Katholische Selbstexegese

Die Autorin Felicitas Hoppe erhielt den Berliner Literaturpreis für ihre „Sprachkunst“, die „federleichten Humor mit tiefstem Ernst“ verbindet

Von Tilman A. Fischer

„Ich komme aus einer katholischen Familie von Tag- und Nachtträumern, von schlesischen Vielrednern auf der Flucht, die auch ihre Träume einander nicht vorenthielten; Träume, von denen ich bis heute nicht weiß, ob sie wahr oder erfunden waren, sofern man überhaupt von erfundenen Träumen sprechen kann. Denn wo, wenn nicht im Traum, sind wir der Wahrheit am nächsten?“ Mit diesen Worten stellt sich die 1960 in der katholischen Diaspora in Hameln geborene Schriftstellerin Felicitas Hoppe in ihrem Essay „Das aufgespannte Ohr Gottes“ ihren Lesern vor. Seit Erscheinen der ersten Sammlung von Geschichten Hoppes unter dem Titel „Picknick der Friseure“ 1996 ist sie aus dem deutschen Literaturbetrieb nicht mehr wegzudenken – ganz unabhängig davon, dass sie sich immer wieder aus der hiesigen Betriebsamkeit zurückzieht: in ihre Schweizer Einsiedelei oder 1997 gleich auf ein Frachtschiff, auf dem sie rund um die Welt fuhr.

In den zurückliegenden fast 30 Jahren hat Hoppe eine derartige Prägekraft entwickelt, dass ihr – nachdem sie bereits 2012 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde – heuer der Berliner Literaturpreis zuerkannt wurde, mit dem die Stiftung Preußische Seehandlung dezidiert Schriftsteller ehrt, „deren bisheriges literarisches Schaffen einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur geleistet hat“. Dies begründet die Jury mit Hoppes „Sprachkunst“, die „federleichten Humor mit tiefstem Ernst“ verbinde, „wilde Fabulierlust mit scheuem Interesse an einer Welt, die es mit den Menschen häufig nicht gut meint. Am Zustand der Wirklichkeit kann auch Felicitas Hoppes erfindungsreicher Realismus nichts ändern. Der Zauber ihrer Erzählungen aber liegt darin, dass sie uns mit dem Schwung ihrer Texte, dem Takt ihrer Sprache und der Energie ihrer Worte dazu ermuntert, den Mut und die Zuversicht nicht zu verlieren.“

Hierzu schöpft Felicitas Hoppe nicht zuletzt aus den reichen Beständen der christlichen – und bewusst auch katholischen – Tradition, der sie gleichfalls in der ihr typischen Verbindung aus ‚federleichtem Humor‘ und ‚tiefstem Ernst‘ begegnet. Das zeigt sich neben zahlreichen Auseinandersetzungen mit biblischen Stoffen vielleicht vor allem im Umgang mit den ihr besonders lieben Heiligen: Christophorus und noch mehr der Jungfrau von Orléans, der sie 2006 den Roman „Johanna“ widmete. Im Modus literarischen Schreibens vermag Hoppe immer wieder die Grenzen theologischer Orthodoxie zu überschreiten. Dies tut sie jedoch in einer großen Ernsthaftigkeit, insofern diesen Grenzüberschreitungen nichts Blasphemisches anhaftet. Vielmehr bezeugen sie das Bewusstsein sowohl für das Potenzial christlicher Glaubens- und Bildwelten zur Selbst- und Lebensdeutung als auch für die hohe Verantwortung des Schriftstellers im Umgang mit ihnen.

