„Gib mir das Deine, damit ich dir das Meine gebe“

Auf den Spuren der Frömmigkeit Dorotheas von Montau

Von Tilman Asmus Fischer

Am 2. Mai ist es genau 630 Jahre her, dass sich Dorothea Swarze als Reklusin in einer Zelle am Dom zu Marienwerder einmauern ließ. Mehr als ein Jahr verbrachte sie hier ein Leben, das geprägt war von Visionen, Kommunionsempfang und seelsorgerlicher Zuwendung zu Ratsuchenden. Heute wird ihr Todestag, der 25. Juni, als gebotener Gedenktag im Erzbistum Ermland, dessen Suffraganbistum Elbing sowie im Deutschen Orden begangen, als dessen Patronin „Dorothea von Montau“ ebenso verehrt wird wie als Patronin Preußens. Jedoch hatte es mehr als ein halbes Jahrtausend dauern sollen, bis der (Ende des 14. Jahrhunderts vom Orden angestoßene) Heiligsprechungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen und der sich über die Jahrhunderte im Preußenland gehaltene – und seit dem 19. Jahrhundert im historischen Ostdeutschland verbreitete – Dorotheenkult am 9. Januar 1976 approbiert wurde. Was aber faszinierte Menschen an der Heiligen Dorothea, sodass man sie als Vorbild im Glauben verstand und bis heute verehrt? Dieser Frage soll hier in zweifacher Weise nachgegangen werden: Zum einen werden zentrale Elemente einer Mystik und Caritas verschränkenden Frömmigkeit nachvollzogen, wie sie die Dorotheen-Überlieferung prägen. Zum anderen wird anhand zweier prominenter Beispiele gezeigt, wie diese Tradition im 20. Jahrhundert aktualisiert wurde.

Stationen des Lebens und der Spiritualität

Welche Stationen – so ist also zunächst zu fragen – liegen auf dem 47 Jahre umfassenden Lebens- und Glaubensweg der Dorothea zwischen ihrer Geburt 1347 in Groß Montau und ihrem Tod als bereits zu Lebzeiten verehrte Mystikerin und Reklusin 1394 im gut 30 km die Weichsel aufwärts liegenden Marienwerder? Bzw. wie stellt die hagiographisch gefärbte Überlieferung diesen Weg dar?

Groß Montau und Danzig

Als Tochter einer wohlhabenden Bauernfamilie kam Dorothea in Groß Montau (pl. Mątowy Wielkie) zur Welt, das später bis 1920 zum Landkreis Marienburg und anschließend – als Teil der Freien Stadt Danzig – zum Landkreis Großes Werder gehörte; am 6. Februar 1347 wurde sie dort in der Dorfkirche getauft. Bereits ihre Kindheit wird als von einer frühen wie radikalen Frömmigkeit geprägt beschrieben, die asketische Übungen, aber auch Selbstgeißlungen umfasste. 1363 führte die Verheiratung mit dem deutlich älteren Waffenschmied Adalbert Swarze Dorothea nach Danzig. Ihr dortiges Leben lässt sich topographisch wie symbolisch zwischen der Langgasse und Sankt Marien verorten. Die sich auf den Langen Markt hin erstreckende Magistrale war der Ort, an dem sie den Haushalt ihres viele Jahre älteren Mannes führte und die neunfache Mutter (nur ein Kind blieb am Leben) ein von Erkrankungen, menschlicher Härte und Anstrengungen geprägtes Leben führte. Demgegenüber steht die Marienkirche zum einen für Zeiten des Gebetes und er Kontemplation. Zum anderen war das Gotteshaus der Ort, wo sie womöglich im Sommer 1374 die Aufbahrung der im Vorjahr in Rom verstorbenen Birgitta von Schweden erlebte. Deren „Leben und […] Offenbarungen machten einen tiefen Eindruck auf die Hausfrau und Mutter. Sie, die ebenso verheiratet gewesen war wie die schwedische Heilige, wählte diese zu ihrem Vorbild in der Betrachtung der Passion Christi und im Wallfahren.“ (Samerski 2013, 609)

Zum Aufbruch in die Pilgerschaft sollte es jedoch erst zehn Jahre später kommen, sodass hier zunächst noch die in ihrer Danziger Zeit zunehmenden mystischen Erfahrungen in den Blick genommen werden: Denn Dorothea hatte zunehmende Visionen, geriet in Verzückung, prophezeite und verfügte über die Gabe der Herzensschau. Markant für die Frömmigkeit Dorotheas ist das – ihr Leben über wiederholt auftretende – Motiv der Liebeswunden. Diese waren in der Mystik „nur wenigen Auserwählten vorbehalten, die sich im Einigungszustand mit Gott befanden. Johannes vom Kreuz beschreibt sie als anziehende Liebesflamme, welche die Seelen scheinbar vollständig verzehrt, ihnen aber dann, nach dem Vorbild der Wiedergeburt des Phönix, eine neue Seinsform schenkt“ (Niedermeier 2019, 21). Bei Dorothea tritt hier die seit der Antike beliebten Metapher des Liebespfeiles in Erscheinung, die sich mit Hld 2,5c („denn ich bin krank vor Liebe“; vgl. 4,9) verbindet. Bei den zeitgenössischen Mystikerinnen „wird aus der Metapher Erleben“, wobei Dorothea geradezu „fasziniert […] von diesem Motiv war“: Mit „größter, uns heute fast pathologisch anmutender Ausführlichkeit [berichtet sie] davon […], wie sie ihr himmlischer Bräutigam ‚bald mit Liebesdornen, bald mit Pfeilen, bald mit Lanzen und Speeren, die er in ihr Herz abschoß‘, verletzte. In ihrem letzten Lebensjahr zerreißt ihr Christus das Herz so, daß sie meint, sterben zu müssen.“ (Dinzelbacher 1996, 221).

Auf Pilgerschaft zwischen Weichsel und Tiber

Zu einem dieser inneren Entwicklung entsprechenden radialen äußeren Frömmigkeitspraxis gelangte Dorothea ab 1384, als Adalbert Swarze sich – nach längerem Einwirken seiner Frau – bereitfand, Hab und Gut zu verkaufen und sich ganz einem Leben für Gott – insbesondere als Wallfahrer – hinzugeben. Mit den Pilgerreisen weitet sich zugleich der für Dorotheas Vita relevante Raum über das untere Weichselland, ja über den deutschen Sprachraum hinaus, denn sie führten die fromme Frau nicht nur zu den im heutigen Bundesgebiet liegenden Wallfahrtsorten Finsterwalde und Aachen, sondern bis nach Rom. (Während Aachen und Rom in diesem Zusammenhang ‚selbstverständlich‘ klingen, gilt dies für das brandenburgische Finsterwalde nicht. Dies ist eine Folge der Reformation, in deren Zuge die dortige Marienkapelle, nebst der mit ihr verbundenen Wallfahrtspraxis verschwanden.) Der Überlieferung nach gingen diese Reisen für das Ehepaar mit vielfältigen Gefahren für Leib und Leben einher. Dies ist aus den Bedingungen der damaligen Lebenswelt plausibel – zu denen Wegelagerei ebenso zählte wie nur geringfügige Möglichkeiten des Schutzes vor Naturgewalten.

Zugleich ist die Akzentuierung entsprechender Berichte der Pragmatik hagiographischer Texte geschuldet: War kein „rotes“ Martyrium, wie es für die im Zuge der Christenverfolgung Ermordeten überliefert wurde, zu berichten, konnte an seine Stelle das „weiße“, also ein ‚geistliches‘ Martyrium treten, welches sich durch asketische Leidensbereitschaft auszeichnete. Ganz in diesem Sinne entspricht Dorotheas Leben – und dies eigentlich nicht erst als Wallfahrerin, sondern bereits in ihren Visionen – den von Gregor dem Großen überlieferten Worten: „Denn selbst dort, wo keine äußere Verfolgung stattfindet, finden wir das Verdienst des Martyriums im Inneren, wenn die Seele feurig entschlossen gewillt ist, Leiden auf sich zu nehmen.“

Aber nicht nur die Leidensbereitschaft stellt ein an dieser Stelle deutlich werdendes Kontinuum in der Frömmigkeit der Dorothea dar: Ein weiteres ist die Verschränkung von Verinnerlichung und caritativer Zuwendung. Denn von derselben Heiligen, die sich dem Wallfahren und fortgesetzten Visionen hingab, wird berichtet, dass sie zugleich als Helferin von Menschen in Not, Kranken und Armen, in Erscheinung trat. Hierin setzt sich das Bild der jungen Dorothea in Danzig fort, in dem sie uns sowohl als fürsorgende Mutter als auch als eifrige Beterin vor Augen steht.

