Politischer Gestaltungswille

Studie nimmt Europapolitik der Republik Polen in den Blick

„In seiner Grenzlage hat Polen ein starkes Interesse an der Stabilisierung des europäischen Projekts sowie an der Wahrung seiner Reichweite und Offenheit.“ Zu diesem – das gängige Bild der polnischen Regierungspolitik konterkarierenden – Urteil kommt Ryszarda Formuszewicz – Leiterin des Projekts „Europäischer Dialog – Europa politisch denken“ der Stiftung Genshagen – in ihrem Aufsatz zur aktuellen polnischen Europapolitik, der im Jahrbuch der Europäischen Integration 2016 (S. 553–558) des Instituts für Europäische Politik erschienen ist.

Die Analyse nimmt ihren Ausgangspunkt bei den Rahmenbedingungen der polnischen Innenpolitik, die ganz wesentlich aus den Erfolgen der PiS (Recht und Gerechtigkeit) in den zurückliegenden Wahlen resultieren. Die hieraus folgende Besetzung politischer Spitzenposten spiegelt das von Formuszewicz identifizierte Ziel der Regierung, „Industrie und Innovationskraft zu stärken“. Bei dem begonnenen grundsätzlichen Umbau des Staates habe die PiS sich als „durchsetzungsstark“ erwiesen und „ein hohes Maß an Selbstbehauptung mit Berufung auf das demokratische Mandat“ entwickelt.

Die aus ebendiesem Umbau des Staates resultierenden Konflikte zwischen der polnischen Regierung auf der einen und der polnischen Opposition sowie EU-Organen auf der anderen Seite zeichnet Formuszewicz nach – mit dem Resultat, dass die schließlich im Juni vom Europaparlament verabschiedete Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit in Polen das Ansehen Polens „beschädigt“, die polnische Regierung hingegen „standhaft die Ansicht [vertreten habe], dass es sich um eine interne Angelegenheit handele“. Dabei werden die vielfältigen zivilgesellschaftlichen Proteste in Polen als Faktor des politischen Diskurses von der Autorin allerdings weitestgehend ausgeblendet.

Deutlich überzeugender ist die Analyse der polnischen Position in der europäischen Flüchtlingspolitik und deren unterschiedlichen Beweggründe – von Zweifeln an einer „Durchsetzbarkeit“ eines Verteilungsmechanismus „ohne begleitende Zwangsmaßnahmen, die die Flüchtlinge in den jeweiligen Ländern halten sollten“, bis hin zu Selbstbehauptungsversuchen, „die eigene Entscheidungsmacht in der Asylpolitik zu bewahren“. Vor allem zeigt die Autorin auch konstruktive Ansätze der polnischen Flüchtlingspolitik auf – hinsichtlich der konzeptionellen Hinwendung zur Ursachenbekämpfung und konkreter Beiträge zur Sicherung der Außengrenze.

Es gelingt Formuszewicz, darzulegen, dass die polnische Regierungspolitik trotz aller Spannungen zwischen Warschau und Brüssel bzw. Straßburg weniger durch eine grundsätzliche Ablehnung der EU als vielmehr durch eine Europa-Konzeption geprägt ist, die einerseits zwar föderativen Strukturen und einer vertieft en Integration kritisch gegenübersteht, andererseits jedoch für einen gemeinsamen Binnenmarkt eintritt und vor allem die „Sicherheit Polens in der NATO“ im Blick hat. Von dieser Prioritätensetzung her scheinen die von Formuszewicz aufgewiesenen intensiven Kooperationen Polens mit Großbritannien, den Visegrád- Staaten und der NATO folgerichtig.

Diese Prioritätensetzung findet sich auch in der Analyse der Wirtschafts- und vor allem Energiepolitik Polens im europäischen Kontext wieder: So habe Polen – unter Mobilisierung anderer Nationalstaaten – entschlossen gegen Maßnahmen gewirkt, „die man als Bedrohung für die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes beurteilte“. Die so empfundene Bedrohung der ostmitteleuropäischen Staaten durch Russland prägt die Anlehnung an die NATO ebenso wie das Vorgehen gegen das Pipeline-Projekt „Nord Stream 2“¬, das – so Formuszewicz – „zur kritischen Debatte“ im Europäischen Parlament geführt habe.

Insgesamt gelangt die Rechtswissenschaftlerin zu der Einsicht, dass die PiS – angesichts der Schwächung des ‚eurorealistischen‘ Lagers durch den Brexit – „umso mehr aktiv zur Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union beitragen“ wolle. In Konsequenz dieses Gestaltungswillens habe sie inzwischen sogar grundsätzlich „die Bedeutung der europäischen Integration für den Zusammenhalt des Westens“ anerkannt. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Herausforderungen des Jahres 2017 auf das Bild der polnischen Europapolitik, wie es Formuszewicz gezeichnet hat, auswirken werden.

Tilman Asmus Fischer

Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld / Prof. Dr. Wolfgang Wessels (Hrsg.): Jahrbuch der europäischen Integration 2016, Nomos Verlag, BadenBaden, 2016, 611 S., brosch., ISBN 9783848732005, € 84,–

Erschienen in Der Westpreuße – Unser Danzig 2/2017.

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