Dabei ist der Rückgriff auf einen christlichen Deutungshorizont kein beliebiger, sondern gründet in biographischen Erfahrungen, auf die Hoppe selbst immer wieder verweist, etwa wenn es um prägende erste Begegnungen mit der Heiligen Schrift geht: „Unsere Mutter las vor, wir zeichneten mit, während unser Vater für das Kaspertheater zuständig war, in dem Texte und Bilder in Szene gesetzt wurden“. Solche Erinnerungen sind nicht akzidentell, sondern entscheidend für Hoppes Zugriff sowohl auf Literatur als auch Religion, denn ihre „ersten Erinnerungen an die Bibel“ sind „eine unmittelbare, intuitive und unzensierte Umsetzung vom Wort in die Zeichnung, also wahrhaft phantastisch, was, der bildungssprachlichen Definition aus dem Duden folgend, bedeutet: ‚Von Illusionen, unerfüllbaren Wunschbildern, oft unklaren Vorstellungen oder Gedanken beherrscht, außerhalb der Wirklichkeit oder im Widerspruch zu ihr stehend‘; die Umgangssprache dagegen kommt den Tatsachen näher, wenn sie das Phantastische mit ‚großartig, begeisternd, unglaublich und ungeheuerlich‘ übersetzt. Von diesen großartigen, begeisternden, unglaublichen und ungeheuerlichen Geschichten ernähre ich mich in meinem Umgang mit Religion und Literatur bis heute.“

So intensiv wie bei nur wenigen anderen zeitgenössischen Schriftstellern bestätigt sich im Werk von Felicitas Hoppe somit die Beobachtung des Literaturwissenschaftlers Thomas Pittrof zum ‚Katholischen‘ in der Gegenwartsliteratur – die grundsätzlich auch für das ‚Christliche‘ in der Gegenwartsliteratur Geltung beanspruchen kann: „Vor allem in autobiographischen Zeugnissen wird das Katholische wieder erinnert, auch an überraschender Stelle, ohne dass es damit eigentlich immer bewahrt und weitergetragen werden wollte; aber als prägender Faktor des eigenen Lebensgangs ist es in wenngleich unterschiedlicher Intensität doch gegenwärtig“. Damit stehe dem „Prägnanzverlust eines ungebrochen katholischen Weltbildes“ ein „Prägnanzgewinn lebensweltlich dichter Milieubeschreibungen gegenüber, bei denen neben den belastenden Erfahrungen mit Religion im Umfeld einer katholischen Kindheit und Jugend auch deren entlastende und bereichernde Dimensionen zur Sprache kommen“. Als Beispiel für letzte Beobachtung mag Hoppen bereits eingangs zitierter Essay gelten, in dem sie sich mit ihrem eigenen Beichtgang vor der Frühkommunion auseinandersetzt.

Hoppes Werke sind insofern zugleich große Literatur und Gesprächspartner zur Fragen nach der gelebten Religion in der Gegenwart; dabei seien beide Merkmale als einander bedingend verstanden. In ihrem Œuvre verbindet sich – wie der Religionsphilosoph Thomas Brose in seinem Essay zu einem Sammelband von Texten Hoppes betont – das „Lebensweltlich-Katholische […] mit dem Hang zur Selbstexegese“ sowie einem „Spieltrieb“, der auch vor biblischen wie christentumsgeschichtlichen und theologischen Motiven nicht Halt macht.  Insofern lädt die Auseinandersetzung mit Hoppe zu Reflexionen über theologisch relevante Prozesse der Selbstdeutung im Modus der Literatur ein und eröffnet ferner (teils überraschende und gerade dann) anregende Perspektiven auf die christlichen Traditionsbestände.

Leser und Autor sind für Hoppe auf Religion und Literatur angewiesen, um sich selbst verstehen zu können und Lebenszuversicht zu gewinnen. Nicht umsonst stellt sie ihrem jüngsten Roman „Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm“ (2022) als Motto voran: „Nur Helden fürchten sich nie, deshalb schreiben sie keine Bücher“. Welch ein Glück für uns, ihre Leser, dass Felicitas Hoppe keine Heldin ist und folglich Bücher schreibt!

Zum Weiterlesen (von Felicitas Hoppe):
Gedankenspiele über die Sehnsucht, Graz 2022; 48 Seiten, ISBN 9783990591093, € 12,00.
Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm, Frankfurt a.M. 2021; 256 Seiten, ISBN 9783100324580, € 22,00.
Fährmann, hol über! Oder wie man das Johannesevangelium pfeift. Mit einem Essay von Thomas Brose, Freiburg i.Br. 2021; 160 Seiten, ISBN 9783451390388, € 18,00. (Enthält u. a. „Das aufgespannte Ohr Gottes“.)

In ähnlicher Form und unter anderem Titel erschienen am 14. März 2024 in der Zeitung „Die Tagespost“ (www.die-tagespost.de).

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