Marienwerder

Während einer Rom-Wallfahrt Dorotheas starb ihr Mann 1390 in Danzig. In der folgenden Zeit entwickelte sich der Deutschordenspriester Johannes von Marienwerder zu ihrem wichtigsten Mentor. Nicht nur, dass er verhinderte, dass Dorothea aufgrund ihrer eigenwilligen Frömmigkeit in Danzig als Hexe verurteil wurde, und durch die Verschriftlichung ihrer Visionen die Grundlagen der Dorotheenverehrung legte. Vor allem ebnete er ihr den Weg hin zu ihrer letzten Lebensstation: der an den Dom von Marienwerder angebauten Zelle, in der sie sich ein Jahr vor ihrem Tod einmauern ließ. Auch in diesem letzten Lebensabschnitt werden die bereits genannten Kontinuitäten ihrer Frömmigkeit deutlich: einerseits die Leidensbereitschaft (die bei einem Leben als Eingemauerte evident sein dürfte), andererseits das Ineinander von Verinnerlichung und Caritas: Neben der spirituellen Versenkung – mit Visionen und zuletzt täglichem Abendmahlsempfang – stand die Zuwendung zu Menschen, die bei ihr Rat suchten und mit denen sie durch ein kleines Fenster sprach. Aus dieser Zeit ist ein Gebetswort überliefert, das ihre Frömmigkeit zu auf den Punkt zu bringen vermag: „Gib mir das Deine, damit ich dir das Meine gebe – das Deine ist das Leiden am Kreuz, das Meine die Seele, die du mir eingesenkt hast und die so in Wahrheit gerade das Deine ist.“ (Ratzinger, 1429.)

Deutung und Aktualisierung von Leben und Frömmigkeit

Die frühe Bedeutung, die Dorothea im kirchlichen Leben Preußens zukommen, mögen nicht nur der unmittelbar nach ihrem Tod in Marienwerder etablierte Dorotheenkult sowie das vom Deutschen Orden angestrengte Heiligsprechungsverfahren bezeugen, sondern ebenfalls die Tatsache, dass die von ihrem spirituellen Führer und Biographen Johannes von Marienwerder verfasste deutschsprachige Darstellung ihres Lebens knapp 100 Jahre nach Dorotheas Tod, 1492, das erste in Preußen gedruckte Buch war. Die mittelalterliche wie neuzeitliche Rezeption und Deutung der Heiligen Dorothea dokumentiert zu haben, ist das Verdienst verschiedener Theologen und Historiker seit dem 19. Jahrhundert – pars pro toto zu nennen ist der 1894 in Schneidemühl geborene Prälat Dr. theol. Richard Stachnik, der vor der Vertreibung als Priester der Danziger Diözese (und letzter Vorsitzender der Danziger Zentrumspartei) gewirkt hatte und von der Bundesrepublik Deutschland aus den Abschluss des Heiligsprechungsverfahrens vorantrieb. An dieser Stelle seien schlaglichtartig zwei Deutungen der Heiligen Dorothea eingespielt, die im Umfeld ihrer Heiligsprechung zu verorten sind.

Günter Grass: Religion als „Vehikel“

Nur ein Jahr nach der Kultapprobation setzte der Danziger Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger Günter Grass Dorothea (und daneben auch Prälat Stachnik) in seinem Roman „Der Butt“ ein literarisches Denkmal. Hierin erscheint Adalbert Swarze als Wiedergänger des Fischers aus Philipp Otto Runges Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“. In Grass‘ Interpretation hat der Fischer vom Butt als Preis für dessen Freilassung ein Geheimwissen zur Errichtung des Patriarchats erhalten, mit dem er nun über die Menschheitsgeschichte hinweg die Frauen unterdrückt. Dementsprechend ergeht es dann auch Dorothea, die im religiösen Fanatismus einen Weg in die Befreiung erkennt. Und so lässt Grass die Vorsitzende eines feministischen Tribunals, das im Roman über den Butt zu Gericht sitzt, erklären:

„Dorothea Swarze wollte Freiheit für sich. Die Religion und Jesus sind ihr nur das Vehikel und die einzig erlaubte Bezugsperson gewesen, ihren Emanzipationsanspruch durchzusetzen und der penetranten Macht der Männer zu entkommen. Da sie nur die Wahl hatte, als Hexe verbrannt oder als Heilige eingemauert zu werden, hat sie sich entschlossen, dem Domdekan zu Marienwerder eine halbwegs glaubwürdige Legende aufzutischen: um ihrer Freiheit willen. Ein für das Mittelalter typischer Fall, nicht ohne Hinweise in die Gegenwart.“ (Grass, 211.)

Gewiss wird das hieraus sprechende instrumentelle Religionsverständnis dem Zeugnis der Dorothea in seiner Gänze nicht gerecht. Die Einsicht in das emanzipatorische Potential von Spiritualität trifft aber ganz gewiss ein nicht unwesentliches Moment weiblicher Mystik im Mittelalter – zu dem vergleichbare Phänomene sich auch in der Gegenwart finden lassen (vgl. Müller, 247f.).

Joseph Ratzinger: „Wege nach innen“

Einen merklich anderen Akzent setzt eine Deutung, die der Ende vergangenen Jahres verstorbene emeritierte Papst Benedikt XVI. vornahm, als der damalige Erzbischof von München und Freising 1979 in der Münchner Jesuitenkirche Sankt Michael ein Epitaph für die wenige Jahre zuvor Heiliggesprochene enthüllte. Aus diesem Anlass interpretierte er die Entwicklung ihrer Frömmigkeit als „Wege nach innen“. Vom Bild der täglich die Eucharistie Empfangenden her versteht er ihr Leben als „Kreuzesnachfolge, es wird Eintauchen ins Wortlose und Unsagbare der trinitarischen Liebe und es wird darin zugleich ganz marianisch und kirchlich: Menschsein, das Gefäß für den Herrn geworden ist und damit Tür in die Welt für Ihn. Wer ganz dem trinitarischen Gott übereignet ist, der ist ganz aufgemacht, der ist in seine weltumspannende Weite hinein geöffnet, gehört allem und dem Ganzen; der hat nichts mehr von der Enge des alten Menschen, die sich selber sucht und das für Freiheit hält: Der ist wahrhaft neuer Mensch geworden“ (Ratzinger, 1429).

Dabei ginge es fehl, die Deutungen von Grass und Ratzinger dahingehend gegeneinander auszuspielen, dass man diejenige des Dichters als lebensnah und die des Theologen als weltfremd verstünde (wie man Ratzinger leider zu oft missverstanden hat). Denn bei ihm sind die „Wege nach innen“ zugleich immer auch „Wege nach außen“. Dies gilt nicht nur für die Pilgerschaft, sondern ebenso für die als Mutter erwiesene Caritas: Als Mutter „verkörpert sie zuallererst den Realismus des christlichen Menschen. Die Suche nach dem neuen Menschen ist Bejahung und nicht Verneinung. Sie gründet nicht auf einer Verachtung der Schöpfung und der Aufgaben und Möglichkeiten, die sie stellt. Die christliche Hoffnung hat nichts mit Anarchie und mit Schwärmertum zu tun. Der Christ flieht nicht aus den Aufgaben dieser Zeit, er verlästert die Welt nicht, sondern er steht in aller Nüchternheit in ihren Aufgaben“ (Ratzinger, 1427).

