„Gib mir das Deine, damit ich dir das Meine gebe“

Auf den Spuren der Frömmigkeit Dorotheas von Montau

Von Tilman Asmus Fischer

Am 2. Mai ist es genau 630 Jahre her, dass sich Dorothea Swarze als Reklusin in einer Zelle am Dom zu Marienwerder einmauern ließ. Mehr als ein Jahr verbrachte sie hier ein Leben, das geprägt war von Visionen, Kommunionsempfang und seelsorgerlicher Zuwendung zu Ratsuchenden. Heute wird ihr Todestag, der 25. Juni, als gebotener Gedenktag im Erzbistum Ermland, dessen Suffraganbistum Elbing sowie im Deutschen Orden begangen, als dessen Patronin „Dorothea von Montau“ ebenso verehrt wird wie als Patronin Preußens. Jedoch hatte es mehr als ein halbes Jahrtausend dauern sollen, bis der (Ende des 14. Jahrhunderts vom Orden angestoßene) Heiligsprechungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen und der sich über die Jahrhunderte im Preußenland gehaltene – und seit dem 19. Jahrhundert im historischen Ostdeutschland verbreitete – Dorotheenkult am 9. Januar 1976 approbiert wurde. Was aber faszinierte Menschen an der Heiligen Dorothea, sodass man sie als Vorbild im Glauben verstand und bis heute verehrt? Dieser Frage soll hier in zweifacher Weise nachgegangen werden: Zum einen werden zentrale Elemente einer Mystik und Caritas verschränkenden Frömmigkeit nachvollzogen, wie sie die Dorotheen-Überlieferung prägen. Zum anderen wird anhand zweier prominenter Beispiele gezeigt, wie diese Tradition im 20. Jahrhundert aktualisiert wurde.

Stationen des Lebens und der Spiritualität

Welche Stationen – so ist also zunächst zu fragen – liegen auf dem 47 Jahre umfassenden Lebens- und Glaubensweg der Dorothea zwischen ihrer Geburt 1347 in Groß Montau und ihrem Tod als bereits zu Lebzeiten verehrte Mystikerin und Reklusin 1394 im gut 30 km die Weichsel aufwärts liegenden Marienwerder? Bzw. wie stellt die hagiographisch gefärbte Überlieferung diesen Weg dar?

Groß Montau und Danzig

Als Tochter einer wohlhabenden Bauernfamilie kam Dorothea in Groß Montau (pl. Mątowy Wielkie) zur Welt, das später bis 1920 zum Landkreis Marienburg und anschließend – als Teil der Freien Stadt Danzig – zum Landkreis Großes Werder gehörte; am 6. Februar 1347 wurde sie dort in der Dorfkirche getauft. Bereits ihre Kindheit wird als von einer frühen wie radikalen Frömmigkeit geprägt beschrieben, die asketische Übungen, aber auch Selbstgeißlungen umfasste. 1363 führte die Verheiratung mit dem deutlich älteren Waffenschmied Adalbert Swarze Dorothea nach Danzig. Ihr dortiges Leben lässt sich topographisch wie symbolisch zwischen der Langgasse und Sankt Marien verorten. Die sich auf den Langen Markt hin erstreckende Magistrale war der Ort, an dem sie den Haushalt ihres viele Jahre älteren Mannes führte und die neunfache Mutter (nur ein Kind blieb am Leben) ein von Erkrankungen, menschlicher Härte und Anstrengungen geprägtes Leben führte. Demgegenüber steht die Marienkirche zum einen für Zeiten des Gebetes und er Kontemplation. Zum anderen war das Gotteshaus der Ort, wo sie womöglich im Sommer 1374 die Aufbahrung der im Vorjahr in Rom verstorbenen Birgitta von Schweden erlebte. Deren „Leben und […] Offenbarungen machten einen tiefen Eindruck auf die Hausfrau und Mutter. Sie, die ebenso verheiratet gewesen war wie die schwedische Heilige, wählte diese zu ihrem Vorbild in der Betrachtung der Passion Christi und im Wallfahren.“ (Samerski 2013, 609)

