger Historiker Manfred Kittel zum Ausgangspunkt seines neuen Buches. „Die zwei Gesichter der Zerstörung“ stellt den polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin mit dem von ihm entwickelten Genozid-Begriff ins Zentrum und zeichnet dessen Rezeption seit Konventionsbeitritt der Bundesrepublik 1954 nach. Den roten Faden stellt dabei die Frage nach der Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs dar, die von Lemkin selbst noch als Völkermord eingestuft worden war.

Entscheidend hierfür war sein Verständnis des Völkermords als der „Zerstörung einer ‚Gruppe als solcher‘“, die nicht erst mit der physischen „Ausrottung“ ihrer Mitglieder begann – es umfasste also, in Kittels Diktion, „Ausrottungsgenozide“ und „Zerstörungsgenozide“. Ganz in diesem Sinne definiert dann auch die UN-Genozidkonvention von 1948 Völkermorde als „eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: Tötung von Mitgliedern der Gruppe; Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“ sowie Maßnahmen der Geburtenverhinderung und die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.

Auf dem Weg zu dieser Definition hatte Lemkin sich bereits, wie Kittel nachzeichnet, mit Bedenken der Vertragspartner des Potsdamer Abkommens auseinanderzusetzen, die mit Blick auf die innereuropäischen – aber auch außereuropäischen – Bevölkerungstransfers dieser Jahre Komplikationen befürchteten. Und so mussten Lemkin und seine Mitstreiter dann auch in Fragen eines „kulturellen Völkermordes“ sowie der Verfolgung politischer Gruppen Abstriche in ihrer – ursprünglich noch umfassenderen – Genozid-Defintion hinnehmen. Der von Kittel gebotene Einblick in die Lemkinsche Position gewinnt besondere Tiefe durch ihre biographische Herleitung. Dabei macht der Verfasser deutlich, dass für Lemkin nicht nur die Shoa, sondern ebenso die älteren Erfahrungen des „defizitären Minderheitenschutz der Völkerbundszeit“ in Mitteleuropa prägend waren. In Reaktion hierauf glaubte Lemkin „an die Einzigartigkeit menschlicher Kulturen und die Notwendigkeit ihres Schutzes, ob es sich dabei um jiddische Schtetl oder die Ureinwohner beider Amerikas handelte“.

Daher konnte er, wie Kittel anhand von detaillierter Quellenarbeit zeigt, in der Diskussion um den Beitritt der Bundesrepublik zur Genozidkonvention dezidiert damit argumentieren, dass diese sich nicht zuletzt auch auf die Vertreibung der Deutschen anwenden ließe – was seinerzeit den Bundestag von SPD bis CDU/CSU überzeugte. Zur Gesamtheit des von Kittel rekonstruierten Bildes gehört dann freilich auch, dass – nicht zuletzt unter dem Vorzeichen der neuen Ostpolitik – die Bundesrepublik von einer „systematische Ermittlung“ der im Zusammenhang mit der Vertreibung begangenen Verbrechen absah.

Vor dem Hintergrund dieser Ausgangslage vollzieht Kittels Studie die zunehmende diskursive „Gleichsetzung von Völkermord und Holocaust“ und die dazu komplementäre „Randposition der Vertreibung in der neuen Genozidforschung seit den 1980er Jahren“ nach. Dabei geht er hinsichtlich der Debatte im deutschsprachigen Raum sowohl auf rechtsradikale Versuche einer Instrumentalisierung des Völkermord-Begriffs als auch auf Diskursverengungen durch politisch linksstehende Akteure ein und weitet sodann den Blick auf die Lemkin-Rezeption in der globale Genozidforschung, die sich zwischen „sachlicher Kritik und moralpolitischer Zensur“ bewege.

Anhand der – freilich nicht einheitlichen – juristischen Bewertung der „ethnischen Säuberungen“ auf dem Balkan in den 1990er Jahren veranschaulicht Kittel das Fortbestehe eines „breite[n] Begriff des Völkermords in der deutschen und internationalen Rechtsprechung“. Erst durch den „Wandel des Genozidbegriffs“ im Kontext der Kolonialgeschichtsforschung und der hieraus resultierenden „Anerkennung des Völkermordes an den Herero 2021“ – bzw. zuvor bereits durch diejenige des Völkermordes an den Armeniern – sieht Kittel Bewegung in die erinnerungskulturelle Debatte kommen. Dass diese weiterhin nicht frei von Ambivalenzen ist, zeigt die Anerkennung des Holodomor als Völkermord bei gleichzeitiger Zurückhaltung, diesen Begriff auf das gegenwärtige Vorgehen Putins anzuwenden.

Wenn Kittel dezidiert für die Einstufung ethnischer Vertreibungen als Zerstörungsgenozide plädiert, eröffnet dies den Weg, unter diesen Begriff sowohl die historischen Verbrechen an den Herero als auch folgerichtigerweise die Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs zu fassen, ohne den Ausrottungsgenozid der Shoa hierdurch zu relativieren. Letztlich verfolgt Kittels Buch jedoch nicht nur ein erinnerungs-, sondern mithin auch ein menschenrechtspolitisches Anliegen – nicht zuletzt mit Blick auf die Ukraine und eingedenk der IS-Gräueltaten an den Jesiden. So betont er bereits einleitend:  Der „originäre Genozidbegriff Lemkins [besitzt] nicht zuletzt den Vorteil, eher bereits präventiv zum Schutz ethnischer oder religiöser Gruppen ‚als solcher‘ gegen drohende oder laufende Angriffe eingesetzt werden zu können, selbst wenn diese nicht auf eine vollständige körperliche Ausrottung abzielen.“

Manfred Kittel: Die zwei Gesichter der Zerstörung. Raphael Lemkins UN-Genozidkonvention und die Vertreibung der Deutschen (Forschungen zur Geschichte ethnischer Vertreibung, Band 1). Dunker & Humblot, Berlin 2023, 181 Seiten, EUR 19,90.

Erschienen am 19. Oktober 2023 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).