In ebendiesem Sinne mag Dorothea von Montau eine Heilige sein, die nicht nur Relevanz für die regionale Kirchengeschichte beanspruchen kann, sondern deren Glaubenszeugnis auch im 21. Jahrhundert noch des Bedenkens wert ist.

Literatur

Peter Dinzelbacher, Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung. Mentalitätsgeschichte und Ikonographie, Paderborn 1996.

Günter Grass, Der Butt (= Günter Grass: Werkausgabe, Bd. 8), Göttingen 1997.

Ulrich Müller, Dorothea von Montau und Sor Juana Ines de la Cruz: Zwei religiöse Frauen aus dem Mittelalter und aus der Barock-Zeit, in: Wolfgang Beutin u. Thomas Bütow (Hgg.), Europäische Mystik vom Hochmittelalter zum Barock. Eine Schlüsselepoche in der europäischen Mentalitäts-, Spiritualitäts- und Individuationsentwicklung. Beiträge der Tagung 1996 und 1997 der Evangelischen Akademie Nordelbien in Bad Segeberg (= Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte, Bd. 21), Frankfurt a.M. 1998, 237-248.

Nina Niedermeier, Heroische Tugend (Katholizismus), in: Compoendium heroicum, 13. Mai 2019 (https://www.compendium-heroicum.de/lemma/heroische-tugend-kath/).

Joseph Ratzinger, „Wege nach innen“: Die heilige Dorothea von Montau. München, 17. Juni 1979, in: ders., Predigten. Homilien – Ansprachen – Meditationen. Dritter Teilband (= Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften, Bd. 14/3), Freiburg i.Br. 2019, 1426-1430.

Stefan Samerski, Dorothea von Montau, in: Joachim Bahlcke et al. (Hgg.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa, Berlin 2013, 609-617.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2023.

Den Verlust aushalten

Kraut-Kapelle: Christa Jeitner interpretiert die Auferstehung Christi

Von Tilman Asmus Fischer

Fastentuch oder Grabtuch? – Diese Frage mag sich stellen, wer Christa Jeitners Werk „Die Wand ist leer“ in der historischen Kraut-Kapelle in der Berliner Nikolaikirche besichtigt. Wie bereits mehrere Künstler vor ihr war sie eingeladen, sich kreativ mit dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Wandgemälde der Auferstehung auseinanderzusetzen. Boten die zuvor gezeigten Werke jedoch vor allem eigene künstlerische Interpretationen der Auferstehungsthematik – und überwanden sie damit zugleich den Verlust, der in der restaurierten Kapelle durch die weiße Wand an der Stelle des historischen Gemäldes signalisiert wird –, so geht Jeitner einen anderen Weg.

Die Wand ist nicht nur leer – sie bleibt es auch: Die Künstlerin versucht sich nicht an einer Überwindung der Leere und des Verlustes – sie macht vielmehr beide selbst zum Thema und lädt damit auch den Betrachter ein, sich damit auseinanderzusetzen. Dominiert wird ihre Installation von einem leinenen Vorhang, der die Wand in Teilen verhüllt und bei dem sich eben die Frage stellt: Ist er als Anspielung auf Fastentücher zu verstehen, wie sie zwischen Aschermittwoch und Ostern traditionell Hochaltäre verhüllen? Oder legt der historische Ort der zerstörten Auferstehungsdarstellung doch nahe, ihn als Repräsentation des Grabtuches zu deuten, das in der Grabhöhle vom Auferstandenen zeugt?

Es mag gerade die Spannung zwischen diesen beiden Deutungsalternativen sein, die Jeitners Arbeit in besonderer Weise auszeichnet – womöglich gerade auch in den Wochen nach Ostern, indem die Installation mahnt, trotz des Sieges über den Tod den Karfreitag nicht für unbedeutend zu erachten und in seinem theologischen Gehalt zu vernachlässigen. Schmerz, Verlust und Tod mögen nicht das letzte Wort haben, aber sie hallen nach. Daran gemahnt auch der kleine bronzene Korpus des Gekreuzigten, der – gleich von einem Kruzifix gefallen – vor den Füßen des Betrachters in Staub und Asche liegt. Leid und Schmerz hallen aber nicht nur nach im Gedächtnis – dem individuellen wie dem kulturellen – nach; sie dringen selbst immer wieder ins Blickfeld und werden Wirklichkeit. Als Jeitner zehn Jahre alt war endete der Zweite Weltkrieg. Als sie an der Installation arbeitete, brach wieder Krieg in Europa aus. Womöglich steht auch diese Erfahrung hinter „Die Wand ist leer“.

Christa Jeitner, „Die Wand ist leer“, ist bis zum 5. Juli zu sehen im Museum Nikolaikirche, Nikolaikirchplatz, Berlin-Mitte, täglich 10 – 18 Uhr

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 25/2022.

Ein protestantischer Erinnerungsort

Das Theologische Konvikt plant eine Ausstellung zur Geschichte des eigenen Hauses

Von Tilman Asmus Fischer

Als sich der Förderverein „Konvikt Borsigstraße 5“ im Jahre 2018 auflöste, weil sein Vereinszweck – der Erhalt des früheren Sprachenkonvikts und heutigen Theologischen Konvikts – mit der Übernahme der Nutzung durch die Hilfswerksiedlung erfüllt war, übertrug er sein Vermögen auf die neugegründete „Gemeinschaft des Theologischen Konvikt Berlin e.V.“. Dies war mit dem Auftrag der Einrichtung einer öffentlich zugänglichen Ausstellung zur Geschichte des historischen Gebäudekomplexes verbunden. Dieses Vorhaben steht nun bald vor der Vollendung. Ab 2023 soll eine 13teilige Schautafelausstellung im Hof des Konvikts die Geschichte dieses protestantischen Erinnerungsorts dokumentieren.

Die Bedeutung wie die Bedeutungsvielfalt dieses Ortes treten bereits aus der Konzeption hervor: So liegt der Schwerpunkt, dem der zweite Teil der Ausstellung gewidmet ist, auf der kirchen- und zeitgeschichtlich gewichtigsten Epoche – derjenigen des Sprachenkovikts, der staatsunabhängigen kirchlichen Hochschule in den Jahren der SED-Herrschaft. Hier geht es nicht nur um die Aufrechterhaltung eines Raumes freien theologischen Denkens, sondern zugleich um dessen Bedeutung für politisches Engagement aus christlicher Verantwortung. Dies gilt insbesondere für die im Konvikt – unter Beteiligung evangelischer Theologen wie Markus Meckel – vorbereitete Gründung der Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) im Oktober 1989 und das Bündnis „Demokratie Jetzt“, zu dessen Gründern der am Konvikt tätige Kirchenhistoriker Wolfgang Ullmann zählte.

Jedoch geht die Geschichte des Theologischen Konvikts nicht in derjenigen der Opposition gegen die kommunistische Gewaltherrschaft auf. Vielmehr reicht sie zurück in das diakonische Wirken im Berlin der Kaiserzeit. Sie beginnt 1878 mit der Gründung des Waisenhauses „Zoar“, an das sich bald ein Heim für junge alleinstehende Frauen anschloss, die in die Hauptstadt zogen. Dieses Werk war eine der Institutionen, aus denen die Bahnhofsmission in Deutschland hervorging. Zwischen den 1920er und 1950er Jahren waren zwischen der Borsig- und Tieckstraße verschiedene evangelische Institutionen angesiedelt, darunter bereits ein Studentenwohnheim. Studentisches Leben prägt seitdem die gesamte Anlage um die 1898 bis 1900 errichtete Golgathakirche.