Zum Aufbruch in die Pilgerschaft sollte es jedoch erst zehn Jahre später kommen, sodass hier zunächst noch die in ihrer Danziger Zeit zunehmenden mystischen Erfahrungen in den Blick genommen werden: Denn Dorothea hatte zunehmende Visionen, geriet in Verzückung, prophezeite und verfügte über die Gabe der Herzensschau. Markant für die Frömmigkeit Dorotheas ist das – ihr Leben über wiederholt auftretende – Motiv der Liebeswunden. Diese waren in der Mystik „nur wenigen Auserwählten vorbehalten, die sich im Einigungszustand mit Gott befanden. Johannes vom Kreuz beschreibt sie als anziehende Liebesflamme, welche die Seelen scheinbar vollständig verzehrt, ihnen aber dann, nach dem Vorbild der Wiedergeburt des Phönix, eine neue Seinsform schenkt“ (Niedermeier 2019, 21). Bei Dorothea tritt hier die seit der Antike beliebten Metapher des Liebespfeiles in Erscheinung, die sich mit Hld 2,5c („denn ich bin krank vor Liebe“; vgl. 4,9) verbindet. Bei den zeitgenössischen Mystikerinnen „wird aus der Metapher Erleben“, wobei Dorothea geradezu „fasziniert […] von diesem Motiv war“: Mit „größter, uns heute fast pathologisch anmutender Ausführlichkeit [berichtet sie] davon […], wie sie ihr himmlischer Bräutigam ‚bald mit Liebesdornen, bald mit Pfeilen, bald mit Lanzen und Speeren, die er in ihr Herz abschoß‘, verletzte. In ihrem letzten Lebensjahr zerreißt ihr Christus das Herz so, daß sie meint, sterben zu müssen.“ (Dinzelbacher 1996, 221).

Auf Pilgerschaft zwischen Weichsel und Tiber

Zu einem dieser inneren Entwicklung entsprechenden radialen äußeren Frömmigkeitspraxis gelangte Dorothea ab 1384, als Adalbert Swarze sich – nach längerem Einwirken seiner Frau – bereitfand, Hab und Gut zu verkaufen und sich ganz einem Leben für Gott – insbesondere als Wallfahrer – hinzugeben. Mit den Pilgerreisen weitet sich zugleich der für Dorotheas Vita relevante Raum über das untere Weichselland, ja über den deutschen Sprachraum hinaus, denn sie führten die fromme Frau nicht nur zu den im heutigen Bundesgebiet liegenden Wallfahrtsorten Finsterwalde und Aachen, sondern bis nach Rom. (Während Aachen und Rom in diesem Zusammenhang ‚selbstverständlich‘ klingen, gilt dies für das brandenburgische Finsterwalde nicht. Dies ist eine Folge der Reformation, in deren Zuge die dortige Marienkapelle, nebst der mit ihr verbundenen Wallfahrtspraxis verschwanden.) Der Überlieferung nach gingen diese Reisen für das Ehepaar mit vielfältigen Gefahren für Leib und Leben einher. Dies ist aus den Bedingungen der damaligen Lebenswelt plausibel – zu denen Wegelagerei ebenso zählte wie nur geringfügige Möglichkeiten des Schutzes vor Naturgewalten.

Zugleich ist die Akzentuierung entsprechender Berichte der Pragmatik hagiographischer Texte geschuldet: War kein „rotes“ Martyrium, wie es für die im Zuge der Christenverfolgung Ermordeten überliefert wurde, zu berichten, konnte an seine Stelle das „weiße“, also ein ‚geistliches‘ Martyrium treten, welches sich durch asketische Leidensbereitschaft auszeichnete. Ganz in diesem Sinne entspricht Dorotheas Leben – und dies eigentlich nicht erst als Wallfahrerin, sondern bereits in ihren Visionen – den von Gregor dem Großen überlieferten Worten: „Denn selbst dort, wo keine äußere Verfolgung stattfindet, finden wir das Verdienst des Martyriums im Inneren, wenn die Seele feurig entschlossen gewillt ist, Leiden auf sich zu nehmen.“

Aber nicht nur die Leidensbereitschaft stellt ein an dieser Stelle deutlich werdendes Kontinuum in der Frömmigkeit der Dorothea dar: Ein weiteres ist die Verschränkung von Verinnerlichung und caritativer Zuwendung. Denn von derselben Heiligen, die sich dem Wallfahren und fortgesetzten Visionen hingab, wird berichtet, dass sie zugleich als Helferin von Menschen in Not, Kranken und Armen, in Erscheinung trat. Hierin setzt sich das Bild der jungen Dorothea in Danzig fort, in dem sie uns sowohl als fürsorgende Mutter als auch als eifrige Beterin vor Augen steht.

