Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich fragt nach dem Zustand der Kunst. Schönheit ist heute Konsumprodukt, Mode, Design oder auch eine Form des politischen Aktivismus
Von Tilman Asmus Fischer
Immer wieder gelingt es dem Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich, mit Texten an die Öffentlichkeit zu treten, denen nicht nur im Fachdiskurs seiner akademischen Disziplin die berechtigte Aufmerksamkeit sicher ist, sondern die zugleich immer auch das Potenzial in sich tragen, einen durchdachten Beitrag zur Selbstaufklärung einer breiteren interessierten Leserschaft zu leisten. Dies gilt auch für seine jüngste Monografie: „Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie“. Der Titel klingt zwar etwas abstrakter und nüchterner als „Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung“ (2013) oder „Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur“ (2017). Doch bestätigt eine der mit größter Verve medial ausgetragenen Debatten dieses Jahres, dass es Ullrich auch hier gelungen ist, mit dem Finger am Puls der Zeit eine kunstwissenschaftliche Fragestellung mit Gegenwartsrelevanz zu identifizieren: Kurz vor Eröffnung der Documenta erschienen, liest sich das Buch so, als habe der Autor den Antisemitismus-Skandal vorhersehen können – bzw. erhellt Ullrich einen fundamentalen Paradigmenwechsel im zeitgenössischen Kunstverständnis, der auf einer tieferen Ebene verständlich macht, wie es zu dem Eklat hatte kommen können.
Gemeint ist der Übergang von einem gut 200 Jahre im Westen dominanten autonomen zu einem nicht-autonomen Kunstverständnis. Dabei stilisierte das Autonomie-Ideal Kunst als eine von allen anderen gesellschaftlichen Sphären unabhängigen Bereich, in dem eigenen Gesetzen folgend Werke geschaffen werden, die nicht Totalität für sich beanspruchen, sondern zudem ihren Betrachter zu transzendieren vermögen. Kunst ist in diesem Sinne nur Kunst und nicht auch oder zugleich Design, Konsumprodukt oder anderweitig externen Ansprüchen unterworfen. An die Stelle dieses Kunstbegriffs ist ein solcher getreten, der, wie Ullrich nachzeichnet, ganz bewusst die Grenzen zu anderen Bereichen aufbricht und für den gilt, „dass Kunst heute dann besonders geschätzt wird, wenn sie zugleich etwas anderes ist“ – also ein Konsumprodukt, Mode, Design oder eben auch eine Form des politischen Aktivismus.
Der Kunstwissenschaftler bekennt, dass er diesen Umbruch selbst wie einen „Filmriss“ wahrnehme: „Auf einmal wirken Ideen und Ansprüche autonomer Kunst, die die gesamte westliche Moderne prägten, die oft maßlos und radikal, oft aber auch befreiend waren, fremd und wie aus der Vergangenheit.“ Das Buch will verstanden werden als der Versuch des Verfassers, sich „in dieser Welt zurechtzufinden“ – und man kann ihm nur danken, dass er den Leser in wissenschaftlich präziser wie zugleich allgemeinverständlicher (und nicht zuletzt auch unterhaltsamer) Sprache an diesem Orientierungsversuch teilhaben lässt. Denn die Lektüre vermag ein sich immer wieder diffus artikulierendes oder in einem plumpen „Ist das Kunst oder kann das weg?“ bahnbrechendes Hadern mit der zeitgenössischen Kunst zu dechiffrieren als Ausdruck eben dieses Filmrisses, als den wenn schon der Kunstwissenschaftler, dann erst recht der interessierte Laie den Wandel im Kunstbegriff erleben dürfte. Diese Klärung vollzieht Ullrich in zwei Schritten, indem er zunächst fragt: „Was hat die Idee autonomer Kunst geschwächt?“ – um hieran anzuschließen: „Wie sieht die neue Kunst(welt) aus?“
Der ersten Frage nähert er sich aus drei Blickrichtungen: Zunächst zeigt er ideengeschichtlich auf, dass der Begriff autonomer Kunst „eine Erschöpfung und Entleerung erfahren [hat], worauf reagiert wurde, indem man Kunst mit Qualitäten anderer Bereiche neu auflud“. Sodann fokussiert der Autor die Konsequenzen der Globalisierung für den Kunstmarkt, „auf dem es um die Eignung von Kunst als Markenprodukt“ geht, und die kuratorische Praxis, die auf die „Verknüpfbarkeit mit jeweils aktuellen, über die Kunst hinaus relevanten Diskursen“ abzielt; auf beiden Feldern wird die Idee der Autonomie dadurch relativiert, dass „transkulturell nach anderen Parametern über Aufmerksamkeit und Erfolg entschieden wird“. Drittens wählt Ullrich einen medientheoretischen Zugang, indem er zeigt, wie „die Sozialen Medien mit ihrer Binnenlogik und speziellen Aufmerksamkeitsökonomie herkömmliche Klassifizierungen und damit nicht zuletzt Grenzziehungen zwischen Kunstwerken und Artefakten, die vor allem auf Konsum und Aktivismus ausgerichtet sind“, verändern.