Als Kuratorin konnte die Gemeinschaft des Theologischen Konvikt mit der freischaffenden Historikerin Martina Voigt, eine Spezialistin für die Geschichte des Nationalsozialismus mit einem Schwerpunkt auf der Kirche im Dritten Reich, gewinnen. Diese hatte zuletzt im Auftrag der der Landeskirche und der Kirchengemeinde in Kooperation mit der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand den 2020 eröffneten Erinnerungsort für Heinrich Vogel im Pfarrhaus von Dobbrikow gestaltet. Der prominente Vertreter der Bekennenden Kirche war nach Ende des Zweiten Weltkriegs Professor an der Kirchlichen Hochschule Berlin, die ihren Sitz in West-Berlin hatte und als deren Ost-Berliner Außenstelle das Sprachenkonvikt firmierte.

Woran es den Initiatoren gegenwärtig noch mangelt, sind historische Aufnahmen der Innenräume bzw. des Studentenalltags früherer Generationen. „Es wäre schon schön, wenn wir zum Beispiel zeigen könnten, wie ein Studentenzimmer in den 1930er oder 1970er Jahren ausgesehen hat“, so Voigt. Frühere Konviktsbewohner und -bewohnerinnen – oder ihre Nachfahren –, die über Fotografien, Zeichnungen oder andere spannende Dokumente der Hausgeschichte verfügen, sind gebeten, diese dem Konvikt zur Digitalisierung und möglichen Verwendung in der Ausstellung zur Verfügung zu stellen.

Weitere Informationen und Kontakt zum Konvikt: www.theologischeskonvikt.de; Ephorus Pfarrer Dr. Volker Jastrzembski: 030 / 53 64 96 81Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 23/2022.

Gotteshaus als Ort der Lokalgeschichte

In der früheren Kleinmachnower Auferstehungskirche entsteht ein Lokalmuseum. Ein Wochenende mit Interviewfilmen eröffnet zeitgeschichtliche Einblicke

Von Tilman Asmus Fischer

Am Karfreitag des Jahres 2018 war die Kleinmachnower Auferstehungskirche entwidmet worden, nachdem durch zuzugsbedingtes Gemeindewachstum der Umzug in ein neugebautes Gemeindezentrum mit Kirchsaal notwendig geworden war. Fast ein halbes Jahrzehnt später kehrt nun wieder Leben in das zwischenzeitlich durch die Kommune erworbene Baudenkmal ein: Auf einen letztjährigen Beschluss der Gemeindevertretung hin entsteht ein Kleinmachnow-Museum. Hiermit entspricht die Politik einem jahrzehntelangen Wunsch aus der Zivilgesellschaft, den bereits seit den 1990er Jahren der Heimat- und Kulturverein Kleinmachnow artikuliert hatte und dessen sich in den vergangenen Jahren zudem die Museumsinitiative Kleinmachnow angenommen hatte. Dritte im Boot ist die Aktionsgruppe Stolpersteine Kleinmachnow. Alle drei Vereine haben ihren Sitz im früheren Gotteshaus im Jägerstieg, wo sie zudem die fortgesetzte Beteiligung der Zivilgesellschaft an dem von der Gemeinde getragenen Museum sicherstellen sollen. Gegenwärtig richten sich die Planungen auf den anstehenden denkmalschutzgerechten Umbau – künftig sollen festangestellte Mitarbeiter den Archiv- und Ausstellungsbetrieb sicherstellen. Hans Schimkönig, zweiter Vorsitzender der Museumsinitiative freut sich, dass damit in absehbarer Zeit ein Museum für diesen „spannenden Ort am Rande Berlins“ entsteht: „Kleinmachnow war nicht nur ein bekannter Wohnort der DDR-Elite, sondern auch zahlreicher Intellektueller und Künstler, wie Schriftstellerin Christa Wolff. Die Ereignisse der Zeitgeschichte hatten immer auch Einfluss auf die Gemeinde – nicht zuletzt nach der Wende, als es viele Konflikte zwischen Hausbewohnern und Alteigentümern gab.“

Noch vor dem Umbau können sich Interessierte einen Eindruck von den bisherigen Sammlungsaktivitäten der Initiatoren (und vom historischen Gebäude) machen: So präsentiert vom 11. bis 26. Juni die Ausstellung „Kleinmachnower Orte im Wandel der Zeit“ die ersten Ergebnisse eines Foto-Sammlungsaufrufs. Einen eigenen Beitrag zur Dokumentation der Lokalgeschichte seit den Jahren des Nationalsozialismus leistet Schimkönig selbst durch den Aufbau eines Zeitzeugenfilmarchivs. Der studierte Regisseur und Drehbuchautor hat in den vergangenen Jahren gemeinsam mit Kameramann Marco Casiglieri 24 Interviewfilme von 50 bis 120 Minuten Länge gedreht, in denen je eine Bürgerin bzw. ein Bürger Kleinmachnows zu Wort kommt. „Ziel ist es“, so Schimkönig, „die Menschen ihre Erlebnisse und Perspektiven berichten zu lassen.“ Diese können durchaus in Spannung zueinander stehen, wie sich an den Jahren der DDR zeigt: „Einige haben gelitten, andere haben das System mitgetragen. Alle haben jedoch Ende der 1980er Jahre gemerkt, dass es knirscht – auch die SED-Leute.“ Zur Premiere acht neuer Interviewfilme ist die Öffentlichkeit vom 17. bis 19. Juni im Rahmen eines langen Filmwochenendes in den Jägerstieg eingeladen. Die älteren Filme stehen im Foyer des künftigen Museums auf Tablets zur Verfügung. Es ist dies bereits die zweite Veranstaltung dieses Formats – neben Präsentationen in den Kleinmachnower Kammerspielen.

Einer der Zeitzeugen, die bereits bei einer der früheren Uraufführungen präsentiert worden waren, ist der Naturwissenschaftler Gerhard Casperson, der sich zur Wendezeit in der Bürgerrechtsbewegung und bereits zuvor in der evangelischen Kirchengemeinde engagierte. Mit ihm kommt auch die Kirche als zivilgesellschaftliche Kraft in den Blick – und somit die Heimstatt des künftigen Museums selbst als lokalgeschichtliches Denkmal. Dies nicht nur als Ort der Erinnerung an Treffen der Umweltbewegung, Gemeindeveranstaltungen mit Systemkritikern wie Stefan Heym oder Bürgerversammlungen des Jahres 1989, von denen Casperson zu berichten weiß. Noch heute zeugt in dem Gebäude ein Kunstwerk von der jüngeren Kirchengeschichte: Es handelt sich um ein Kirchenfenster aus Kunstglas. Geschaffen wurde es in den 1980er Jahren von niemand anderem als dem Grafiker Herbert Sander, dem Schöpfer des bekannten Emblems der Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“. Dass im Museum Kleinmachnow das Kunstwerk zu sehen sein und über den Künstler informiert werden wird, versteht sich für die Initiatoren von selbst.

2. Langes Filmwochenende im zukünftigen Museum Kleinmachnow: 17. Juni, 17-22 Uhr u. 18./19. Juni, 11-22 Uhr; Jägerstieg 2, Kleinmachnow; Eintritt frei. Weitere Informationen: https://museumsinitiative-kleinmachnow.de/

In ähnlicher Form erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 22/2022.

Auferstehung Christi und Transzendenz der Natur

Im Sinne einer „experimentellen Denkmalpflege“ lädt das Museum Nikolaikirche Künstler ein, das dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallene Wandgemälde „Auferstehung Christi“ in der Grabkapelle der Familie Kraut an seinem historischen Ort durch eigene Werke zu kommentieren. Gegenwärtig wird im Rahmen der Reihe „Kunstraum Kraut“ das Gemälde „Auferstehung, Wiedergeburt, Vergänglichkeit“ von Johanna Staniczek gezeigt. Tilman A. Fischer sprach mit der Künstlerin und Kurator Albrecht Henkys.

Mit dem „Kunstraum Kraut“ haben Sie, Herr Henkys, Künstlerinnen und Künstler zur Auseinandersetzung mit dem Thema Auferstehung eingeladen, auf die Sie, Frau Staniczek, und Ihre Kollegen sich eingelassen haben. Welche Deutungen sind dabei zustande gekommen?

