Patriot und Europäer

Vor 50 Jahren starb der sudetendeutsche Sozialdemokrat und BdV-Präsident Wenzel Jaksch

„Mit Erschütterung werden alle Menschen, die das politische Leben in der Bundesrepublik verfolgen, diese Nachricht aufgenommen haben“, schrieb Marian Hepke – 1962 bis 1968 Chefredakteur des „Westpreußen“ – in seinem Nachruf auf Wenzel Jaksch vom 5. Dezember 1966 (DW34/1966). Der Präsident des Bundes der Vertriebenen war am 27. November den Folgen eines Verkehrsunfalls erlegen – nach Jahrzehnten des politischen Wirkens, das verwoben war mit dem Schicksal Europas im Zeitalter eines übersteigerten Nationalismus. Ein halbes Jahrhundert nach seinem Ableben wollen wir diesem Werdegang und den daraus entwickelten vertriebenenpolitischen Positionen Jakschs nachspüren – und ihn dabei auch selbst zu Wort kommen lassen.

Wien, Prag, London, Bonn – Stationen eines politischen Lebens

Das politische Leben Wenzel Jakschs begann noch in der österreichischen Doppelmonarchie, in deren Donaumetropole Wien sich der 1896 im südböhmischen Langstrobnitz geborene Handwerkersohn als Bauarbeiter verdingte und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) anschloss. Als er gerade 22 Jahre alt war, zerbrach die Habsburgermonarchie und mit ihr auch die SDAP. In Böhmen und Mähren konstituierte sich die Sozialdemokratie 1919 wieder als Deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik (DSAP). Dort engagierte sich Jaksch nun als Journalist und Politiker.

Wenzel Jaksch beim Tag der Deutschen im September 1965 in der Berliner Waldbühne zusammen mit dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt (Quelle: BdV­Archiv)
Zehn Jahre nach Gründung der DSAP wurde er für seine Partei ins Prager Parlament gewählt, ab 1938 stand er ihr als Parteivorsitzender vor. Zu diesem Zeitpunkt lagen bereits fünf Jahre der Auseinandersetzung mit der 1933 von Konrad Henlein gegründeten nationalsozialistischen Sudetendeutschen Partei hinter den sudetendeutschen Sozialdemokraten. Den Kampf gegen den Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich verloren die demokratischen Kräfte Tschechiens, und mit ihnen die DSAP. Da das Sudetenland nun der nationalsozialistischen Reichsregierung unterstand, musste Jaksch 1939 ins britische Exil gehen. So wie zuvor gegen den Anschluss des Sudetenlandes kämpfte er nun in London gegen die von Edvard Beneš langfristig entwickelten Pläne zur Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei.

Auch diese konnten Jaksch und seine Mitstreiter nicht verhindern: Dem Kriegsende folgten Vertreibungen aus dem Sudetenland – und Jahre der Integration im Rest Deutschlands. Nach seiner Rückkehr in den freien Teil Deutschlands widmete Jaksch seine Energie dem Wohl seiner sudetendeutschen Landsleute und mit ihnen der Gesamtheit der deutschen Vertriebenen sowie der mit ihrem Schicksal wiederum verbundenen Völker Mittel­ und Osteuropas : Seit 1950 Ministerialdirektor des Landes Hessen, leitete er das Landesamt für Vertriebene, Flüchtlinge und Evakuierte. Von 1951 bis zu seinem Tod war Jaksch Bundesvorsitzender der Seliger­Gemeinde (Gesinnungsgemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten). Seit 1957 saß Jaksch für die SPD im Deutschen Bundestag. 1961 wurde er Vizepräsident, 1964 Präsident des Bundes der Vertriebenen und 1963 Präsident der Bundesversammlung der Sudetendeutschen.

Ein europäischer Patriot – vertriebenenpolitische Positionen

Das multiethnische Erbe Böhmens und Mährens prägte ebenso wie die selbst erlebten und erlittenen Folgen eines übersteigerten Nationalismus das historische und politische Denken Jakschs. Hiervon legt eindrücklich sein 1958 erschienenes Buch „Europas Weg nach Potsdam“ Zeugnis ab. Dabei blieb sein Sinnen nicht auf den Raum der alten Donaumonarchie oder das Wohl des deutschen Volkes beschränkt, sondern wahrte stets eine gesamteuropäische Perspektive. Dadurch waren seine Konzeptionen gleichermaßen auch für alle ostdeutschen Landsleute anschlussfähig.

Dies gilt exemplarisch für seine beim Bundestreffen der Westpreußen 1962 gehaltene Rede (abgedruckt in : DW 21 / 1962). Sie nimmt ihren Ausgang von einer maßvolleren Interpretation der deutschen Ostsiedlung, die nicht im nationalistischen Sinne, eine unter dem Vorzeichen der Germanisierung stehenden „Zivilisierung“ hervorhebt, sondern in ihr stärker einen Beitrag zur Festigung des europäischen Kulturkreises sieht:

„Gerade am Unterlauf der Weichsel sprechen die Steine davon, daß die vielgeschmähte deutsche Ostkolonisation in Wahrheit ein entscheidender Beitrag zur Europäisierung Osteuropas gewesen ist. Städte wie Danzig, Marienwerder, Thorn und Bromberg waren mächtige Ausstrahlungspunkte der westchristlichen Zivilisation. Über diese Brückenstellung ist dem polnischen Volk der Anschluß an das westchristliche Europa erst ermöglicht und abgesichert worden.“

