Jahresringe und Skelette

Berlin ist älter, als es die 775 Jahresfeier vermuten lässt

Von Tilman Asmus Fischer

Berlin feiert seinen 775. Geburtstag – Anlass gibt die urkundliche Ersterwähnung Cöllns im Jahre 1237. Da „Fest zur urkundlichen Ersterwähnung“ weniger ansprechend klingt, spricht der Volksmund lieber vom Geburtstag, das ist verständlich. Ebenso verständlich ist, dass diese Ungenauigkeit redliche Archäologen und Historiker auf den Plan ruft. Sie belegen, dass die Geburtsstunde der Stadt mehr oder weniger weit vor der ersten überlieferten Nennung liegt.

Das beweisen Funde bei Ausgrabungen am Petriplatz. Vielmehr die sogenannte Radiokarbondatierung der gefundenen Leichname und die dendrochronologische Auswertung von Holzfunden. Wie jedoch funktioniert das? Jeder Organismus speichert zu Lebzeiten eine konstante Menge radioaktiver Kohlenstoffatome (C14), Radiokarbon. Nach dem Tod zerfällt der Kohlenstoff nach und nach. Findet man ein Skelett, misst man die enthaltene Menge C14. Nun kann man rückwärts berechnen, wie lange der Kohlenstoff gebraucht hat, um sich auf diese Menge zu reduzieren. So erfährt man, wie lange der Organismus schon tot und wie alt das Skelett ist.

Die Dendrochronologie wiederum arbeitet mit der Erkenntnis, dass aufgrund jahresspezifischer Wachstumsbedingungen die Ringe, um die ein Baum Jahr für Jahr wächst, eine ganz bestimmte Breite haben. Daher geben die Jahresringe eines bei einer Grabung gefundenen Holzstücks Auskunft darüber, aus welchen Jahren der Baum stammt. Diese beiden Analyseverfahren hat Claudia Maria Melisch, freie Mitarbeiterin des Landesdenkmalamtes Berlin, nun durchgeführt. „Die C14-Daten einiger unserer Skelette sind älter als Berlin und Cölln“, erklärt sie. „Die bislang ältesten Personen sind um 1212 bis 1218 gestorben. Es gibt jetzt noch ein neues dendrochronologisches Datum vom Petriplatz von etwa 1203. Also kann man sagen, dass die Siedlung schon da bestanden hat.“

Womöglich siedelten im Umfeld der Museumsinsel bereits lange zuvor Menschen. Für das Gebiet des Landes Berlin sind slawische Burgstädte bereits im 9. und 10. Jahrhundert belegt. Jedoch unterscheiden sich solche Siedlungen von dem, was Historiker als Rechtsstadt bezeichnen, denn es fehlen die von einem Landesherren verliehenen Stadtrechte. Daher belegt die Ersterwähnung Cöllns nicht, dass sich erst seit 1237 im heutigen Berlin-Mitte das Zusammenleben von Menschen entwickelte. Vielmehr legt sie Zeugnis davon ab, dass dieser Siedlungsplatz zu dieser Zeit den Schritt hin zu dem vollzog, was als Stadt (eben mit Stadtrecht) bezeichnet wird.

Fraglich ist jedoch, warum das Land Berlin diese Ersterwähnung zum Anlass nimmt, Geburtstag zu feiern. Sicher ist es ein schönes Bild, sich vorzustellen, dass der städtische und der historische Kern identisch sind. Der Historiker Winfried Schich hat jedoch gezeigt, dass die Region, die heute das Land Berlin umfasst, vielmehr von ihren Rändern her erschlossen wurde: mit Spandau im Westen und Köpenick im Osten, die beide bereits vor Cölln Erwähnung fanden. Dabei ging es primär um die forst- und landwirtschaftliche Erschließung des Raums und seiner Ressourcen; hierfür wurde mit Cölln ein Handelsplatz zwischen den beiden bereits bestehenden Zentren Spandau und Köpenick geschaffen.

Dass diese letzte der drei zusammenhängenden Gründungen Spandau, Köpenick und Cölln-Berlin bald aufblühte, zudem als Residenzstadt der Kurfürsten, steht außer Frage. Das belegen nicht zuletzt die Ruinen des Grauen Klosters, zeugt doch die Anwesenheit der Franziskaner vom Gedeihen einer Stadt, deren Bürger den Bettelorden mit Almosen unterhalten konnten.

So kann das Land Berlin wenn die 775-jährige Ersterwähnung Cöllns gefeiert wird mit einigem Stolz auf die vergangenen Jahrhunderte zurückblicken – dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, wie sich vor Jahrhunderten tatsächlich die Entwicklung dieses Kulturraums vollzog.

Erschienen in: Die Kirche – Evangelische Wochenzeitung, Nr. 44, 28. Oktober 2012.

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