Staniczek: Es sind ganz unterschiedliche Positionen entstanden. Einige Künstler haben sich – wenn auch mit höchst unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksweisen – explizit auf die ehemalige figurative Darstellung bezogen. Andere, wie ich, haben das nicht gemacht. Wichtig war uns aber allen, dass in der Mitte etwas Besonderes ist, wo in der ehemaligen barocken Wanddarstellung der auferstandene Jesus zu sehen war. Heute überlegt man sich: Was ist das für mich, Auferstehung? Jeder denkt mal darüber nach, wie es weitergeht nach dem Tod – spätestens, wenn die Eltern oder ein teurer Freund verstorben sind. Mein Bild entspringt eher aus einem pantheistischen Glauben. Als erstes sieht man die Auferstehung in der Natur – im Zentrum das Kommen des Lichts, der Sonne. Und so, wie die Natur immer wieder aufersteht, ersteht auch der Mensch auf – auch gefühlsmäßig.

Henkys: Mich hat bewegt, wie die Künstlerinnen und Künstler mit dem Paradoxon der anwesenden Abwesenheit oder der abwesenden Anwesenheit umgegangen sind, was ja hier ganz besonders weit getrieben ist, insofern die Anwesenheit des Auferstandenen gar kein Bildthema ist, sondern als Licht symbolisiert wird. Es ist in den zeitlichen Dimensionen der Kunstgeschichte noch gar nicht so lange her, dass man – im späteren Mittelalter – begonnen hat, Auferstehungsszenen zu malen. Diese Unfasslichkeit ist als Bildthema zuvor eigentlich nicht üblich gewesen. Sicher sind bereits auch vor der Reformation Auferstehungsszenen gemalt worden, aber das Auferstehungsthema so dezidiert bildlich zu fassen, ist eigentlich reformatorisch: Die Überwindung des Todes und der Sünden, das mit Vergebung verbundene Heilsversprechen und die Aussicht auf ein neues, ewiges Leben werden durch die Auferstehung symbolisiert. Von da an wird diese Darstellung dann auch in der Grabmalskunst dominant – und so auch in der Kapelle Kraut. Zuvor – als diese reformationstheologischen Ideen noch nicht im Mittelpunkt standen – hat man sich mit expliziten Darstellungen der Auferstehung eher zurückgehalten und diese vor allem durch Pflanzen symbolisiert.

„Auferstehung, Wiedergeburt, Vergänglichkeit“ von Johanna Staniczek

Pflanzen- und Naturelemente sind auch für Ihr Gemälde bedeutend, Frau Staniczek. Woher rührt die Motivik des Bildes?

Staniczek: Hinter den Waldmotiven stehen ganz intensive Erfahrungen aus meiner Kindheit auf der schwäbischen Alb. Das eine ist die Schneeschmelze. Das andere die Bäume, die von jeher für Schutz stehen, bei deren Betrachtung ich auch an Verstorbene, etwa meinen Vater, denke. Für den Entwurf habe ich auch neben den Bäumen Blumen gewählt, die auf mittelalterliche Mariendarstellungen verweisen. Ebenso steht das Blau  des Himmels, das in der Akelei, der Blume der Gotik vorkommt, für das Blau des Schutzmantels der Maria. Die Akelei wurde als Sieg des Lebens über den Tod gedeutet. Bei der Farbgebung habe ich mich an den Farben in der Kapelle und an Farben im Barock orientiert und so im unteren Bereich ganz bewusst auf Erdfarben reduziert – Ocker, einen rötlichen Braunton, Terra di Siena und Caput mortuum. Im oberen Bereich habe ich auch ausschließlich Naturfarben gewählt und nicht etwa für mittelalterliche Mariendarstellungen typische Ultramarinblau.

Henkys: Ich finde, dass Dein bildnerisches Herangehen ganz stark davon mitgeprägt ist, dass Du Deine Materialien selbst herstellst. Du bist vom ersten Moment des Prozesses wirklich engstens verbunden – und auch erdverbunden, indem Du Erdfarben selber anteigst, Dir die Pastellbrocken backst und so weiter. Die Materialien sind in der Natur entstanden und Du holst sie – bildlich gesprochen – aus der Erde und bringst sie auf das Bild. Das ist bemerkenswert sichtbar.

Wie verhält sich der enge Naturbezug in Ihrer Arbeit zur religiösen Dimension Ihres Gemäldes?

Staniczek: Ich habe immer tiefe Empfindungen, wenn ich in einem sakralen Raum stehe, aber auch, wenn ich im Wald stehe. Der Wald ist für mich nicht zum Joggen da. Das kann man machen, aber da steckt noch viel mehr darin. Die Natur ist unsere Lebensgrundlage: die Pflanzen, die Wälder, die Flüsse, die Erde. Die Umwelt hat immer auch eine transzendente Dimension. Und eine Kunst, in der ich dies erkennen kann, ist für mich das größte.

In ähnlicher Form erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 15/2022.

Aus dem Dornröschenschlaf erwacht

Das Berliner Hugenotten-Museum wartet mit überarbeiteter Dauerausstellung und neuen inhaltlichen Akzenten auf

Über viele Jahre führte das Hugenottenmuseum trotz seiner prominenten Lage im Französischen Dom am Gendarmenmarkt ein Schattendasein innerhalb der Berliner Museumslandschaft; eine Tatsache, deren Gründe einem mit Fragen von Museumskonzeptionen und -gestaltungen vertrauten Besucher rasch offensichtlich wurden. Umso mehr kann man sich mit den Trägern dieser aus zivilgesellschaftlichem Engagement heraus entstandenen Erinnerungs- und Informationsstätte nun freuen, dass nach einer Gebäudesanierung sowie einer – durch die französisch-reformierte Gemeinde, private Spender und vor allem die Lottostiftung ermöglichten – Neugestaltung der Dauerausstellung das Museum merklich aus seinem bisherigen Dornröschenschlaf erwacht ist.

Die neue Dauerausstellung eröffnet umfassend Einblick in die Geschichte der Hugenotten von ihrem Eintreffen als Glaubensflüchtlinge im Hohenzollernstaat bis zur Gegenwart der französisch-reformierten Christen in Deutschland – neues Gewicht legt das Museum aber auch auf die Darstellung der Entstehung und des Erbes der Hugenotten in ihrem französischen Heimatland. Im Fokus der Ausstellung stehen spürbar die Kerngebiete der hugenottischen Ansiedlung in Brandenburg; gleichwohl finden auch die Ansiedlungen in den historischen preußischen West- und Ostgebieten Erwähnung. Zudem hat das Museumsteam bereits mit seiner letzten Sonderausstellung deutlich gemacht, dass es ihm auch um die Hugenotten aus dem weiteren Ostseeraum getan ist: gewidmet war die unter dem Titel „Der große Künstler des kleinen Formats“ stehende Schau im Obergeschoss des Museums dem 1726 in Danzig geborenen Grafiker Daniel Chodowiecki.

Interessenten, die womöglich ob der pandemischen Lage gegenwärtig noch vor einer Reise in die Bundeshauptstadt absehen, sei die attraktive Website, die einen virtuellen Rundgang anbietet, ebenso ans Herz gelegt wie das zur Neueröffnung erschienene und gleichfalls ansprechend gestaltete Buch „Refuge Berlin Brandenburg. Migration und Leben der Hugenotten 1672 bis heute“. Dessen inhaltliche Ausrichtung entspricht den programmatischen Orientierungen, die auch die neue Dauerausstellung prägen; daher erscheint es sachgemäß, an dieser Stelle Buch und Ausstellung gemeinsam zu betrachten. Einem Katalog-Teil vorgeschaltet findet sich eine Aufsatzsammlung, die einen Überblick gibt über „Verfolgung und Flucht der Hugenotten und ihre Aufnahme in Brandenburg-Preußen“ (Susanne Lachenicht) und das Edikt von Potsdam (Matthias Asche) sowie die Geschichte der Französischen Friedrichstadtkirche (Klaus Merten) beleuchtet.