Marienwerder

Während einer Rom-Wallfahrt Dorotheas starb ihr Mann 1390 in Danzig. In der folgenden Zeit entwickelte sich der Deutschordenspriester Johannes von Marienwerder zu ihrem wichtigsten Mentor. Nicht nur, dass er verhinderte, dass Dorothea aufgrund ihrer eigenwilligen Frömmigkeit in Danzig als Hexe verurteil wurde, und durch die Verschriftlichung ihrer Visionen die Grundlagen der Dorotheenverehrung legte. Vor allem ebnete er ihr den Weg hin zu ihrer letzten Lebensstation: der an den Dom von Marienwerder angebauten Zelle, in der sie sich ein Jahr vor ihrem Tod einmauern ließ. Auch in diesem letzten Lebensabschnitt werden die bereits genannten Kontinuitäten ihrer Frömmigkeit deutlich: einerseits die Leidensbereitschaft (die bei einem Leben als Eingemauerte evident sein dürfte), andererseits das Ineinander von Verinnerlichung und Caritas: Neben der spirituellen Versenkung – mit Visionen und zuletzt täglichem Abendmahlsempfang – stand die Zuwendung zu Menschen, die bei ihr Rat suchten und mit denen sie durch ein kleines Fenster sprach. Aus dieser Zeit ist ein Gebetswort überliefert, das ihre Frömmigkeit zu auf den Punkt zu bringen vermag: „Gib mir das Deine, damit ich dir das Meine gebe – das Deine ist das Leiden am Kreuz, das Meine die Seele, die du mir eingesenkt hast und die so in Wahrheit gerade das Deine ist.“ (Ratzinger, 1429.)

Deutung und Aktualisierung von Leben und Frömmigkeit

Die frühe Bedeutung, die Dorothea im kirchlichen Leben Preußens zukommen, mögen nicht nur der unmittelbar nach ihrem Tod in Marienwerder etablierte Dorotheenkult sowie das vom Deutschen Orden angestrengte Heiligsprechungsverfahren bezeugen, sondern ebenfalls die Tatsache, dass die von ihrem spirituellen Führer und Biographen Johannes von Marienwerder verfasste deutschsprachige Darstellung ihres Lebens knapp 100 Jahre nach Dorotheas Tod, 1492, das erste in Preußen gedruckte Buch war. Die mittelalterliche wie neuzeitliche Rezeption und Deutung der Heiligen Dorothea dokumentiert zu haben, ist das Verdienst verschiedener Theologen und Historiker seit dem 19. Jahrhundert – pars pro toto zu nennen ist der 1894 in Schneidemühl geborene Prälat Dr. theol. Richard Stachnik, der vor der Vertreibung als Priester der Danziger Diözese (und letzter Vorsitzender der Danziger Zentrumspartei) gewirkt hatte und von der Bundesrepublik Deutschland aus den Abschluss des Heiligsprechungsverfahrens vorantrieb. An dieser Stelle seien schlaglichtartig zwei Deutungen der Heiligen Dorothea eingespielt, die im Umfeld ihrer Heiligsprechung zu verorten sind.

Günter Grass: Religion als „Vehikel“

Nur ein Jahr nach der Kultapprobation setzte der Danziger Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger Günter Grass Dorothea (und daneben auch Prälat Stachnik) in seinem Roman „Der Butt“ ein literarisches Denkmal. Hierin erscheint Adalbert Swarze als Wiedergänger des Fischers aus Philipp Otto Runges Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“. In Grass‘ Interpretation hat der Fischer vom Butt als Preis für dessen Freilassung ein Geheimwissen zur Errichtung des Patriarchats erhalten, mit dem er nun über die Menschheitsgeschichte hinweg die Frauen unterdrückt. Dementsprechend ergeht es dann auch Dorothea, die im religiösen Fanatismus einen Weg in die Befreiung erkennt. Und so lässt Grass die Vorsitzende eines feministischen Tribunals, das im Roman über den Butt zu Gericht sitzt, erklären:

„Dorothea Swarze wollte Freiheit für sich. Die Religion und Jesus sind ihr nur das Vehikel und die einzig erlaubte Bezugsperson gewesen, ihren Emanzipationsanspruch durchzusetzen und der penetranten Macht der Männer zu entkommen. Da sie nur die Wahl hatte, als Hexe verbrannt oder als Heilige eingemauert zu werden, hat sie sich entschlossen, dem Domdekan zu Marienwerder eine halbwegs glaubwürdige Legende aufzutischen: um ihrer Freiheit willen. Ein für das Mittelalter typischer Fall, nicht ohne Hinweise in die Gegenwart.“ (Grass, 211.)