Die sich im Zuge dieser Entwicklungen formierende „neue Kunst(welt)“ beschreibt Ullrich zunächst hinsichtlich sowohl der „Eigenschaften und Funktionen nicht mehr autonomer Kunst“ als auch der Konsequenzen für die Institution des Museums. Abschließend bietet der Verfasser Beispiele von seiner Einschätzung nach gelungener und misslungener postautonomer Kunst. Dabei gelangt er etwa zu einer fundierten Kritik des Wirkens von Ai Weiwei, dessen spezifische Eigenschaft als Künstler angesichts der Fokussierung auf politischen Aktivismus fraglich erscheint.
Wie in anderen seiner Texte gelingt es Ullrich, mittels einer intensiven Analyse einzelner Artefakte – hier insbesondere der „Little Cloud“-Reihe von „Friends With You“ – Charakteristika post-autonomer Kunst herauszuarbeiten. Hierzu gehört neben der prinzipiellen Bedeutungsvielfalt des einzelnen Artefakts eine hiermit verbundene Stärkung der Position des Rezipienten, der nicht mehr nur Kunst (im Museum) betrachtet, sondern sie sich aneignet und sich selbst kreativ mit ihr auseinandersetzt (wenn er einzelne Artefakte etwa auf Instagram in Szene setzt). Es ist charakteristisch für die Perspektive Wolfgang Ullrichs, dass er – wie in vielen seiner Texte – auch hier auf spirituelle bzw. religiöse Dimensionen von Kunst abhebt. So kann er nicht nur das ‚therapeutische‘ Potenzial von künstlerischen Artefakten bzw. Konsumprodukten für seelisches wie gesellschaftspolitisches Enhancement würdigen; so können sie Trost spenden, wie die „Companions“ von KAWS, oder dem Sammler zu einem neuen Selbstbewusstsein verhelfen. Vielmehr gelangt er auch zu einer differenzierten kritischen Einschätzung des Ineinander von „Kommerzialisierung und Fetischisierung“ im Bereich postautonomer Kunst.
Was Ullrich hinsichtlich der Folgen des gewandelten Kunstbegriffes für die museale Praxis erläutert, dringt vor in die tieferen Dimensionen gegenwärtig eher plakativ geführter Debatten um postkoloniale und weitere identitätspolitisch motivierte Kritiken und Interventionen: „Entstanden und groß geworden im Zuge der Ideale autonomer Kunst, sind Museen ihrerseits unter Legitimationsdruck geraten, seit das, was sie sammeln und zeigen, zugleich nach mehr als nur kunstspezifischen Kriterien betrachtet und beurteilt wird.“ Ullrich stimmt weder in die Klage über „Cancle Culture“ ein, noch macht er sich extreme identitätspolitische Forderungen zu eigen. Vielmehr bietet er eine Analyse, die zur Versachlichung der Debatte beizutragen vermag.
Wolfgang Ullrich: Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022, ISBN-13: 978-380315-190-2, EUR 22,–
Erschienen am 20. Oktober 2022 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).