Sodann wird der Band eröffnet von einem Beitrag des Historikers Etienne François, der dazu gewonnen werden konnte, die „Hugenottengeschichte als deutsch-französische und europäische Geschichte“ zu interpretieren. Dies entspricht dem Paradigmenwechsel von einer nationalen zu einer europäischen Geschichtsdeutung, der sich in den zurückliegenden Jahren auch in der Kulturarbeit nach § 96 BVFG durchgesetzt und in der Arbeit der ostdeutschen Landesmuseen bewährt hat. Dem mit der Migration der Hugenotten einhergehenden Kulturtransfer wie der heutigen Bedeutung der in hugenottischer Tradition stehenden reformierten Gemeinden und ihrer Glieder als Mittler zwischen Deutschland und Frankreich spürt auch die Ausstellung nach.

Eine weitere Parallele zur ostdeutschen Kulturarbeit tut sich im Bewusstsein für Fragen der Geschichtsrezeption und Identitätsbildung auf. So nimmt ein Aufsatz von Alexander Schunka „Hugenottische Erinnerungskulturen“ in den Blick. Darum bemüht sich – in einer durchaus selbstkritischen Haltung – auch das Museum, indem es dem Besucher ermöglicht, parallel zur Darstellung des historischen Schicksals der Hugenotten die Herausbildung hugenottischer Selbstdeutungen nachzuvollziehen. Dies gelingt in besonders spannender Weise für das 19. Jahrhundert, in dem hugenottische Identität und deutscher Nationalismus eine aufschlussreiche Amalgamierung erfuhren.

Eine dritte Gemeinsamkeit prägt – erkennbar museumsdidaktisch motiviert – vornehmlich die Dauerausstellung und weniger den Katalog: die Aktualisierung des Themas historischer Vertriebenengruppen durch das Aufzeigen von Bezügen zu aktueller Zwangsmigration. So wird etwa die auf die Flucht mitgenommene Reisetruhe der Familie Bousset mit der Abbildung einer Flüchtlingsgruppe unserer Zeit kombiniert. Abzuwarten bleibt aber noch, wie die zugehörige Medienstation – die wie andere digitale Angebote der Ausstellung leider nicht bis zur Eröffnung fertiggestellt werden konnte – späterhin Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen heutigen und historischen Zwangsmigranten konkretisieren wird.

Somit erscheint auch ein wiederholter Besuch dieses aus dem Dornröschenschlaf erwachten Museum als durchaus reizvoll.

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2022.

Leben und Sterben im Zeichen des Auferstandenen

Klaus Killisch und Markus Rheinfurth interpretieren mit einer Installation die „Auferstehung Christi“

Von Tilman Asmus Fischer

„Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich.“ Mit diesen Worten endete ursprünglich das Markusevangelium im 8. Vers des 16. Kapitels. Dass die Frauen, welche das leere Grab entdeckten, die Botschaft nicht weitersagten, war für die Tradenten des Textes derart unbefriedigend, dass sie den uns vertrauten sekundären Markusschluss an den ursprünglichen anfügten. Damit freilich nahmen sie dem Evangelium seine ursprüngliche Pointe, adressierte das abrupte Ende in Vers acht doch den Hörer bzw. Leser des Evangeliums. Wie stellt er sich selbst zur Botschaft der Jünglings – „Er ist auferstanden…“ – und seinem Auftrag – „Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat“?

Welche Konsequenzen ziehen wir aus der Botschaft der Auferstehung Jesu für unser eigenes Leben? Begeben wir uns in die Nachfolge? – Die hiermit angesprochene existenziale Dimension des Evangeliums ist, wie gezeigt, im Zuge der Textüberlieferung abgeschwächt worden, aber sie ist nicht verloren gegangen. Artikuliert wird sie immer wieder – und nicht nur in Theologie und Wortverkündigung. Eine spannende künstlerische Annäherung stellt die Installation „fragments“ von Klaus Killisch und Markus Rheinfurth dar, die noch bis zum 21. März in der rekonstruierten Grabkapelle für Johann Andreas von Kraut und seine Ehefrau Anna Ursula in der Berliner Nikolaikirche zu sehen ist. Nicht wiederhergestellt werden konnte nach Kriegszerstörung von dem 1725 vollendeten Gesamtkunstwerk Johann Georg Glumes die barocke Decken- und Wandmalereien. Letzte zeigte die „Auferstehung Christi“. Diese Leerstelle bietet gegenwärtig neun Künstlerinnen und Künstlern den Raum, nacheinander ihre Auseinandersetzungen mit dem verlorenen Gemälde und seiner Thematik zu präsentieren.

Die Interpretation durch Killisch und Rheinfurth ist dominiert durch das grelle Licht einer blauen Neonröhre, welche die Bildfläche durchzieht. Man mag sich durch sie an den sich öffnenden Himmel bei der Taufe Jesu erinnert fühlen – womöglich aber auch an den Riss, der beim Tod Jesu durch den Vorhang des Jerusalemer Tempels geht. In Jesu Wirken, Leiden, Sterben – aber ebenso in seiner Auferstehung offenbart Gott seinen Willen zum Heil der Welt und bricht mit dieser Offenbarung in das Leben desjenigen herein, der sich von dieser Offenbarung ansprechen lässt. Und wer von dieser Offenbarung her die Wirklichkeit wahrnimmt, kann in ihr Zeichen und Hinweise des göttlichen Wirkens entdecken, ebenso wie im Kunstwerk zwischen dynamisch changierenden Farbflächen die Grabtücher Jesu sichtbar werden.

Selbst sind diese im Farbton des Marmors gehalten, der die restliche Kapelle und vor allem das Krautsche Grabmal dominiert. Womöglich ein Hinweis darauf, dass der Raum des Kunstwerkes als christliche Grabkapelle bestimmt war von einem Leben, dass sich eben auf den Gekreuzigten und Auferstandenen bezogen wusste. Oder wie es der Heidelberger Katechismus formuliert: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? – Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.“

In ähnlicher Form erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 5/2022.

Museum Nikolaikirche, Berlin-Mitte; Öffnungszeiten: Di bis So, 10 bis 18 Uhr; Eintrittspreis: 5/3 Euro (bis 18 Jahre Eintritt frei); http://www.stadtmuseum.de/nikolaikirche

Bischof der geteilten Stadt

Vor der Wende rang Alfred Kardinal Bengsch um Ost und West. Das Porträt eines ‚Theologen der Einheit‘

Von Tilman Asmus Fischer

Zur Zeitgeschichte des Erzbistums Berlin sind gegenwärtig wichtige Veröffentlichungen zu vermerken. Bereits vergangenes Jahr waren posthum die Memoiren Joachim Kardinal Meisners erschienen, der von 1980 bis 1989 Bischof in der geteilten Stadt gewesen war. Heuer unternimmt nun die neue Monografie des Kirchenhistorikers Stefan Samerski den verdienstvollen Versuch, die Lücke zwischen dem umfangreich erforschten Julius Kardinal Döpfner (Berliner Bischof 1957–1961) und Meisner zu füllen: Mit „Alfred Bengsch. Bischof im geteilten Berlin“ legt Samerski zu dessen 100. Geburtstag bzw. dem 60. Jahrestag seiner Inthronisation eine Biografie des wohl prägendsten Berliner Oberhirten der Vorwendezeit vor.

Erzbischof Dr. Alfred Kardinal Bengsch 1978 in Erfurt
(Bundesarchiv, Bild 183-T0924-0004 / Ludwig, Jürgen / CC-BY-SA 3.0)

Das Buch war mit Interesse zu erwarten gewesen, kommt Bensch doch zum einen im kollektiven Gedächtnis des mitteldeutschen Katholizismus die Rolle einer bedeutenden Führungspersönlichkeit zu; zum anderen waren seine ekklesiologisch konservativen Positionen sowie seine politische Abstinenz stets auch Gegenstand deutlicher Kritik. Samerski bedient weder ein hagiographisches Narrativ, noch zeichnet er Bengsch als Dunkelmann. Vielmehr wählt er den Weg einer sachlich-positivistischen Lebensdarstellung, die sowohl die Bedeutung des Kardinals als auch die Ambivalenzen benennt, die sich damit verbanden, als Oberhirte unter den Bedingungen eines kirchenfeindlichen Regimes zu agieren. Dabei stützt sich Samerski auf einen umfangreichen Bestand an Druckerzeugnissen, Archivalien und selbstgeführten Zeitzeugeninterviews. Freilich hat der gewählte Zugriff den Preis, dass bisweilen unterschiedliche Perspektiven der Quellen auf Bengschs Persönlichkeit und Wirken nebeneinander und in Spannung zueinander stehen, ohne gewichtet oder an eine These des Biographen rückgekoppelt zu werden.