Gewiss wird das hieraus sprechende instrumentelle Religionsverständnis dem Zeugnis der Dorothea in seiner Gänze nicht gerecht. Die Einsicht in das emanzipatorische Potential von Spiritualität trifft aber ganz gewiss ein nicht unwesentliches Moment weiblicher Mystik im Mittelalter – zu dem vergleichbare Phänomene sich auch in der Gegenwart finden lassen (vgl. Müller, 247f.).

Joseph Ratzinger: „Wege nach innen“

Einen merklich anderen Akzent setzt eine Deutung, die der Ende vergangenen Jahres verstorbene emeritierte Papst Benedikt XVI. vornahm, als der damalige Erzbischof von München und Freising 1979 in der Münchner Jesuitenkirche Sankt Michael ein Epitaph für die wenige Jahre zuvor Heiliggesprochene enthüllte. Aus diesem Anlass interpretierte er die Entwicklung ihrer Frömmigkeit als „Wege nach innen“. Vom Bild der täglich die Eucharistie Empfangenden her versteht er ihr Leben als „Kreuzesnachfolge, es wird Eintauchen ins Wortlose und Unsagbare der trinitarischen Liebe und es wird darin zugleich ganz marianisch und kirchlich: Menschsein, das Gefäß für den Herrn geworden ist und damit Tür in die Welt für Ihn. Wer ganz dem trinitarischen Gott übereignet ist, der ist ganz aufgemacht, der ist in seine weltumspannende Weite hinein geöffnet, gehört allem und dem Ganzen; der hat nichts mehr von der Enge des alten Menschen, die sich selber sucht und das für Freiheit hält: Der ist wahrhaft neuer Mensch geworden“ (Ratzinger, 1429).

Dabei ginge es fehl, die Deutungen von Grass und Ratzinger dahingehend gegeneinander auszuspielen, dass man diejenige des Dichters als lebensnah und die des Theologen als weltfremd verstünde (wie man Ratzinger leider zu oft missverstanden hat). Denn bei ihm sind die „Wege nach innen“ zugleich immer auch „Wege nach außen“. Dies gilt nicht nur für die Pilgerschaft, sondern ebenso für die als Mutter erwiesene Caritas: Als Mutter „verkörpert sie zuallererst den Realismus des christlichen Menschen. Die Suche nach dem neuen Menschen ist Bejahung und nicht Verneinung. Sie gründet nicht auf einer Verachtung der Schöpfung und der Aufgaben und Möglichkeiten, die sie stellt. Die christliche Hoffnung hat nichts mit Anarchie und mit Schwärmertum zu tun. Der Christ flieht nicht aus den Aufgaben dieser Zeit, er verlästert die Welt nicht, sondern er steht in aller Nüchternheit in ihren Aufgaben“ (Ratzinger, 1427).

In ebendiesem Sinne mag Dorothea von Montau eine Heilige sein, die nicht nur Relevanz für die regionale Kirchengeschichte beanspruchen kann, sondern deren Glaubenszeugnis auch im 21. Jahrhundert noch des Bedenkens wert ist.

Literatur

Peter Dinzelbacher, Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung. Mentalitätsgeschichte und Ikonographie, Paderborn 1996.

Günter Grass, Der Butt (= Günter Grass: Werkausgabe, Bd. 8), Göttingen 1997.

Ulrich Müller, Dorothea von Montau und Sor Juana Ines de la Cruz: Zwei religiöse Frauen aus dem Mittelalter und aus der Barock-Zeit, in: Wolfgang Beutin u. Thomas Bütow (Hgg.), Europäische Mystik vom Hochmittelalter zum Barock. Eine Schlüsselepoche in der europäischen Mentalitäts-, Spiritualitäts- und Individuationsentwicklung. Beiträge der Tagung 1996 und 1997 der Evangelischen Akademie Nordelbien in Bad Segeberg (= Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte, Bd. 21), Frankfurt a.M. 1998, 237-248.

Nina Niedermeier, Heroische Tugend (Katholizismus), in: Compoendium heroicum, 13. Mai 2019 (https://www.compendium-heroicum.de/lemma/heroische-tugend-kath/).

Joseph Ratzinger, „Wege nach innen“: Die heilige Dorothea von Montau. München, 17. Juni 1979, in: ders., Predigten. Homilien – Ansprachen – Meditationen. Dritter Teilband (= Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften, Bd. 14/3), Freiburg i.Br. 2019, 1426-1430.

Stefan Samerski, Dorothea von Montau, in: Joachim Bahlcke et al. (Hgg.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa, Berlin 2013, 609-617.

Erschienen in: Der Westpreuße – Begegnungen mit einer europäischen Kulturregion 1/2023.

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