Diesem europäischen Paradigma folgend, schließt das politische Denken Jakschs konsequent an sein historisches an – und so fordert er 1962 dazu auf, „die gemeinsamen Interessen der Völkerfamilie westlich der russischen Staatsgrenze zu erkennen und in den Vordergrund zu stellen“. Diese Einsicht führte ihn freilich gerade dazu, deutsche Rechtspositionen nicht voreilig aufzugeben, sondern vielmehr deren Wahrung in den Kontext einer gesamteuropäischen Entwicklung hin zu Freiheit und Demokratie zu stellen:

„Deshalb sollen alle wahren polnischen Patrioten wissen, daß die zehn Millionen vertriebener Deutscher in der Bundesrepublik nicht ihre Feinde sind, sondern ihre besten Bundesgenossen. Unsere Heimatliebe ist die stärkste moralische Kraft, die an dem Eisernen Vorhang rüttelt. Das Streben des deutschen Volkes nach Wiedervereinigung, Freiheit und Selbstbestimmung ist die beste Bürgschaft und die stärkste Hoffnung für die kommende Einheit Gesamteuropas.“

1966 – das Jahr der Bewährung

Vor dem Hintergrund der politischen Konzepte und Ideen Jakschs gewinnt sein Unfalltod neben dem persönlichen Schicksal auch eine historische Tragik. Noch am Jahresanfang hatte er sich mit einem Beitrag unter dem Titel „Wach sein – Gebot der Stunde“ (DW 1/1966) an die Öffentlichkeit gewandt und postuliert : „Das Jahr 1966 wird für uns und für alle freien Deutschen ein Jahr der Bewährung sein.“ Dabei sah er die deutschen Heimatvertriebenen und ihre Unterstützer mit zwei zentralen Aufgaben konfrontiert:

„Wir müssen der moralischen Müdigkeit Widerstand leisten, welche die geistigen Führungsschichten unseres Volkes ergriffen hat. Die Auseinandersetzung muß geführt werden zwischen ehrlicher Verständigungspolitik und einem Versöhnungsgerede, hinter dem sich nur die Kapitulationsbereitschaft vor Unrecht und Diktaturgewalt verbirgt.“

In diesem Sinne gäben sich die Heimatvertriebenen, so Jaksch, „keiner Illusion über den Ausgang eines Friedensgespräches hin, daß im Schatten russischer Bajonette geführt werden muss“. Zugleich betonte er jedoch das wachsende Verlangen nach einem Gedankenaustausch innerhalb der deutschen und der polnischen Zivilgesellschaft. Seine Absage an eine Verständigungspolitik, die deutsche Rechtspositionen gegenüber kommunistischen Diktaturen aufgeben wollte, schloss daher für Jaksch nicht aus, dass die „vertriebenen Deutschen […] jeden Versuch begrüßen [werden], die gemeinsamen Interessen eines geteilten Deutschlands und eines geteilten Polen auszuloten“.

Jaksch sah 1966 nicht nur die Gefahren einer riskanten Verständigungspolitik, sondern hatte zugleich die Kritiker dieses politischen Kurses im Blick, die am rechten Rand Aufstellung nahmen: Sie waren, wie Marian Hepke trefflich analysierte (DW 32 vom 15. 11. 1966), getragen vom allgemeinen „Unbehagen – nicht nur an Bonn und der CDU/CSU, nicht nur an der Unentschlossenheit und Lauheit in der Vertretung der deutschen Interessen, an der Schwerfälligkeit des ganzen Apparats, an der Bereitschaft, allen zu helfen, nur den Deutschen selbst nicht“. Erst vor dem Hintergrund dieser beiden Gefährdungen erklärt sich vollständig Jakschs dringende, schon Anfang des Jahres erhobene Forderung, der BdV müsse sich „als ein Rückhalt aller patriotischen Kräfte im Lande bewähren“, denn : „Das Problem des Jahres 1966 ist die Formierung einer patriotischen Mitte im freien Teil Deutschlands.“

Am 6. November kam dann mit der hessischen Landtagswahl der große Schock: Mit 7,95 Prozent zog die Nationaldemokratische Partei Deutschlands in das Wiesbadener Parlament ein – und bestätigte damit Jakschs weitsichtiges Bemühen um ein Bündnis der gemäßigten Vertreter nationaler Interessen. Marian Hepke schrieb hierzu
in seinem soeben schon zitierten Beitrag (DW 32/1966) : „Als Mitte Mai dieses Jahres Wenzel Jaksch […] bei der Deutschlandkundgebung in Bonn sich für die Schaffung einer ‚nationalen Mitte‘ aussprach, wurde auch er von den ‚tonangebenden‘ Massenmedien in der Bundesrepublik belächelt und als Phantast abgetan […]. Sogar in den Reihen seiner eigenen Partei soll es Jaksch nicht leicht gehabt haben nach dieser Kundgebung. Und doch hat er sich als einer der wenigen maßgeblichen Politiker erwiesen, die Fingerspitzengefühl haben, die über die notwendige ‚Witterung‘ für das, was in der Luft liegt, verfügen. Die Wahl in Hessen hat ihm Recht gegeben.“

Gerade in dieser Situation hatte die deutsche Politik einen Wenzel Jaksch nötig, der in der Lage war, nationale Interessen unter dem Vorzeichen gesamteuropäischer Verantwortung zu formulieren, und um einen Patriotismus rang, der von einem breiten gemäßigten politischen Spektrum getragen werden konnte. Dass seine Stimme nur drei Wochen nach der Hessen­Wahl für immer verstummte, war umso fataler. Zumindest aber blieb der Bundesrepublik, den Vertriebenen und der Sozialdemokratie das politische Vermächtnis eines Mannes, über den Marian Hepke in seinem Nachruf schrieb: „Sein Einsatz für das Selbstbestimmungsrecht der Völker war so überzeugend wie sein Wille zur Humanität.“

Tilman Asmus Fischer

Erschienen in: Der Westpreuße – Unser Danzig 11/2016.

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