Vor allem ist jedoch zu würdigen, dass Samerski nicht der naheliegenden Versuchung erliegt, seine Bengsch-Biografie – aufgrund der Brisanz der ihren Hintergrund bildenden deutschen Teilungsgeschichte – auf die kirchenpolitische Figur zu reduzieren. Vielmehr reflektiert er nachhaltig Bengsch als Theologen sowie die theologischen Motive seines Handelns. Dies gilt zum einen für die bereits früh entwickelte kreuzestheologische Prägung Bengschs. So würdigt Papst Benedikt XVI. als der wohl prominenteste zitierte Zeitzeuge dessen theologisches Profil im Kontext der Nachkriegszeit: „Gegenüber der damals vorherrschenden einseitigen Orientierung an der Inkarnation hat Bengsch das Kreuz als den Richtpunkt der Theologie herausgestellt.“ Zum anderen tritt in dem von Samerski gezeichneten Porträt des Kardinals deutlich die ‚Einheit‘ als zentrales Motiv von Theologie, Ekklesiologie und folglich auch des kirchenpolitischen Wirkens Bengschs hervor. Dies bedeutete nicht zuletzt das permanente Ringen des Erzbischofs um das eine Bistum in Ost und West – also um den Erhalt des kirchenpolitischen Status quo. Dass dieser nicht zuletzt durch eine politische Abstinenz erkauft wurde, die der Oberhirte nicht nur selbst übte, sondern auch in seinem Einflussgebiet rigide durchsetzte, verschweigt der Autor nicht.

Das kirchenpolitische Vermächtnis Bengschs tritt bei Samerski nicht nur hinsichtlich der Diözese des Kardinals, sondern gerade auch unter weltkirchlicher Perspektive in den Blick. Dies gilt zum einen für die ausführlich gewürdigte Beteiligung Bengschs am Zweiten Vatikanischen Konzil. Zum anderen trägt die Lebensdarstellung ganz deutlich die Handschrift ihres – durch wichtige Forschungen zur ostmitteleuropäischen Kirchengeschichte hervorgetretenen – Verfassers, wo in besonderer Weise die Verbundenheit des Berliner Bischofs zu den Geschwistern in anderen Ostblock-Staaten hervorgehoben wird. Diese, sowie die eigene Lage in der „DDR“ brachte ihn Teils in deutliche Opposition zur unter dem Pontifikat Pauls VI. entwickelten vatikanischen Ostpolitik, die über die Köpfe des örtlichen Klerus hinweg auf direkte Verhandlungen zwischen Vatikan und Ostblock-Regierungen setzte. Zudem entwickelte Bengsch, wie Samerski an vielen Beispielen zeigt, eine „persönliche Ostpolitik“ auf der Grundlage persönlicher Beziehungen, nicht nur zum Krakauer Erzbischof und späteren Papst Johannes Paul II., sondern auch in die Tschechoslowakei oder nach Litauen.

Auf Ambivalenzen mag – neben den oben ausgeführten Aspekten – auch hinweisen, was das Buch für die gegenwärtige Diskussion um sexuellen Missbrauch im kirchlichen Kontext austrägt. Dass diese – tagespolitisch brisante – Passage kurz ausfällt, ist der Tatsache geschuldet, dass das grundlegende juristische Gutachten „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich des Erzbistums Berlin seit 1946“ erst kurz vor Fertigstellung des Buchmanuskripts veröffentlicht wurde. Zwei Fallbeispiele, die Samerski nachverfolgt, deuten darauf hin, dass Bengsch in entsprechenden Fällen nicht tatenlos blieb, jedoch auch nicht zu einer Aufklärung im engeren – und erst recht strafrechtlichen – Sinne beitrug. Man wird sich jedoch dem Votum des Biografen anschließen müssen: „Zukünftige historische Studien müssen auch hier Klarheit und Einordnung bringen.“

Das ist auch für einzelne Aspekte der Staat-Kirche-Beziehungen in der DDR unter Bengsch in Anschlag zu bringen und gilt ganz gewiss für den Einfluss der beiden Prälaten Paul Dissemond (1920–2006; Generalsekretär der Berliner Bischofskonferenz) und Gerhard Lange (1933–2018; Beauftragter für die Kontakte zur DDR-Regierung) für die Amtsführung Bengschs. In seinen Memoiren hatte Meisner erhebliche Kritik an deren Staatsnähe und negativer kirchenpolitischer Einflussnahmen erhoben. Leider verzichtet Samerski auf eine tiefergehende Einordnung dieser auch die Amtszeit von Meisners Vorgänger betreffenden Vorwürfe aus kirchenhistorischer Perspektive.

Stefan Samerski, Alfred Bengsch, Bischof im geteilten Berlin, Herder, Freiburg i. Br. 2021. 256 Seiten, ISBN 978-3-451-38820-0, 38 Euro.

In ähnlicher Form erschienen am 7. Oktober 2021 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

Eine Ode an das Europa der Aufklärung

Die Katholische Akademie in Berlin zeigt unter dem Titel „Luoghi e tempi – Orte und Zeiten“ Werke von Tanja Nittka

Von Wen-Ling Chung und Tilman A. Fischer

Es mag wenige Landstriche geben, in denen dem für Europa prägenden Geist von Aufklärung und Humanismus – sowie des ihnen Ausdruck verleihenden Klassizismus – in ähnlicher Weise nachzuspüren ist wie in einigen Gegenden Italiens. Die Berliner Künstlerin Tanja Nittka hat ebendiese Spurensuche an den Comer See, in der Lombardei und nach Mailand geführt. Die hierbei entstandenen Gemälde zeigen die Katholische Akademie in Berlin sowie die Pax-Bank in der Ausstellung „Luoghi e tempi – Orte und Zeiten“.

Ein der Mailänder Biblioteca Ambrosiana gewidmeter Zyklus ist etwa im Vorraum der Akademie-Kirche St. Thomas von Aquin zu sehen. Auf den einem realistischen Malstil verpflichteten Gemälden stehen viele Bücher in Regalen, die Titel der Bücher sind nicht zu erkennen. Aber sie zeigen die Spuren jahrhundertelangen Gebrauchs – sind Zeugnis einer geistigen und geistlichen Tradition. Diese Regale und Bücher befinden sich im Schatten oder außerhalb des Tageslichts und werden mit gedämpftem Licht beleuchtet. Die Künstlerin hat eine dünne Ölmaltechnik verwendet, um Licht und Schatten in einem realistischen Stil darzustellen. Was an Nittkas Gemälden auffällt: Es ist niemand auf dem Bild zu sehen. Nur Bücher, Tische und Stühle. Hier stehen tatsächlich „Orte und Zeiten“ im Zentrum des Fokus und warten darauf, (neu) entdeckt zu werden.

Ein vielleicht etwas nüchterneres Umfeld als bei St. Thomas von Aquin umgibt die in der Pax-Bank gezeigten Kunstwerke: Die Gemälde befinden sich in der Eingangshalle und im Korridor des Bürogebäudes. Einige der Werke zeigen neuerlich Bibliotheksszenen. Die hier präsentierten Gemälde bieten jedoch eine ‚menschlichere‘ Atmosphäre. Dies liegt vor allem daran, dass die Künstlerin hier einen anderen Blickwinkel wählt: Es handelt sich nicht mehr um einen niedrigen Blickwinkel, der die Detailstudien aus einer Bibliothek prägt, sondern um den Blick einer stehenden Person, die sich umschaut. Eine andere Gruppe von Werken ist von Grün umgeben: Es gibt kräftig grüne Balkone und Ecken im Park. Es mag Hochsommer sein, die grünen Blätter sind üppig und die Schatten sind hell. In zentraler Hinsicht bleibt sich die Künstlerin jedoch treu: Es gibt keine Personen und die Szenerie ist immer noch von einem nebligen Ton überzogen, auch wenn es heller Mittag ist. So sind die Besucherinnen und Besucher auch hier eingeladen, mit dem eigenen Auge alleine in der Bibliothek, in der Villa Vigoni oder durch den saftig grünen Wald zu wandeln. Alles ist still, einsam, und ruhig.

Weitere Informationen: https://www.katholische-akademie-berlin.de/aktuelles/luoghi-e-tempi-orte-und-zeiten/

In ähnlicher Form erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung 39/2021.

Sprachstudium im Dreiländereck

Deutschland fördert die polnische Sprache am Kompetenz- und Koordinationszentrum Polnisch im sächsischen Ostritz

Von Tilman Asmus Fischer

Dreißig Jahre nach Überwindung der Spaltung Europas haben die Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarstaaten eine bisher einmalige Qualität erreicht – trotz aller aktuellen politischen Spannungen. Dies gilt insbesondere für das Feld der Zivilgesellschaft und der grenzüberschreitenden Kulturvermittlung. Besonders spürbar ist dies im Länderdreieck zwischen Deutschland, Polen und Tschechien, deren gemeinsame Geschichte nicht frei von Belastungen ist. Vielfältig sind inzwischen die kommunalpolitischen, ökonomischen, sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen über die einst trennenden Grenzen in dieser europäischen Kulturlandschaft hinweg. Hierzu trägt auch die wechselseitige Präsenz der Sprachen der Nachbarländer in den drei Grenzregionen bei.

Ein Ort, an dem dies spürbar wird, ist das Internationale Begegnungszentrum (IBZ) Sankt Marienthal. Beheimatet ist es auf dem Gelände des Zisterzienserinnenklosters Sankt Marienthal im sächsischen Ostritz, das seinen Aufbau nach der Wende unterstützte. Seit fast 30 Jahren ist es ein wichtiger Träger für Umwelt- und Familienbildung im deutsch-polnisch-tschechischen Dreiländer-Eck. Und seit 2019 ist es nun Sitz eines neuen Akteurs der deutsch-polnischen Nachbarschaftsarbeit: des „Kompetenz- und Koordinationszentrums Polnisch“ (KoKoPol). Es wurde im Sommer offiziell eröffnet. Das vom Auswärtigen Amt sowie dem sächsischen Freistaat geförderte Institut verfolgt die Aufgabe, die Kenntnis der polnischen Sprache in Deutschland zu verbreiten.

Gründe für die Ansiedlung des KoKoPol am IBZ, erläutert IBZ-Vorstandsvorsitzender Michael Schlitt, „waren dessen Lage im Freistaat Sachsen unmittelbar an der deutsch-polnischen Grenze, die Beteiligung des IBZ an der Finanzierung und Vorfinanzierung von KoKoPol sowie die langjährige Erfahrung des IBZ im Bereich der deutsch-polnischen Zusammenarbeit“. Das IBZ verfüge zudem nicht nur über Erfahrungen im Aufbau von Organisationen, sondern ebenso über „die notwendigen deutsch-polnischen Netzwerke sowie über ein beträchtliches Know-How in der Durchführung von Veranstaltungen, Workshops, Tagungen und Kongressen“.

Mit seiner Zielsetzung steht das KoKoPol nicht allein da. Bereits seit langem unterstützt die öffentliche Hand in Deutschland die Förderung der polnischen Kultur und Sprache. Damit entspricht sie ihrer Verantwortung für die lange historische Tradition, welche die polnische Volksgruppe in Deutschland hat. Anders als die Deutschen in der Republik Polen, zu dessen Territorium die 1991 abgetretenen deutschen Ostgebiete (mit den dort heimatverbliebenen autochthonen Deutschen) gehören, stellen die deutschen Staatsbürger polnischer Abstammung in der Bundesrepublik jedoch keine anerkannte nationale Minderheit dar. Daher erfolgen öffentliche Maßnahmen zur Förderung ihres Kulturlebens und der polnischen Sprache seitens der Bundesrepublik aus freier Entscheidung und entsprechen – anders als die Förderung der deutschen Volksgruppe durch die Republik Polen – nicht gesetzlich verbrieften Minderheitenrechten.

Die Breite an Förderinitiativen für die polnische Sprache sollen in der ersten Arbeitsphase des KoKoPol nun zunächst einmal von diesem erfasst und der Öffentlichkeit transparent publik gemacht werden. Zudem vernetzt und unterstützt das KoKoPol eben diese Aktivitäten sowie Einrichtungen und berät öffentliche wie privatwirtschaftliche Einrichtungen bei deren Bedarfen an polnischer Sprachkompetenz. Gemeinsam mit anderen Partnern ausgerichtete Fachtagungen sollen späterhin der Reflexion und dem Erfahrungsaustausch im Bereich der Sprachvermittlung dienen.

Neben der Kooperation mit anderen Trägern hat KoKoPol bereits ein eigenes Angebot an Sprachkursen entwickelt, die sich an Manager, aber gerade auch an staatliche Bedienstete aus Diplomatie, Regierungsverwaltung, Polizei und Schule richten. In der Lehrerschaft wendet sich das Angebot gerade an solche Lehrer, deren Klassen einen hohen Anteil an Schülern mit polnischer Herkunftssprache aufweisen. Diesen bietet das KoKoPol eine einwöchige Fortbildung, die durch Erwerb polnischer Grundkenntnisse ihre interkulturelle Kompetenz steigern soll. Neben Lehrern wird aber auch auf Schüler aus deutsch-polnischen Elternhäusern als Multiplikatoren gesetzt, die sich zu „Sprachanimateuren“ ausbilden lassen können, um als solche „mittels einfacher spielerischer Methoden in gemischten Klassen die Distanz zu Polnisch als einer unbekannten Nachbarsprache abzubauen“, so die Angebotsbeschreibung. Wie ambitioniert das angestrebte Spektrum eigener Tätigkeiten ist, zeigt ein Blick in die selbstgesetzten Maßnahmenbereiche des KoKoPol. Diese reichen von der Präsentation von Ausstellungen über „Polnisch als Herkunftssprache für polnischstämmige Schüler“ bis hin zu „Polnisch für zivilgesellschaftlich Aktive in Politik, Städte- und Kirchenpartnerschaften, Deutsch-Polnischen Gesellschaften u.a.“.

„Das IBZ verfügt über langjährige Kooperationen mit kirchlichen Trägern wie etwa dem Caritasverband des Bistums Dresden-Meißen“, erläutert Schlitt. Die Angebote von KoKoPol richteten sich zwar nicht an einzelne Bürgerinnen und Bürger. Jedoch gebe es Angebote, „die sich speziell an die zahlreichen deutsch-polnischen Partnerschaften von Kirchengemeinden richten“: „Die Förderung dieser Partnerschaften wie die der Städtepartnerschaften durch die Vermittlung der polnischen Sprache ist ein wichtiges Anliegen von KoKoPol. Dazu wird es bereits im nächsten Jahr die ersten konkreten Angebote geben.“

Einen ersten Eindruck von den bisher entfalteten Aktivitäten des KoKoPol sowie seinen Kooperationspartnern bietet die erste Ausgabe des hauseigenen – natürlich bilingualen – Magazins „Polonus. Zeitschrift für die polnische Sprache“, das von dem emeritierten Linguistik-Professor Aleksander-Marek Sadowski betreut wird und auf der Internetseite des Zentrums zum Download zur Verfügung steht.

Erschienen am 12. November 2020 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).